Der Blaue Reiter begeistert jetzt die Briten | Abendzeitung München

Der Blaue Reiter begeistert jetzt die Briten

Die Tate Modern in London zeigt 130 Werke des "Blauen Reiter" aus dem Lenbachhaus - für beide Seiten ein toller Deal
| Christa Sigg
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Starke Farben können durchaus bedrohlich wirken - im Fall von Franz Marcs "Tiger" aus dem Jahr 1912 sollen sie Aufmerksamkeit auslösen. Das Tier ziert in London die "Blue Rider"-Plakate.
Foto: Lenbachhaus/Schenkung Bernhard und Elly Koehler Stiftung 6 Starke Farben können durchaus bedrohlich wirken - im Fall von Franz Marcs "Tiger" aus dem Jahr 1912 sollen sie Aufmerksamkeit auslösen. Das Tier ziert in London die "Blue Rider"-Plakate.
Marianne von Werefkin war eigenwillig, doch die roten Augen täuschen darüber hinweg, dass sie eine wichtige Vermittlerin für den "Blauen Reiter" war.
Lenbachhaus München 6 Marianne von Werefkin war eigenwillig, doch die roten Augen täuschen darüber hinweg, dass sie eine wichtige Vermittlerin für den "Blauen Reiter" war.
Ein Selbstporträt von Marianne von Werefkin.
Lenbachhaus München 6 Ein Selbstporträt von Marianne von Werefkin.
Die Ausstellung "Expressionists. Kandinsky, Münter and the Blue Rider" in der Tate Modern. Sie ist in London vom 25. April bis 20. Oktober zu sehen.
picture alliance/dpa/Tate 6 Die Ausstellung "Expressionists. Kandinsky, Münter and the Blue Rider" in der Tate Modern. Sie ist in London vom 25. April bis 20. Oktober zu sehen.
Das Lenbachhaus
picture alliance / Fabian Nitschmann/dpa 6 Das Lenbachhaus
Die Tate Modern Gallery am Ende der Millenium Bridge.
IMAGO/Pond5 Images 6 Die Tate Modern Gallery am Ende der Millenium Bridge.

Die Ausstellung war noch lange nicht eröffnet, da gaben sich die Kunstkritiker im Vereinigten Königreich schon very impressed, also sehr beeindruckt. Wenn das so weitergeht, wird der gute alte "Blaue Reiter" in London ein richtiger Erfolg. Ohnehin steht der deutsche Expressionismus derzeit hoch im Kurs: in Washington mit den Brücke-Leuten, Otto Dix oder dem Österreicher Egon Schiele, in Den Haag zieht der "eigenwillige" Max Beckmann zahlreiche Besucher an.

Dass die Münchner Künstlergruppe um Franz Marc und Wassily Kandinsky nun diesen internationalen Großauftritt hat, ist dagegen etwas Besonderes. Die erste und letzte dem "Blue Rider" gewidmete Schau fand 1960 in der damaligen Tate Gallery statt - als bewusst gesetztes Zeichen der Verständigung nach dem Zweiten Weltkrieg. Bis auf Solo-Präsentationen der bekanntesten Reiter-Mitglieder war's das.

Tausch mit Turner

Allerdings dürfen die Säulenheiligen des Lenbachhauses auch nicht ohne Weiteres reisen, schon gar nicht die Ikonen wie Marcs berühmtes "Blaues Pferd". Durch die großzügige Schenkung Gabriele Münters besitzt die Städtische Galerie die bedeutendste Sammlung dieser Kunstpioniere. Sie wird gehegt und gepflegt, und selbst unter der Woche sind die entsprechenden Säle bestens frequentiert. Doch der Deal mit der Londoner Tate Modern war zu verlockend: Turner gegen "Blue Rider" - den Münchnern hat der englische Romantiker einen Rekord von fast 280.000 Besuchern beschert.

Die Ausstellung "Expressionists. Kandinsky, Münter and the Blue Rider" in der Tate Modern. Sie ist in London vom 25. April bis 20. Oktober zu sehen.
Die Ausstellung "Expressionists. Kandinsky, Münter and the Blue Rider" in der Tate Modern. Sie ist in London vom 25. April bis 20. Oktober zu sehen. © picture alliance/dpa/Tate

Dafür ließ man die 130 Werke von Erma Bossi bis August Macke oder Alexej von Jawlensky noch ein bisschen lieber ziehen. Und nun faszinieren in London die leuchtenden Farben, die je stärker, desto beunruhigender empfunden werden. Zumindest von Jonathan Jones, dem geradezu überschäumenden Experten des "Guardian".

Der Tiger wirbt für die Schau

Marianne von Werefkins feuerrote Pupillen fallen auf, Wassily Kandinskys giftgrün und violett dominierte Ansicht von Murnau und natürlich Franz Marcs Tiger, der quer durch London auf Plakaten für die Schau wirbt. "The Blue Rider" und der Expressionismus an sich werden von den britischen Rezensenten im Zusammenhang mit der Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs gesehen, der letztlich zu Nationalsozialismus und Holocaust führen sollte.

Marianne von Werefkin war eigenwillig, doch die roten Augen täuschen darüber hinweg, dass sie eine wichtige Vermittlerin für den "Blauen Reiter" war.
Marianne von Werefkin war eigenwillig, doch die roten Augen täuschen darüber hinweg, dass sie eine wichtige Vermittlerin für den "Blauen Reiter" war. © Lenbachhaus München

Das Ausstellungsteam um Natalia Sidlina, zuständig für die internationale Kunst an der Tate, setzt vielmehr die aktuellen Bezüge ins Zentrum. Das reicht von der Migration über multiple Identitäten und fließende Sexualitäten bis zu den ethnischen Zugehörigkeiten sowie dem grenzenlosen Experimentieren eines Kollektivs, in dem Männer und Frauen an einem Strang zogen und die Herkunft eh keinen gekratzt hat.

Das Lenbachhaus
Das Lenbachhaus © picture alliance / Fabian Nitschmann/dpa

Die Offenheit der Schwabinger Bohème

"Das ganze Werk, Kunst genannt, kennt keine Grenzen und keine Nationen, nur die Menschheit", heißt es im Almanach, der gotische Plastik neben Kinderbilder oder ozeanische Masken neben zeitgenössische Malerei stellt. Gleichberechtigt. Franz Marc war übrigens der einzige Münchner der Gruppe - mit französischer Mutter. Die anderen "Blue Riders" kamen aus dem Rheinland und Berlin, aus der Schweiz, Österreich, Polen und viele aus Russland. Nicht zuletzt, weil sie im damals halbwegs liberalen München freier leben und arbeiten konnten. Das unkonventionell Offene der Schwabinger Bohème hatte sich jedenfalls herumgesprochen.

Der Tänzer Alexander Sacharoff trat in weiblichen oder neutralen Kostümen auf, unterlief Geschlechternormen und stand für eine androgyne Identität. Davon erzählen seine Porträts, geschaffen von Alexej von Jawlensky und Marianne von Werefkin, die von sich behauptet hat: "Ich bin kein Mann, ich bin keine Frau, ich bin ich selbst".

Die Tate Modern Gallery am Ende der Millenium Bridge.
Die Tate Modern Gallery am Ende der Millenium Bridge. © IMAGO/Pond5 Images

Für Matthias Mühling, den Lenbachhaus-Direktor, ist das Zusammenspiel mit der Tate ein Höhepunkt in der Geschichte des Museums. Das betrifft auch den Austausch von Forschungsergebnissen, der in der Vergangenheit nicht selbstverständlich gewesen sei. Und wenn nun Natalia Sidlina tief in die "Reiter"-Thematik eingestiegen ist, sich mehrmals nach Murnau begeben und genauso die Kandinsky-Bibliothek im Pariser Centre Pompidou durchforstet hat, dann profitiert davon auch die Münchner Sammlung.

Ein Selbstporträt von Marianne von Werefkin.
Ein Selbstporträt von Marianne von Werefkin. © Lenbachhaus München

Der Expressionismus wird blau

Die in Russland aufgewachsene Kunsthistorikerin hat sich Kandinskys Briefe und Tagebuchaufzeichnungen vorgenommen und interessante Details genauer untersucht: 1889 ist er noch als Student von Moskau aus ins nördliche Ural-Gebirge gereist, um das Rechtssystem der finno-ugrischen Syrjanen, heute Komi genannt, zu erkunden. Dabei lernte der 22-Jährige auch die Handwerkskultur des Fischer- und Jägervolks sowie dessen Spiritualität kennen. Neben der Beschäftigung mit Rembrandt scheinen diese Wochen im Ural tiefe Eindrücke hinterlassen zu haben, zumal Kandinsky mit der Kolonialisierung des Landes und den sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen konfrontiert wurde. Das ist das eine, auf der anderen Seite sollten die mythischen Bemalungen der Syrjanen Kandinskys bald gefundene symbolische Bildsprache bestimmen.

Bis der "Expressionissm" dann freilich "blue" wurde, sind einige Jahre verstrichen, und gerade die Farben bilden heute die schönste Ablenkung von der Kunst-Revolution. Ein frischer Blick kann also nicht schaden. Und schließlich ist diese "Rider"-Show auch ein Statement gegen den Brexit, wenngleich das niemand an der Tate so formulieren würde.

"Expressionists: Kandinsky, Münter and the Blue Rider", bis 20. Oktober, Tate Modern London

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