Mieczysław Weinberg „Der Idiot“: das Musiktheater an der Wien wagt sich an eine epochale Oper

Mieczysław Weinberg „Der Idiot“  nach dem Roman von Fjodor Dostojewski  Musiktheater an der Wien, 28. April 2023, Erstaufführung

Foto: Dr. Charles E. Ritterband 

Weinbergs letzte Oper wurde erst 2013 in Mannheim uraufgeführt. Ein anspruchsvolles Werk – für Sänger(innen), Orchester und Publikum. Aber ein epochales Werk, ein Monument der Musik des letzten Jahrhunderts – mit bombastischen Akkorden, dann wieder über weite Strecken alle Harmonie, und passagenweise überaus lieblich, sentimental, volksliedhaft: von überwältigender Schönheit und Stringenz zugleich, episch, ironisch-humorvoll, mal melodiös romantisch dann wieder gegen den Strich löckend, jedenfalls meisterhaft instrumentiert. Eine ambitiöse Leistung des Musiktheaters an der Wien, musikalisch überragend in einer Inszenierung, die eigenwillig  ist, aber dem Stück gerecht wird: das großartige Bühnenbild wird von einem alten russischen Eisenbahnwaggon auf der Drehbühne (dieser eigens für die Oper am provisorischen Ausweichstandort im Museumsquartier extrem aufwendig umgerüsteten Halle E) als „Bühne auf der Bühne“ dominiert. In und vor diesem Waggon spielt sich alles ab: Verführung, Mord, endlose Dialoge und Interaktionen zwischen den Protagonisten/Innen.

Musiktheater an der Wien, 28. April 2023, Österreichische Erstaufführung

Mieczysław Weinberg „Der Idiot“  nach dem Roman von Fjodor Dostojewski, Libretto von Alexander Medwedew

von Dr. Charles E. Ritterband 

Mieczysław Weinberg, polnisch-jüdischen Ursprungs, hieß ursprünglich Moishe Waijnberg; er wurde am 8. Dezember 1919 in Warschau geboren und starb 1996 in Moskau. Seine Familie, die aus dem russischen Kischinjow (Chisinau) stammte, floh 1903 vor den berüchtigten Kischinjow-Pogromen nach Polen. Verfolgung und Flucht machten auch vor der nächsten Generation nicht Halt: Weinberg selbst verdankte sein Überleben einem Zufall – dem Tod Stalins.
„Der Idiot“, Weinbergs letzte Oper, erlebte ihre Uraufführung 2013 am Nationaltheater Mannheim, nachdem eine Kurzfassung bereits 1991 an der Moskauer Kammeroper gezeigt worden war. Seine  erschütternde erste Oper „Die Passagierin“ war im Bregenzer Festspielhaus in einer großartigen Inszenierung 2010 uraufgeführt und bald danach von den meisten großen Opernhäusern der Welt auf die Bühne gebracht worden, so 2016 auch im Theater an der Wien. Die „Passagierin“ machte Weinberg, bekannt bisher nur in Fachkreisen, auf einen Schlag weltbekannt – sehr spät allerdings. Die pionierhafte Bregenzer Welt-Uraufführung gab den Impuls, Weinberg dem Vergessen zu entreißen.

Die Aufführung des „Idiot“ ist die direkte Fortsetzung jener verdienstvollen Initiative. Die „Passagierin“ befasste sich wie viele der Werke Weinbergs mit der Shoah, der er knapp entkommen konnte: seine Familie wurde ausnahmslos ermordet. Den – oft ebenfalls antijüdischen – Verfolgungen der Stalin-Ära konnte er ebenso um Haaresbreite entkommen, dank dem beherzten Eingreifen seines Freundes und Mentors Schostakowitsch. Die Musik im „Idiot“ erinnert streckenweise – kaum zufällig – an Kompositionen von Dmitri Schostakowitsch.

Diese autobiographischen Elemente, die Konfrontation mit der Brutalität der Diktatoren Hitler und Stalin, deren  antijüdischer Hass sie verband, der stets drohende Mord und das glückhafte Überleben, die monatelange Haft in Stalins berüchtigtem Gefängnis „Ljubjanka“, der Schmerz über den Verlust der eigenen Familie und die schrecklichen Massaker der nach Osten vorrückenden Truppen von Nazideutschland (wie jenes von Babi Jar bei Kiev, dem Weinberg eines seiner Werke gewidmet hatte) zeichneten sein Leben. Angst und Schmerz, Aufschrei und totalitärer Gewalt sind in seiner Musik unüberhörbar – ebenso wie Sehnsucht und Schönheit.

Der „Idiot“ nach dem Roman von Fjodor Dostojewski war sein letztes Werk. In der Hauptfigur Fürst Myschkin – der „Idiot“ – blitzt Weinbergs Vision vom „guten Menschen“ auf, als harter Kontrast zu Mördern, prassenden Aristokraten und oberflächlichen Lebedamen, als passiver Kämpfer gegen die korrupte Gesellschaft, die ihn umgibt. Dostojewski konzipierte seine Hauptfigur, den Titelhelden von Weinbergs Oper, als „wahrhaft vollkommenen und schönen Menschen“. In der Oper Boris Godunow erscheint der „Idiot“ (der in Wahrheit keiner ist) als „Gottesnarr“ , als „reiner Tor“, der in seiner Reinheit und seiner selbstgewählten Armut gegen eine „unreine“ weil korrupte Gesellschaft ankämpft. In dieser Inszenierung umklammert er stets eine alte Reisetasche – wie ein Kind seinen Teddybär; berührendes Bild der Unschuld.

Alexey Dedov (Totzki), Valery Gilmanov (General Jepantschin), Dmitry Golovnin (Fürst Myschkin), Petr Sokolov (Lebedjew) und Arnold Schoenberg Chor © Monika Rittershaus

Das Stück spielt sich in und um einen perfekt bis in alle Details nachgebauten alten russischen Eisenbahnwaggon (hervorragende Bühne: Christian Schmidt) auf einer aktiv betätigten Drehbühne ab – die Innenmöblierung wird jeweils blitzschnell ab- und umgebaut, um einen Szenenwechsel anzudeuten, auf den Fenstern des Eisenbahnwaggons (beeindruckende Video-Technologie) zieht langsam eine „typisch russische“ Landschaft auf der Fahrt nach Sankt Petersburg vorbei: endlose verschneite Tannenwälder, hie und da rinnen Regentropfen über die Fenster. Ein großartiges Bühnenbild, das diese korrupte Gesellschaft klaustrophob auf einen auswegslosen Schauplatz zusammendrängt – der Eisenbahnwaggon wird zu Sartres „Huis Clos“ in seinem berühmten Stück „Geschlossene Gesellschaft“ (1944).

Alexey Dedov (Totzki), Ekaterina Sannikova (Nastassja), Petr Sokolov (Lebedjew) © Monika Rittershaus

Die musikalischen Leistungen waren durchwegs erstklassig. Das ORF-Radio-Symphonie Orchester Wien unter der erfahrenen Stabführung von Thomas Sanderlings  (der ja bereits die Uraufführung 2013 geleitet hatte) intonierte die äußerst anspruchsvolle Partitur Weinbergs souverän und mit äußerster Präzision, mit einem weiten Spektrum von grandios (bei Beginn und Abschluss der beiden Akte) bis subtil-romantisch. Erstklassig wie stets in diesem Musiktheater der Arnold-Schoenberg-Chor (Leitung: Erwin Ortner). Sängerisch ragte Ekaterina Sannikova (Nastassja Iwanowna ) mit einem extrem leistungsfähigen und wandelbaren Sopran aus dem Ensemble hervor, ebenso stimmig der Fürst Myschkin („Idiot“) des Tenors Dmitry Golovnin mit seiner markanten Klarheit. Edle Passagen in glattem, wohlklingenden Mezzo brachte die Aglaja der Ieva Prudnikovaitė. Für mich der herausragendste Sänger war jedoch der warme, sonore Bassbariton des Dmitry Cheblykov (Rogoschin) – maskulin, ruppig, ja brutal und doch stets kontrolliert. Dass Russisch offenbar die Muttersprache sämtlicher Sängerinnen und Sänger ist, erhöhte die Qualität und Authentizität des russischen Gesanges erheblich.

Tatjana Schneider (Alexandra), Bernadette Kizik (Adelaida), Dmitry Golovnin (Fürst Myschkin) © Monika Rittershaus

Dass der Regisseur (Vasily Barkhatov) das Stück, zumindest worauf die Kostüme – abgesehen von der zaristischen Galauniform des alten Generals Jepantschin (Valery Gilmanov), der das ganze Stück gemäß Regieanweisung als humorvolle Nuance im Tiefschlaf zu verbringen hat – hindeuten, in eine nicht näher definierte Gegenwart versetzt, ist inkonsequent. Denn Handlung und sozialer Kontext verweisen ins zaristische Russland des 19. Jahrhunderts, in die Zeit Dostojewskis, der ja von 1821 bis 1881 gelebt hat. Und auch das zentrale Element des Bühnenbildes, der alte Eisenbahnwaggon, stammt unverkennbar aus dem 19. Jahrhundert.

Foto: Dr. Charles E. Ritterband

Außerdem leidet das fast vier Stunden dauernde Stück – das dem Publikum ohnehin einiges abverlangt – an einer streckenweise zäh dahinfließenden Musik sowie an unverdaulichen Längen und Wiederholungen in der Handlung, die allerdings durchaus beabsichtigt sein könnten: Das Stück in der Logik des Traumes handelt ja vom ewigen Kreislauf von gekränkter Eitelkeit, unerfüllter Leidenschaft,  von Geldgier und Gewalt gegen Mitmenschen und sich selbst in einer illusionslos gewordenen Gesellschaft. Trotz der Überlänge honorierte das Publikum diese Premiere mit enthusiastischem Applaus.

Dr. Charles E. Ritterband, 28. April 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Inszenierung: Vasily Barkhatov
Musikalische Leitung: Thomas Sanderling
Bühne: Christian Schmidt
Video: Christian Borchers
Licht: Alexander Sivaev

Fürst Myschkin („Idiot“): Dmitry Golovnin
Nastassja Iwanowna: Ekaterina Sannikova
Rogoschin: Dmitry Cheblykov
Lebedjew: Petr Sokolov
General Jepantschin: Valery Gilmanov
Japantschina: Ksenia Vyaznikova
Aglaja: Ieva Prudnikovaitė 
Alexandra: Tatjana Schneider
Adelaida: Bernadette Kizik

ORF-Radio-Symphonie Orchester Wien
Arnold Schoenberg-Chor (Leitung: Erwin Ortner)

Buchbesprechung „Mieczysław Weinberg. Auf der Suche nach Freiheit“ klassik-begeistert.de

Modest Petrovich Musorgsky, Boris Godunov, The Royal Opera (ROH) Covent Garden, London, 19. Juni 2019

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