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1 Einleitung

„Und so ist denn, sobald ich den Geschmack jenes Madeleine-Stücks wiedererkannt hatte, das meine Tante mir, in Lindenblütentee getaucht, zu geben pflegte […], das graue Haus mit seiner Straßenfront, an der ihr Zimmer sich befand, wie ein Stück Theaterdekoration zu dem kleinen Pavillon an der Gartenseite hinzugetreten […] Und wie in jenem Spiel, bei dem die Japaner in eine mit Wasser gefüllte Porzellanschale kleine Papierstückchen werfen, die sich zunächst nicht voneinander unterscheiden, dann aber, sobald sie sich aufgesogen haben, auseinandergehen, Umriß gewinnen, Farbe annehmen und deutliche Einzelheiten aufweisen, zu Blumen, Häusern, echten, erkennbaren Personen werden, ebenso stiegen jetzt alle Blumen unseres Gartens und die aus dem Park von Swann und die Seerosen auf der Vivonne und all die Leute aus dem Dorf und ihre kleinen Häuser und die Kirche und ganz Combray und seine Umgebung, all das, was nun Form und Festigkeit annahm, Stadt und Gärten, stieg auf aus meiner Tasse Tee.“ (Proust, 2011, S. 71)

Im ersten Band seines Hauptwerks Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, das längst zu einem Klassiker der Literatur der Moderne geworden ist, beschreibt Marcel Proust in einer berühmt gewordenen und bereits als Madeleine-Szene bezeichneten Begebenheit, wie er durch den Genuss eines Stück in Tee getunkten Gebäcks in einen Strudel aus Gefühlen gerät, in dem er wie in einer Spirale immer tiefer in die Erinnerungen seiner Jugend abtaucht. Die sinnlichen Reize des Tees und der darin aufgeweichten Brocken Madeleine lassen langsam und durch stetiges sich Hinabbegeben in sich selbst bei Proust die Erinnerungen aufsteigen. In dieser Szene verdeutlicht Proust – natürlich inspiriert durch seine Vorlesungen bei Henri Bergson an der Pariser Sorbonne 1890 – wie langwierig, bruchstückhaft und spiralförmig sich Erinnerungsprozesse gestalten und wie sehr sie an die emotionale Verfasstheit des „Autors“ in der Gegenwart gebunden und verbunden sind. Nicht nur müssen bestimmte Reize Erinnerungen an die Vergangenheit in der Gegenwart stimulieren, um sie – wie bei Proust beschrieben – „Umrisse gewinnen und Farbe annehmen“ und letztendlich aufsteigen zu lassen, sondern es muss vor allem eine positive Grundstimmung, eine Bereitschaft und Offenheit gegenüber dem Erinnerungsprozess herrschen.

Erinnerungen an die eigene Vergangenheit in der DDR gestalten sich jedoch für viele Ostdeutsche als äußerst schwierig bis zu unmöglich, da eben jene positive Grundstimmung gegenüber dieser Vergangenheit im vereinigten Deutschland nicht wirklich gegeben ist. In seinem Artikel vom September 2017 in der Zeit „Die Mauer ist nicht gefallen“ Das Ende der Wende nach 1989 und die Kultur des Ressentiments heute kritisierte Thomas Oberender, ehemaliger Intendant der Berliner Festspiele, vor allem die Unmöglichkeit, sich anders als negativ und abwertend an diese Zeit zu erinnern:

„Boris Buden wies in seinem Wendeessay Zonen des Übergangs darauf hin, dass das Subjekt der demokratischen Revolution der Wende und das Subjekt der nachholenden Revolution der Wiedervereinigung nicht das Selbe ist. Tatsächlich flicht man jenen Oppositionellen, die unter hoher Gefahr 1989 die Revolution im Osten auf die Straße und unters Volk gebracht haben, im Unterschied zu Helmut Kohl, keine Kränze mehr. Es gibt eine Stasi-Unterlagen-Behörde und eine Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, aber kein Archiv der friedlichen Revolution, keine Bibliothek der 89er Träume und Ideen. […] Diesen nationalen Dachschaden, dass es bezüglich der Geschichte der DDR nichts mehr gäbe, worüber man sich Gedanken machen müsse außer über die Mauertoten und die Stasi? Was von der DDR bleibt ist eine Erinnerung an Opfer, an Täter, Unrecht, Scheitern und der Irrglaube, dies sei die ganze Wahrheit.“ (Oberender, 2017)

Dem setzt er die Forderung einer positiven jedoch nicht kritiklosen „Erinnerungserlaubnis“ entgegen: „Sich daran zu erinnern, muss erlaubt sein – genau so wie man sich auch an seine Kindheit erinnert, ohne befürchten zu müssen, reflexartig für regressiv gehalten zu werden.“ (Oberender, 2017) Denn: Er dagegen erinnert sich,

„dass es jahrzehntelang in der DDR eine faktische Vollbeschäftigung der Frau gab, mit all den damit verbundenen Infrastrukturen – Kindergarten, Hortbetreuung, Betriebsferienlager und den monatlich freien «Haushaltstag» bei vollem Lohn. Niemand wünscht sich deshalb die DDR zurück, zumindest ich nicht, aber sich an diesem Tag im Kanzleramt [anlässlich einer Veranstaltung zum Weltfrauentag A.d.V.] wenigstens daran zu erinnern, läge nahe.“ (Oberender, 2017)

Auch neuere ForschungenFootnote 1 zeigen, dass die Erinnerungskultur an die Vergangenheit der DDR sehr eingeengt und staatlich gelenkt vor allem den Totalitarismus der „durchherrschten Gesellschaft“Footnote 2 der DDR in den Blick nimmt, was die Gräben zwischen Ost und West vertieft und vor allem zu einem Gefühl der Fremdheit im eigenen Land der Ostdeutschen führt.

Im deutsch- deutschen Bilderstreit wird nicht nur „stellvertretend“ vehement der Unmut über das Vergessen eines großen Teils der DDR-Vergangenheit ausagiert, sondern er entpuppt sich allgemeiner als Austragungsort für die nicht adressierten Verwerfungen und Konflikte des Wiedervereinigungsprozesses: es „ging […] um nicht weniger als um den Zusammenstoß von Überlegenheitsattitüden und Inferioritätsängsten“ (Rehberg, 2013, S. 48). Vor diesem Hintergrund erscheint besonders der Dresdner Bilderstreit vom Herbst 2017, der sich rund um eine Ausstellung des Dresdner Albertinums entzündete, als besonders interessant, da sich hier erneut eruptiv die aufgestauten und nie offiziell anerkannten Erinnerungen an die DDR- Vergangenheit Bahn brechen und zum Vorschein kommen. Dieser Beitrag möchte die sehr polemisch ausgetragenen Debatten rund um die Hängungspolitik des Albertinums nicht nur als nachzuholenden Bilderstreit im Sinne eines „Stellvertreterstreites“ (Rehberg, 2013), sondern vor allem mit dem Konzept des „haunting“ der amerikanischen Soziologin Avery F. Gorden in ihrem Buch Ghostly Matters von 2008 fassen, was es ermöglichen soll, eben jenes Phänomen des Dresdner Bilderstreites als eine Heimsuchung der unterdrückten Erinnerung an die eigene DDR-Biografie zu fassen, die sich als Geist oder geisterartig und geisterhaft in die Gemälde aus der DDR im Dresdner Albertinum schreiben. Die Besucher der Ausstellung Focus Albertinum: Ostdeutsche Malerei und Skulptur 1949–1990Footnote 3 projizierten ihre persönlichen Geschichten auf die dort ausgestellten Werke und schrieben diese in die Besucherbücher nieder. Diese Überschreibungen, die sich palympsestartig auf die Bilder legen, deuten diese neu und lassen sie zu einem Mittel der Kritik am Verschweigen der Vergangenheit werden, sodass sich diese „Heimsuchung“ als äußerst produktiv erweist, in einer anderen Erinnerungskultur verhandelt zu werden.

2 Der deutsch-deutsche Bilderstreit

Seit der Wende 1989 brachte der postsozialistische Transformationsprozess in Ostdeutschland einerseits einen Systemwandel, den viele ehemalige DDR-Bürgerinnen und Bürger gefordert und euphorisch befürwortet hatten, andererseits einen Abwertungsprozess für die Biografien vieler Ostdeutscher. Nach 1990 setzte eine großflächige Deindustrialisierung Ostdeutschlands ein, die viele ihre langjährigen Arbeitsplätze und ein Stück ihrer Identität verlieren ließ, da zu DDR-Zeiten in den Kollektiven der Kombinate auch ein großer Teil der sozialen Aktivitäten des Privatlebens in Brigadefeiern, Betriebsausflügen etc. stattfanden. Die wirtschaftlichen, akademischen, juristischen, politischen, administrativen usw. Eliten wurden durch westdeutsche ersetzt. Diese Dominanz westdeutscher Führungskräfte führte zu einer „Überlagerung“ im Sinn des polnischen Soziologen Ludwig Gumplowicz durch die westdeutsche „Zwillingsgesellschaft“ (Gumplowicz, 1973).

In diesem Zusammenhang wurde der deutsch- deutsche Bilderstreit 1990 durch den Ausspruch des Künstlers Georg Baselitz – der selbst in den 1950er Jahren aus der DDR in die BRD übersiedelte, um dort Kunst zu studieren – es hätte in der DDR keine Künstler gegeben, ausgelöst und wurde fast zwei Jahrzehnte vehement um die Frage geführt, „ob es ‚Kunst‘ unter der östlichen Einparteienherrschaft überhaupt habe geben können“ (Rehberg, 2013, S. 21). In seinem Beitrag für den Band Bilderstreit und Gesellschaftsumbruch die Debatten um die Kunst aus der DDR im Prozess der deutschen Wiedervereinigung erfasst der Soziologe Karl-Siegbert Rehberg in einer Chronologie zehn Kristallisationspunkte, an denen die Debatten des Bilderstreites sichtbar wurden: verschiedene Ausstellungen, die sich mit Kunst aus der DDR beschäftigten, die heftigen Debatten um den Auftrag Bernhard Heisigs zur Ausgestaltung des Reichstagsgebäudes, die Ausstellungsverweigerung für Willi Sitte im Nürnberger Nationalmuseum und die Überführung der Sammlung von Kunst aus der DDR im Schloss Oberhausen an das Museum der Bildenden Kunst Leipzig. Alle diese Beispiele belegten entweder eine Geringschätzung der Kunst aus der DDR – am deutlichsten wohl die Ausstellung Aufstieg und Fall der Moderne 1999 in Weimar, die Kunst aus der DDR parallel zu einer in diesem Umfang erstmaligen Ausstellung von NS-Kunst, und dies sogar aus der Privatsammlung Adolf Hitlers, präsentierte – oder ein großes Ringen um die Deutungen um diese Kunst, wie die Retrospektive Kunst in der DDR 2003 in der Neuen Nationalgalerie Berlin zeigte.

„Auch spiegelte sich in der Bestreitung künstlerischer Bedeutung der gesamten Produktion des ‚Kunststaates DDR‘ besonders deutlich, was im Prozess der Wiedervereinigung vielfältig zu beobachten war: Die Schwierigkeiten, die mit einer solchen radikalen Umorientierung in kürzester Zeit verbunden sind, warfen auch für diejenigen Probleme auf, die dazu beigetragen oder es sich gewünscht hatten, dass das DDR-Experiment „am lebenden Menschen“ (wie Wolf Biermann das ausgedrückt hat) beendigt werde.“ (Rehberg, 2013, S. 48)

Rehberg versteht den deutsch- deutschen Bilderstreit deshalb als „Stellvertreterstreit“ für die nicht adressierten Verwerfungen der postsozialistischen Transformationsprozesse in der deutschen Gesellschaft (Rehberg, 2013).

3 Der Dresdner Bilderstreit

Obwohl Paul Kaiser gemeinsam mit Rehberg in dem bereits oben genannten Band Bilderstreit und Gesellschaftsumbruch die Debatten um die Kunst aus der DDR im Prozess der deutschen Wiedervereinigung schon 2013 ein Ende für jene Debatten gekommen sahen, entfachte Kaiser einen erneuten Dresdner Bilderstreit mit seinem Artikel Wende an den Wänden im Feuilleton der Sächsischen Zeitung im September 2017: „Die rüde Rhetorik des Autors löste ein nahezu beispielloses Beben in den sächsischen Feuilletons aus.“ (Klysch) Kaiser wirft der Direktorin des Dresdner Albertinum Hilke Wagner vor: „Das Albertinum entsorgt die ungeliebte Kunst aus der Zeit der DDR im Museumsdepot. […] Sollte fortan ein Tourist durch die einst der ostdeutschen Kunst vorbehaltenden Räume flanieren, könnte er auf die Idee verfallen, dass es die DDR nie gegeben habe […].“ (Kaiser, 2017) Dabei stellt er vor allem ihre Kompetenz als Führungskraft eines großen Museums infrage und kritisiert, Wagner wolle als Westdeutsche eine von der Hegemonie des Westens geprägte Kunstgeschichte im Albertinum etablieren und den Dresdnern oktroyieren.

„Eine heftige Debatte [vor allem in den lokalen Zeitungen] war die Folge, die sich nur noch vordergründig um die Kunst aus der DDR oder ihrer Rolle innerhalb des Albertinum drehte. Es zeichnete sich eine Veränderung der Diskussions- und Emotionskultur ab: fortan potenzierten sich spannungsgeladene Emotionen und erste Zweifel an Hilke Wagners Qualifikation aufgrund ihrer westdeutschen Herkunft brachen sich Bahn.“ (Klysch)

Vor allem in den Leserbriefen, die vielfach in den Zeitungen abgedruckt wurden und die Diskussion mitbestimmten, entlud sich großer Unmut über verdrängte und abgewertete DDR-Identitäten und westdeutsche Deutungshoheiten.

In Reaktion auf die Heftigkeit des geführten Dresdner Bilderstreites berief Hilke Wagner am 6. November 2017 einen runden Tisch mit 15 Expertinnen und Experten aus Politik und Kultur unter dem Motto Bilderstreit mit Blickkontakt ein. Dresdnerinnen und Dresdner waren eingeladen, gemeinsam auf Augenhöhe zu diskutieren und Unmut und Wünsche zu äußern. „Michael Bartsch von der taz beschrieb die Stimmung im Publikum als ‚Angst um eine schwindende, oft erst postum entdeckte Ost- Identität‘, die sich mit ‚berechtigtem Ärger über das Verschwinden spezifischer Ost- Komponenten wie der gegenständlichen Malerei oder der Dresdner Spätexpressionisten‘ mische.“ (Klysch) Andere reklamierten, die vermissten Sehnsuchtsbilder aus ihrer Kindheit endlich wieder im Albertinum sehen zu können.

Der Streit um angeblich abgehängte Bilder aus der DDR im Albertinum erweist sich als eine Art Wiederkehr des Ausrufs von Thomas Oberender: „Sich daran zu erinnern, muss erlaubt sein“; als eine Art Heimsuchung einer unterdrückten Erinnerung an die eigene Vergangenheit in der DDR. „[…] [T]he ghostly haunt as a form of social figuration that treats as a major problem the reduction of individuals ‚to a mere sequence of instantaneous experiences which leave no trace, or rather whose trace is hated as irrational, superfluous, and ‘overtaken’.“ (Gordon, 2008, S. 20). Gordon beschreibt „haunting” als „case of inarticulate experiences, of symptoms and screen memories, of spiraling affects, of more than one story at a time” (Gordon, 2008, S. 25), die in Form eines Geistes als „social figure” in die Gesellschaft zurückkehren. Jedoch sind diese umgehenden Geister ungewollter Erinnerungen keine materielosen Gespenster – im Gegenteil: „they produce material effects“ (Gordon, 2008, S. 17). Die persönlichen Geschichten ehemaliger DDR-Bürgerinnen und Bürger, denen in der Geschichtsschreibung des vereinten Deutschland nur als ein zu überwindendes da historisch überholtes Moment Raum eingeräumt werden, kommen zurück und verlangen ihren Platz in der Gesellschaft, in dem sie an Bilder geheftet werden, deren Abhängung unbedingt verhindert werden müssen.

„Haunting and the appearance of specters or ghosts is one way [Gordon] tried to suggest, we are notified that what’s been concealed is very much alive and present, interfering precisely with those always incomplete forms of containment and repression ceaselessly directed toward us.“ (Gordon, 2008, S. XVI)

Es handelt sich also nicht um eine reine emotionale Übersprungshandlung individueller Zuschreibungen und Deutungen von Bildern, sondern um „that dense site where history and subjectivity make social life“. (Gordon, 2008, S. 8).

Es ist ein sozialer Aushandlungsprozess von Erinnerungen. Jedoch geht es nicht nur um die Verhandlung von Erinnerungen per se, sondern um das Recht auf eigene und positive Erinnerungen an das vergangene Leben in der DDR. „But haunting, unlike trauma, is distinctive for producing a something to be done.” (Gordon, 2008, S. XVI) Auch in ihrem Essayband Haunted Futurities, der sich in verschiedenen Essays mit Gordons Konzept des „haunting“ beschäftigt, insistieren die beiden Herausgeberinnen Debra Ferreday und Adi Kuntsman auf der Tatsache, dass „haunting“ eben keine Form der Inaktion oder Stimmlosigkeit sei: „Ghosts haunt us because they want to be heard and acknowledged, and as such, they become a call for action, a demand of ‚something to be done’.” (Ferreday & Kunstman, 2011, S. 6) In diesem Fall – wie vor allem die Einträge in die Besucherbücher der Ausstellung Ostdeutsche Malerei und Skulptur 1949–1990 zeigen werden – ist die vom wiederkehrenden Geist geforderte Aktion eine Diskussion der Ostdeutschen, wie und an was sie sich in ihrer Vergangenheit erinnern und wo sie diese Erinnerungen aufbewahrt sehen wollen.

4 Ein Archiv persönlicher Gedanken

Aufgrund der überbordenden Überschreibungen und Deutungen der Kunst aus der DDR mit persönlichen Geschichten und Erinnerungen im Dresdner Bilderstreit gestaltete das Albertinum gemeinsam mit dem Lernort Albertinum/Abteilung Bildung Ein Archiv persönlicher Gedanken zu den Werken des Bestandes ostdeutscher KunstFootnote 4, ein Buch, in das Besucher der Ausstellung Ostdeutsche Malerei und Skulptur 1949–1990 auf Klebezettel ihre persönlichen Überlegungen, Meinungen und Ansichten zu Bildern und Skulpturen aus der DDR notieren konnten. Es ist schwer, dieses Buch akribisch empirisch auszuwerten, da die Besucher nur selten mit vollem Namen unterschrieben und auch nur sporadisch ihr Alter und ihren Wohnort erwähnten. Nur aus dem Kontext ihrer Erzählungen kann man einige genauere Erkenntnisse über sie erfahren, ob sie Ost- oder Westdeutsche sind, wie alt sie ungefähr sind oder welchen Bildungsstand sie haben. Festzuhalten ist, dass eine sehr heterogene Gruppe von Menschen ihre Gedanken in diesem Buch dokumentiert hat. Die Altersspanne reicht von jugendlich bis weit fortgeschrittenes Alter. Auch wenn sich beim Geschlecht keine Dominanz von Frauen oder Männern feststellen lässt, dominieren doch eindeutig ostdeutsche Stimmen das Buch.

„Fast noch interessanter als die Kunst an sich sind die vielen sehr emotionalen Kommentare der anderen Besucher. Sie zeigen, wie wichtig Kunst zur Bestätigung der eigenen Relevanz sein kann – ein Aspekt der im Alltag oft untergeht.“Footnote 5 Dieses Buch eröffnet einen Raum für sehr persönliche Erinnerungen an die eigene Vergangenheit in der DDR: „Denn es war unser Leben!“Footnote 6 und bietet die Möglichkeit einer eigenen Geschichtsaushandlung, über die – so kritisiert ein Besucher im Buch – man die Kontrolle verloren hat, da sie andere schreiben: „Das ist unsere Geschichte!“Footnote 7 Letztlich handelt es sich auch um die Rückgewinnung der Deutungshoheit über den Teil des Lebens, den man in der DDR verbracht hat: „Ich war glücklich in der DDR.“Footnote 8

Immer wieder betonen die Einträge, dass durch diese Bilder ihre eigene Zeit repräsentiert wird und sie alt Bekanntem und Vertrautem endlich wieder begegnen können, was sie für ihren weiteren Lebensweg geprägt hat. „Es ist nicht das einzelne Kunstwerk. Es ist die Begegnung mit vielem Bekanntem und Vertrautem, die uns in unserem Denken und Handeln geprägt haben.“Footnote 9 „Es war ein Spaziergang durch ‚unsere‘ Zeit und ihre Bilder bewahren sie doch für uns die Zukunft … das kann uns keiner nehmen.“Footnote 10 Erinnerungen an verschiedene Lebensstationen vor allem die Jugend und die Kindheit werden wach, da viele der ausgestellten Bilder wie zum Beispiel Peter im Tierpark – Harald Hakenbecks ikonisches Werk von 1960 – als Reproduktion in Kindergärten hingen oder in allen Schulbüchern abgedruckt waren. „Das Bild ‚Peter im Tierpark‘ erinnert mich an unsere Schulzeit!“Footnote 11 „Friderun Bondzin ‚Junge Mutter‘ hing im Eingang meines Kindergartens“Footnote 12 „Allgemein: Eine Zeitreise mit schönen und weniger schönen Erinnerungen an Kindheit, Jugend und Schulbildung samt der erzwungenen Interpretation der Werke. Aber: Die Gedanken sind frei… Schön, dass es diese Ausstellung gibt.“Footnote 13 „1982 ‚Nike I‘ Als Schülerin zwar kunstinteressiert aber (heimlich) nicht staatskonform war die Kunstausstellung eher lästige Pflicht – lauerte doch der systemtreue phrasendreschende Aufsatz über eines der Kunstwerke danach. Doch die Nike berührte mich im Inneren sah ich mich doch in ihr.“Footnote 14 Die eigene Identität und Geschichte ist für die Besucher an diese Kunst geknüpft und erweckt Heimatgefühl, weshalb – so eine der zentralen Forderungen – das eigene Leben nicht wegradiert werden darf durch eine Verbannung dieser Kunst ins Depot. „W. Mattheuer ‚Das vogtländische Liebespaar‘ Es zeigt den Schulkameraden meines Vaters, der Mattheuer mit seiner Freundin begegnete, auf einem Feldweg zwischen Mylau und Rotschau. Viele prägnante Punkte der Umgebung (wie Göltzschtalbrücke, Sternwarte, Pappelweg usw.) sind von dort aus zu erkennen Heimatgefühl!“Footnote 15 „Es ist unser Leben, was man nicht wegradieren kann. Viele Werke sind hervorragend. So etwas vermisste ich in der Ausstellung ‚60 Jahre‘ in Berlin.“Footnote 16

Immer wieder wird daran erinnert, dass die Kunst in der DDR einen Raum für Diskussionen bot, welcher auch in diesem Besucherbuch genutzt wird, um einen Prozess der gemeinsamen Geschichtsschreibung zu initiieren. „Ich habe von 1973–1985 in Dresden gelebt und die kulturelle Lebendigkeit der Stadt sehr geschätzt. Die Kunstausstellungen der DDR sind noch heute in Erinnerung. Sie waren Höhepunkte für viele Menschen in allen Schichten. Die lebendigen Diskussionen vor Ort und später zu Haus und auf Arbeit, die gibt es heute nicht mehr. Die DDR war nicht nur Staatssicherheit, sondern auch Kunst für alle.“Footnote 17 Im Verlauf dieses im Besucherbuch ausgetragenen Diskussionsprozesses wird vor allem auch Kritik am ideologischen System der DDR geäußert. Die Bilder würden auch die Unfreiheit in der DDR aufzeigen und auf die Wichtigkeit von Freiheit aufmerksam machen. Der Konformismus einer Propaganda-Kunst wird bemängelt, mittels der Schüler im Kunstunterricht gepeinigt wurden, weshalb diese Kunst auch als Schlechte abgetan wird. „Eine schöne Ausstellung. Doch bedenken Sie. Die DDR-Führung hat keine Verbrechen an seinen Bürgern ausgelassen. Die kommunist. Diktatur die Kunst auch nur als Mittel zum Zweck Ihres Machterhalts genutzt.“Footnote 18 „Es sind Erinnerungen an Kunstausstellungen in meiner Jugend und Erwachsenenzeit. Diese waren damals in aller Munde! Über diese Bilder wurde viel diskutiert. Sie erinnern an Kunst- und Lebensverhältnisse in der DDR und wie die Menschen damals ‚ausgerichtet‘ wurden. Im Nachhinein immer sehens- und nachdenkenswert. Denn es war unser Leben!Footnote 19 „Eine sehr gelungene Ausstellung, wunderbare Kontexte. Aber auch Erinnerungen an einen Kunstunterricht, in welchem in erster Linie indoktriniert wurde, Interpretation nicht möglich, weil politisch vorgegeben.“Footnote 20 Die Ideologisierung und Indoktrinierung durch Kunst in der DDR und Kunst als Mittel zur Verstetigung der Macht der kommunistischen Einparteienherrschaft wird immer wieder hervorgehoben: „War die Kunst in der DDR Opium fürs [sic!] Volk?“Footnote 21 und damit auch eine Erleichterung darüber, dass diese Ära abgeschlossen ist: „Man muss doch nicht alles aufheben und ausstellen.“Footnote 22

Ebenso entsteht eine kontroverse Debatte darüber, wie die Geschichte dieser Zeit geschrieben werden und was in dieser Geschichte einen Platz erhalten soll. Diese Diskussion findet generationsübergreifend und zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen statt: „Diese Ausstellung gefällt mir als junger Mensch wirklich sehr gut!“Footnote 23 In Besucherbeiträgen wird darauf verwiesen, dass die Separierung der Kunst der DDR von anderen internationalen Kunstströmungen falsch wäre und man sich eine Einbettung dieser Kunst in einen internationalen Kontext wünscht. „Eine längst überfällige Schau! Trotzdem würde ich eine Reihe der Werke in einem gesamtdeutschen bzw. internationalen Rahmen sehen. Die Qualität haben viele Bilder.“Footnote 24 Allerdings gibt es auch Stimmen, die eben jener Kunst nur einen regionalen Status zuschreiben wollen. „Vieles wäre in der Städtischen Galerie [Dresden Anmerkung der Verfasserin] besser aufgehoben wg. nur regionaler Bedeutung. Ausnahme: die Abstrakte Kunst.“Footnote 25 Auch die Widerspiegelung der antifaschistischen Haltung der DDR in den Bildern sollte thematisiert werden. „Die DDR war der bessere,- trotz allen Mängeln + Dogmatismus – Staat; sie war antifaschistisch im Gegensatz zur BRD, in der alte Nazis höchste Ämter bekleideten.“Footnote 26 Jedoch wird ebenso die Problematisierung der Stimmungen rechtspopulistischer Polemiken mittels der Bilder angemahnt.

„Hassebrauck, Wilhelm Rudolph, Hans Grundig… Bilder von Krieg und Zerstörung Erinnerungen erschrecken mich – damals hat alles so begonnen, wie es heute wieder in der Luft liegt: populistische Regenten, Stimmen für rechtsextreme Parteien, Aufmärsche von Pegida, Pro Chemnitz… Wehret den Anfängen!“Footnote 27

Auch werden von Besuchern Parallelen zwischen der Kunst der DDR und der Zeit der Nationalsozialisten gezogen. „Malerei in der Nazizeit und in der DDR haben erschreckende Ähnlichkeit Aber Hegenbarth ist schön!“Footnote 28 Vor allem müssten die Westdeutschen durch eine Reise dieser Bilder in die alten Bundesländer für die Geschichte der DDR sensibilisiert und gebildet werden.

Nicht nur die Geschichtsschreibung der DDR-Vergangenheit wird mittels der Bilder verhandelt, auch die Gestaltung der Zukunft wird in diese Diskussion mit eingeschlossen, da für viele diese Bilder nichts an ihrer Aktualität verloren haben und für die künftige Zeit weiterhin eine Relevanz entfalten. „Das Werk ‚Die freie Welt des Imperialismus‘ hat sehr viel Ausdruck, hinsichtlich der derzeitigen Situation in der Welt. Es spiegelt also die Vergangenheit und die Zukunft wieder. Das bedeutet das etwas in der Welt getan werden muss sonst bleibt die Welt stehen.“Footnote 29 Deshalb verlangen viele dieser Stimmen eine Präsentation dieser Bilder in einer Dauerausstellung, um einerseits den persönlichen Erinnerungen einen permanenten Raum zu geben und andererseits die Debatte nicht abbrechen und für die Zukunft wirksam werden zu lassen. „Eine sehr eindrucksvolle Ausstellung, die zu einer Dauerausstellung werden sollte. Das ist ‚unsere‘ Geschichte!“Footnote 30

5 Die Wiederkehr des Geistes der sozialen Funktion der Kunst

Dieser Aushandlungsprozess von Möglichkeiten der Geschichtsschreibung und von persönlichen Erinnerungen über die Kunst aus der DDR verdeutlicht, dass es sich um eine weitere Wiederkehr handelt: um den „Geist“ der sozialen Funktion der Kunst in der DDR als Gesellschaft konstituierende Komponente. Darüber hinaus wird die Linearität von Geschichte infrage gestellt, denn die Vergangenheit entfaltet Sinnhaftigkeit für die Zukunft und Gegenwart. „Haunting raises specters, and it alters the experience of being in time, the way we separate the past, the present, and the future.“ (Gordon, 2008, S. XVI) Dies erfordert vor allem „a radical displacement for our frames of reference, a radical transvaluation of our methods and of our philosophies of history“ (Felman, 2002, S. 29) im Sinn Walter Benjamins (Benjamin, 2010): Geschichte als Mosaik oder Collage, als von der Gegenwart aus konstruierte, die nicht einfach chronologisch und linear verläuft. Dieses Verständnis von Geschichte erlaubt es ebenfalls, ein Aufflackern von vergessener Vergangenheit in der Gegenwart zu denken, welches diese strukturiert und gestaltet; die Gegenwart gleichsam als Resonanzkörper der Vergangenheit mitdenkt.

Die Kunst erwies sich für die DDR als konstituierendes Element der Gesellschaft mit pädagogischem Impetus, der die Menschen mittels Kunst und Kultur den Sozialismus lehrt und somit Zugang zu Erkenntnis der Welt für alle ermöglicht, weshalb sie in Artikel 18 der am 6. April 1968 angenommenen Verfassung als Stütze des Staates verankert und als besonders förderungswürdig erklärt wurde: „(1) Die sozialistische Nationalkultur gehört zu den Grundlagen der sozialistischen Gesellschaft. Die DDR fördert und schützt die sozialistische Kultur, die dem Frieden, dem Humanismus und der Entwicklung der sozialistischen Menschengemeinschaft dient. […] (2) Die Förderung der Künste, der künstlerischen Interessen und Fähigkeiten aller Werktätigen und die Verbreitung künstlerischer Werke und Leistungen sind Obliegenheiten des Staates und aller gesellschaftlichen Kräfte. Das künstlerische Schaffen beruht auf einer engen Verbindung der Kulturschaffenden mit dem Leben des Volkes.“Footnote 31

Diese Verankerung der Kunst in der Verfassung zeigt – wie es auch Jérôme Bazin in seiner Dissertation Réalisme et égalité: une histoire sociale de l’art en République démocratique allemande (1949–1990) ausführt – dass die Partei dem Künstler eine Macht verleiht, die Macht der Projektion und des Aufzeigens, die sie selbst so nicht hatte, und deshalb nimmt die Partei der Kunst gegenüber eine niedere Rolle ein. Künstler aber auch Kunsttheoretiker wie Erhard John spielen im Staat und dessen Verwaltung und der Regierungsarbeit der DDR deshalb eine wichtige Rolle und belegten hohe Ämter. Eines der eindringlichsten Beispiele ist wohl Johannes R. Becher, der nicht nur den Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands mitbegründete und dessen Präsident wurde, sondern im Januar 1954 auch zum ersten DDR-Kulturminister ernannt wurde

Der Sozialistische Realismus als offizielles Konzept und Diskurs kann letztendlich als Weltanschauung sowie als eine Art, die soziale Funktion der Kunst zu betrachten, und somit als eine epistemologische Teleologie gelesen werden: eine Teleologie, weil der Sozialistische Realismus eine Projektion der sozialistischen Welt ist, die es nach den Normen und dem Dogma des Marxismus-Leninismus zu erbauen gilt; epistemologisch, da der Sozialistische Realismus Wissen über diese aufzubauende sozialistische Welt produziert und analysiert, das darüber Aufschluss gibt, inwiefern die Transformation zum Sozialismus bereits fortgeschritten ist.

Der Sozialistische Realismus stellt sich in der DDR als eine Utopie der Verheißung einer sozialistischen – und damit besseren – Welt heraus, eine institutionalisierte und auferlegte Utopie, die autoritär und dogmatisch Normen festlegt, die eine sozialistische Zukunft im Jetzt realisieren sollen. Einerseits handelt es sich beim Sozialistischen Realismus um eine Zukunftsvision, die jedoch im Hier und Jetzt bereits umgesetzt werden soll und eine verheißungsvolle Prophezeiung eines Sozialismusideals in der Gegenwart ist. Andererseits muss der sozialistische Realismus immer auch die Analyse der historischen Verortung leisten, da in der marxistisch-leninistischen Auffassung Geschichte ein Fortschreiten hin zur Erfüllung des Sozialismus ist.

Die Grundlage für die Widerspiegelungstheorie, die vor allem für Erhard JohnFootnote 32 das grundsätzliche Prinzip des sozialistischen Realismus ist, formulierte Lenin 1908 in seinem Werk Materialismus und Empiriokriticismus. 1932 führte Maxim Gorki den Begriff Sozialistischer Realismus ein, der 1934 in der Rede von Schdanow auf dem Allunionskongress verstetigt wurde: Kunst sollte am Gestaltungsprozess des Sozialismus mitwirken. Johannes R. Becher war einer der vielen Redner dieser Tagung.

„Quoting Stalin’s (in)famous exhortation that artists and writers should become ‚the engineers of human souls,‘ Zhdanov (and Stalin) actually echoed the theory of the prerevolutionary aesthetician Aleksandr Bogdanov, who had spoken of literature as a practice that should organize workers and the oppressed in the struggle for the final destruction of all kinds of exploitation. […He] stated artists should ‘depict reality in its revolutionary development’ but that they should also educate the workers in the utopian spirit of Communism.“ (Foster et al., 2004, S. 260)

Bereits 1932 soll Stalin, dessen oberster Kulturkommissar Schdanow war, in einem geheimen Treffen in Gorkis Wohnung gesagt haben: „If the artist is going to depict life correctly, he cannot fail to observe and point out what is leading towards Socialism. So this will be Socialist Realism.“ (Foster et al., 2004, S. 260).

In der stalinistischen Sowjetunion wurde der Sozialistische Realismus als „ästhetisch-pädagogisches Modell“ (Gillen, 2005, S. 6) auf dem Ersten Allunionskongress der sowjetischen Schriftsteller 1934 formuliert. Dessen Konzept wurde durch die Aneignung verschiedenster Vorbilder gestaltet. In den 1930er Jahren diente vor allem die Aufklärung als Modell für den sowjetischen Sozialistischen Realismus, um das Partikulare mit dem Allgemeinen zu verbinden. Katerina Clark erläutert dazu: „The stalinist ‚aesthetic‘ or ‚beautiful‘ was not self-valuable or ‚autonomous‘ but was incorporated into an ideological system as its nodal point. The beautiful was also represented as being the ‚harmonious‘, in effect that which marries the subjective to the objective in concrete actuality.“ (Clark, 2011, S. 122) So wie sich der sowjetische Sozialistische Realismus die moralischen Werte der Aufklärung aneignete, so führten die deutschen Exilanten der SU nach ihrer Rückkehr nach Deutschland das sowjetische Modell des Sozialistischen Realismus in der sowjetischen Besatzungszone zur Neugestaltung dieser ein und wollten an das utopische Ideal der 1930er Jahre anknüpfen: „the ideal that stood before the country [die Sowjetunion Anmerkung der Verfasserin] in the 1930s was an aesthetic state, a Kunststaat [… that] will stand for a social and political community that accords primacy, although not exclusiveness, to the aesthetic dimension in human consciousness and activity“Footnote 33. Der Sozialistische Realismus basierte auf der Idee, dass ästhetische Formen Ideologie inkorporieren: „the aesthetic provided a critical interface between politics and mores in systematizing the value system and working out a code of values and behavior“ (Clark, 2011, S. 10).

Am 30. April 1945 landete die „Gruppe Ulbricht“ – eine Gruppe von 9 Kommunisten, die in Moskau exiliert waren – in Calau (60 km von Frankfurt/Oder), um das sowjetische Model einzuführen, das durch das von der SMAD am 9. Juni eingeführte Gesetz legitimiert wurde. Obwohl von 1946 bis 1952 die Schdanow-Ära folgte, die die „Anti-Formalismus-Debatten“ gegen Kosmoplitismus und moderne Kunst provozierte, beschritt man in der DDR in der Ausformulierung des Sozialistischen Realismus durchaus eigene Wege.

Nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinen die Jahrzehnte der Nachkriegszeit prägenden Zerstörung, Zerrüttung und der physischen und psychischen Versehrtheit und dem ideologischen Vakuum, das der Untergang des Naziregimes hinterlassen hatte, trat der Sozialismus und mit ihm der Sozialistische Realismus als eine Art Verheißung, ein utopisches Ideal eines besseren Lebens auf und wurde von vielen Künstlern gepriesen.

Die Wiederkehr der sozialen Funktion von Kunst aus der Zeit der DDR wird umso verständlicher durch die im Sozialistischen Realismus enthaltene Theorie der Konstituierung eines sozialistischen Subjekts, wie sie Erhard John in seinen Büchern durch seine Interpretation von Lenins Widerspiegelungstheorie umreißt. Das sozialistische Subjekt wird durch die Erziehung von Kunst hervorgebracht, welche von einem Künstler geschaffen wird, der selbst zu diesem den Sozialismus erkennenden konstituiert werden muss. John sieht den Wert eines Kunstwerkes im Resultat einer Widerspiegelung der Wirklichkeit, die eine konzeptionelle Vorwegnahme erwünschter Veränderungen ist. Die dargestellte Wirklichkeit ist eine Projektionsfläche für die Konzeption einer sozialistischen Welt des Marxismus-Leninismus. Um dieses Abbild des Sozialismus zu schaffen, braucht es für John den Künstler. An ihn sind die Erscheinungen jedes Bildes sinnlich gebunden, in ihm spiegeln sie sich wieder. Er ist das diese Wirklichkeit erkennende und beurteilende Subjekt. Jedoch sind seine Erfahrungen, Erkenntnisse und Urteile selbst durch die gegebenen sozialen und politischen Umstände gefiltert und an die historische Stufe der Entwicklung hin zum Sozialismus – wie John es ausdrückt – gebunden. Im Spannungsfeld der historischen Stufe, auf der er sich bewegt, und dem Abbild das er zu produzieren hat, muss sich der Künstler selbst durch die Lehren des Marxismus-Leninismus zu eben jenem Spiegel erziehen und zum widerspiegelnden Subjekt konstituieren.

Die Kunst in der DDR wurde zwar durch den Sozialistischen Realismus vor allem zur Indoktrinierung und Konstituierung getreuer Sozialisten genutzt, aber ihr wurde damit auch ein fundamentales Charakteristikum zugeschrieben, Gesellschaft nicht nur abzubilden und zu projizieren, sondern einen Raum für die Gesellschaft betreffende Fragen zu eröffnen. Auf dieses greifen die vielen Bürgerinnen und Bürger in ihrer Diskussion um Erinnerungen, Deutungen und Geschichtsschreibungsprozesse zurück. Im Medium der Kunst debattieren sie nicht nur mögliche Szenarien einer Erinnerungskultur und Geschichtsschreibung ihrer eigenen Vergangenheit, sondern sie ziehen die Kunst auch als Vorbild und Inspirationsquelle für die Gestaltung der Zukunft in Betracht.

Neben der direkten Übernahme des politischen Systems eines anderen Landes ist dies ein weiteres Spezifikum der postsozialistischen Transformationsprozesse Ostdeutschlands im Vergleich mit anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks. In Polen wurde bereits Mitte der 1950er Jahre der Sozialistische Realismus abgeschafft und eine Parteinahme für politische Belange der Kunst unter Strafe gestellt. Diese auferlegte politische Enthaltsamkeit der polnischen Künstlerinnen und Künstler wirkt bis heute fort und wurde nur langsam aufgeweicht, sodass der Künstler Artur Żmijewski noch 2007 in seinem Text Applied Social Art die nicht vorhandene politische Wirksamkeit zeitgenössischer Kunst bemängelte. Allerdings wird in Polen mittlerweile der Sozialistische Realismus neubewertet, weil der Umgang mit der eigenen Kunst der sozialistischen Vergangenheit viel weniger von westlichen Diskursen bestimmt wird. Ein besonders signifikantes Beispiel dafür ist die Ausstellung Cold Revolution. Central and Eastern European Societies in Times of Socialist Realism. 1948–1959, die vom 26. März bis zum 27. Juni 2021 in der Zachęta in Warschau gezeigt wurde. Das Kuratorenteam Joanna Kordjak und Jérôme Bazin zeigte über die Grenzen von sechs Ländern, dass „[f]inally – contrary to the belief that socialist art was cut off from social reality – we hope to show that Socialist Realist visual culture entered into relations with this reality and reflected its dynamic” (Bazin & Kordjak, 2021, S. 9); ein Ausstellungsprojekt, das in seiner Ambition und Tragweite, in Deutschland sicher so noch nicht möglich wäre.