Nach Spiegel-Aus: „Nach wie vor sind Tränen im politischen Geschäft ein Tabu“

Nach Spiegel-Aus: „Nach wie vor sind Tränen im politischen Geschäft ein Tabu“

Familienministerin Anne Spiegel ist zurückgetreten. Gab es zu viel Druck aus den Medien? Kommunikationsexpertin Friederike Sittler im Gespräch.

Anne Spiegel (Bündnis 90/Die Grünen) trat am Montag von ihrem Amt als Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zurück.
Anne Spiegel (Bündnis 90/Die Grünen) trat am Montag von ihrem Amt als Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zurück.dpa

Am Ende war der Druck zu groß: Bundesfamilienministerin Anne Spiegel (Grüne) hat am Montag ihren Rücktritt erklärt. Sie habe sich „aufgrund des politischen Drucks entschieden, das Amt der Bundesfamilienministerin zur Verfügung zu stellen“, erklärte Spiegel. Sie tue dies, „um Schaden vom Amt abzuwenden, das vor großen politischen Herausforderungen steht“. Wir wollten wissen, ob die Medien zuvor über Anne Spiegel fair berichtet haben. Oder wurde die Ex-Ministerin anders behandelt, weil sie eine Frau ist? Nachgefragt haben wir bei der Kommunikationsexpertin Friederike Sittler.

Berliner Zeitung: Liebe Frau Sittler, Anne Spiegel ist am Montag zurückgetreten. War das am Ende notwendig?

Friederike Sittler: So wie das Ganze gelaufen ist, war der Rücktritt unausweichlich, es sind zu viele Fehler gemacht worden. Besonders in der Krisenkommunikation und vor allem am Sonntagabend der Auftritt vor laufenden Kameras mit der Rückversicherung, dass sie das jetzt noch mal abbinden müssen. Da zeichnete sich bereits der Rücktritt ab. Letztlich ist der Druck zu groß geworden.

Das Statement am Sonntag war also der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte?

Es ist ja immer eine Frage, wie Minister und Ministerinnen mit öffentlichem Druck umgehen. Ohnehin war es problematisch, dass sie sich zu den vier Wochen Urlaub nicht von Anfang an bekannt hatte, nicht erklärt hatte, wie sie währenddessen das Amt geführt hat. Das kam alles erst durch die Berichterstattung zum Vorschein. Dazu kam der große Fehler, zu sagen, dass sie bei Kabinettssitzungen teilgenommen hätte, um das dann auch am Sonntag wieder zurückzunehmen. Sie habe die Anfrage dazu zwischen zwei Terminen auf Reisen erhalten. Also bitte, alle Spitzenpolitikerinnen und -politiker sind eng getaktet und oft kommen Katastrophen dazwischen. Damit muss man irgendwie umgehen können. Trotzdem bleibt natürlich die Frage: Bewerten wir Medien diese Fehler bei einer Frau anders als bei Männern?

Was ist Ihre Antwort in diesem speziellen Fall?

Ich glaube, dass es inzwischen eine größere Sensibilität gibt. Ich habe in der Berichterstattung, anders als in den Social-Media-Kanälen, kaum Ausreißer entdecken können. Natürlich gibt es Kommentare, die für mich zu pauschal sind, zu abwertend; aber gut, auch das liegt im Wesen des Kommentars. Für mich ist am wichtigsten, zu gucken, welche Bilder wir auswählen und ob wir bei Männern genauso intensiv recherchieren und scharf urteilen wie bei Frauen. Unsere Aufgabe ist es, Dinge immer wieder auf die Faktenebene zu bringen. In der Berichterstattung zu Anne Spiegel habe ich viel zu wenige Berichte über ihre politische Aktivität als Landes- und Bundesministerin gesehen. Dabei hat Frau Spiegel es verdient, dass wir uns mit ihrer politischen Leistung auseinandersetzen. Was hat sie im Ahrtal denn wirklich falsch gemacht? Ist dadurch, dass sie weg gewesen ist, tatsächlich etwas passiert? Das zu klären, ist unsere Aufgabe als Medienschaffende.

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Christian Kruppa
Zur Person
Friederike Sittler ist 1969 in Arnsberg/Nordrhein-Westfalen geboren und studierte katholische Theologie, Politik- und Kommunikationswissenschaften. Als Journalistin volontierte sie beim SFB, arbeitete später beim Inforadio und führte beim RBB die Redaktion Religion und Gesellschaft. Seit 2019 leitet sie die Abteilung Hintergrund Kultur und Politik von Deutschlandfunk Kultur. Im selben Jahr wurde sie zur Vorsitzenden des Journalistinnenbunds gewählt. Sittler lebt in Berlin.

In der Politik scheinen oft Menschen Karriere zu machen, die auf den ersten Blick fehlerlos sind. Fehlt uns auch das Verständnis für Politikerinnen und Politiker, denen es anders geht?

Insgesamt, glaube ich, verlangen wir heutzutage von Politikerinnen und Politikern Unmenschliches, das ist wirklich eine unglaubliche Maschinerie. Nun wird am Beispiel Spiegel wieder die Vereinbarkeit von Familie und Beruf diskutiert. Nach dem Motto: Seht her, es geht eben nicht, dass eine relativ junge Frau mit vier Kindern ein so hohes Amt ausübt. Stattdessen sollten wir uns aber fragen, welche Maßstäbe wir eigentlich anlegen. Und auch darauf hinweisen, dass es andere ebenfalls schaffen. Annalena Baerbock hat auch kleine Kinder und ihr Mann bleibt zu Hause. Dramatisch ist, dass jetzt das Bild entsteht, Frauen mit Kindern bewältigen ein solches Amt nicht.

Merkel war ja immer sehr sachlich, unnahbar und kam damit gut an. Müssen Politikerinnen also eher unemotional sein?

Nach wie vor sind Tränen im politischen Geschäft ein Tabu. Merkel soll es ein einziges Mal getan haben und anschließend stand es in jedem Bericht über Frau Merkel. Wir müssen davon wegkommen, das als Drama zu sehen, und wieder viel mehr die politische Arbeit bewerten. Konkret hier also: Was hat Frau Spiegel in ihren jeweiligen Ämtern geleistet? Hat sie Fehler gemacht, ja oder nein? Dabei weniger auf Äußerlichkeiten gehen, denn sonst ist es fraglich, welche Frau mit Kindern sich den Job heute noch zumuten will.

Das Bundesfamilienministerium ist nun zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres führungslos. Die vergangene CDU-geführte Bundesregierung ließ es nach dem Abgang von Franziska Giffey (SPD) mehrere Monate unbesetzt beziehungsweise lediglich durch die damalige Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) kommissarisch führen. Das sorgte kaum lange für Schlagzeilen. Wo ist der Unterschied zu einer Ministerin, die sich im Urlaub durch eine knappe Handvoll Staatssekretäre vertreten lässt?

Die Bewertung von politischen Vorgängen kann auch von Emotionen geleitet sein, da müssen wir Journalistinnen und Journalisten immer aufpassen. Bei Anne Spiegel ging es konkret um das dramatische Schicksal von Menschen, die von der Flut betroffen waren. Da ist die Sensibilität natürlich größer. Aber natürlich können, wenn ein Bundesministerium nicht oder nur halb besetzt ist, im Zweifel sehr viele Menschen auch existenziell betroffen sein, weil Vorgänge einfach nicht umgesetzt werden. Deshalb müssen neben der Emotionalisierung von Diskussionen Medien immer wieder Fakten liefern.

Bleiben wir bei der Flut. Gern scheint in der Berichterstattung vergessen zu werden, dass es da auch eine Ministerpräsidentin und einen Innenminister, beide SPD, in Verantwortung gab. Insbesondere der Katastrophenschutz untersteht in letzter Instanz dem Innenministerium, also nicht Anne Spiegel. Warum gerät oder geriet Roger Lewentz nicht ähnlich ins Kreuzfeuer?

Die Frage bei all diesen Skandalen ist eigentlich immer: Wer hat wann was an die Öffentlichkeit gebracht und mit welchen Motiven? Aber eben auch: Wie gut greifen Medien die Informationen, die sie haben, auf? Hier waren es geleakte SMS. Gleichzeitig kam nicht die gesamte Kommunikation an die Öffentlichkeit, sondern nur einige aus ein paar Hundert SMS. Das kann eine merkwürdige Verschiebung sein. Die Frage bleibt: Gab es bei den anderen Politikern nichts zu kritisieren oder hat es einfach niemand getan? Das kann ich nicht beurteilen.

Insbesondere über die SMS zwischen Anne Spiegel und ihrem Presseteam wurde viel geschrieben. Viele bemängelten, dass es Spiegel offenbar nur ums eigene Image ginge oder dass sie extra aufs Gendern hinwies. Hätte man diese Unterhaltungen bei einem Politiker auch so hochgejazzt? Aufgabe jeder Presseabteilung, egal in welcher Situation, ist doch, den oder die Chefin möglichst ins beste Licht zu rücken.

Nun, das sind alles fiktive Szenarien und auch deshalb schwer zu beurteilen. Die Frage ist aber auch hier, welche Recherche wird mit welchen Motiven gemacht? Die muss sich jede Redaktion intern stellen und dabei auch immer wieder fragen: Müssen wir, wenn wir bei diesem Fall so intensiv recherchieren, nicht auch die andere Seite genauso intensiv beleuchten?

Anne Spiegel wurde, ähnlich wie Annalena Baerbock im Wahlkampf, in Interviews regelmäßig nach der möglichen Vereinbarkeit von Familie und Beruf befragt. Der rheinland-pfälzische Innenminister Lewentz schätzte die Katastrophenlage ähnlich falsch ein wie die damalige Umweltministerin. Genau wie Spiegel hat er vier Kinder. Unterscheiden wir zwischen beiden?

Es ist vielleicht eine Frage, die bei uns in der Gesellschaft immer noch mitschwingt. Menschen gucken skeptisch auf Frauen, bei denen der Mann zu Hause mit den Kindern bleibt. Genauso scheint es aber selbstverständlich für Männer, Führungspositionen zu übernehmen. Es wird misstraut, dass dieses eher männliche Rollenbild auch bei Frauen funktionieren könnte. Das sehen wir ja auch bei vielen Interviews, dass Männer eben selten nach ihren Kindern gefragt werden, Frauen aber schon beantworten müssen, wie sie Karriere und Kinder unter einen Hut bringen wollen. Allerdings hat Frau Spiegel immer auch selbst über ihre familiären Verhältnisse gesprochen, öffentlich betont, dass ihr Mann zu Hause bleibt.

Zum Abschluss: War die wochenlange Berichterstattung über Anne Spiegel auch sexistisch?

Ich fand die Berichterstattung alles in allem in Ordnung, weil sie weitestgehend sachlich orientiert war, anders als in den Social-Media-Kanälen. Wir müssen uns dennoch die Frage stellen, welche Impulse und Motive es für die Recherchen gegeben hat und für die Informationsleaks im politischen Betrieb. Wer hat das Ganze ins Rollen gebracht? Das müsste journalistisch noch einmal aufgearbeitet werden, ich hätte es da gern sachorientierter.

Vielen Dank für das Gespräch.