Geld spielt keine Rolle

Über Freiheit und Ungerechtigkeit

In ihrem zweiten Buch Geld spielt keine Rolle spricht Anna Mayr überraschend offen über Finanzielles. Schonungslos tritt sie sich selbst gegenüber und hinterfragt - als soziale Aufsteigerin - ihren eigenen Umgang mit Geld. Dabei entstehen kurze, essayistische Kapitel, in welchen sie sich zunächst Dingen widmet, die sie sich gekauft hat oder die sie sich kaufen wollte. Davon ausgehend zeichnet Mayr ein grösseres Bild, in welchem sie probiert, die Rolle des Geldes in unserer Gesellschaft kritisch zu analysieren. Der Titel wird dabei zur Antithese des Werkes, denn nach der Lektüre ist glasklar: Geld spielt eine Rolle.

Gleich im Einführungskapitel Eat the rich, schreibt Mayr über ihr eigenes Verhältnis zum Geld: Sie selbst ist in ärmeren Verhältnissen aufgewachsen und hat es geschafft, herauszukommen und aufzusteigen. Sie hatte die Möglichkeit, zu studieren und arbeitet heute als Journalistin für Die Zeit. Sie hat nun zwar genügend Geld, ist jedoch mit sich nicht zufrieden, denn sie schreibt: "Aber ich mag den Menschen, zu dem ich mit Geld geworden bin, nicht besonders." Doch wieso mag sie diesen Menschen nicht? Mayr hält es nicht aus, zu wissen, dass andere teilweise zu Unrecht mit weniger leben als sie, und sieht die Widersprüchlichkeit eigener finanzieller Entscheide, beispielsweise wenn sie sich überlegt, teure Möbel anzuschaffen oder wenn sie überteuerte Kleider kaufen möchte. Dadurch ist sie oft gefangen in Dilemmata, die sich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch ziehen, und die Autorin in den einzelnen Kapiteln durchdiskutiert.  

Unter den vielen Thesen, die von Mayr in Geld spielt keine Rolle erarbeitet werden, lässt sich eine Erkenntnis besonders hervorheben: Geld zu haben symbolisiert in erster Linie eine grosse Freiheit. Sie schreibt dazu, dass "[d]ie ökonomischen Voraussetzungen der Einzelnen [...] der wichtigste Grund [sind], warum manche Menschen gewinnen und manche verlieren." Gewinnen heisst in diesem Fall, die Freiheit zu haben, das eigene Geld so auszugeben, wie es einem gerade beliebt. Wer monatlich 1000 Euro hat, hat einen kleinen, wer 8000 Euro hat, einen grösseren Spielraum. Dieser Spielraum ermöglicht es, "zu gewinnen": Zu essen, Ferien zu finanzieren, Krankenversicherungen zu zahlen, ein Studium zu machen, ein Auto zu kaufen - kurz: Er ermöglicht es, selbst zu entscheiden.

Doch wie kommt es dazu, dass gewisse Menschen auf der anderen Seite verlieren? Mayr positioniert sich klar und schreibt: "Abstieg und finanzielle Not, sage ich, sind nie eigene Schuld, sondern immer einfach Pech." Hierzu schreibt sie im Kapitel 149 Euro für einen Elektrogrill über die angebliche Meritokratie, welche im Kapitalismus herrschen würde. Der Begriff beschreibt das Prinzip, dass mehr erbrachte Leistung zu einer höheren finanziellen Entlohnung führen würde. Der Gedanke der Meritokratie ist tief verwurzelt in unserer Gesellschaft, und Mayr sieht ihn als "eine große Lüge" an, denn es stimme schlichtweg nicht, dass wenn jemand mehr leistet, es eine grössere Belohnung dafür gebe, denn Leistung sei politisch. Als Beispiel nimmt sie hier Schüler:innen: Wer in einem privilegierten Haushalt aufwächst, muss tendenziell weniger leisten, um gute Noten zu erhalten, als jemand, der in ärmeren Verhältnissen aufwächst, da beispielsweise die psychische Belastung in Haushalten mit tieferen Einkommen für Jugendliche eher belastender ist, als in Haushalt mit höherem Einkommen. Dieser Sachverhalt wird im Schulsystem, z.B. in der Notengebung, jedoch nicht berücksichtigt und führt zu Ungleichheit, denn alle werden so beurteilt, als hätten sie dieselben Voraussetzungen gehabt, obschon diese Annahme grundsätzlich falsch ist.

Der Gedanke der Meritokratie produziert zudem oftmals einen Nebeneffekt bei Individuen, die sozial aufsteigen: das Hochstaplersyndrom. Menschen, denen es wie Anna Mayr möglich wurde, einen sozialen Aufstieg zu durchleben, würden laut der Autorin oft an dem Gefühl leiden, weniger verdient zu haben. Sie haben meist weniger Selbstvertrauen als andere, welche in privilegierten Verhältnissen aufgewachsen sind, denn wer behütet aufwächst, traut sich mehr zu. Dieses verlorene Selbstvertrauen zieht sich quer durch aufsteigende Gesellschaftsschichten und entwickelt sich weiter zu einer selffulfilling prophecy: Denn wer denkt, weniger zu können, kann in der Praxis auch weniger. Hierbei kann eine psychologische Benachteiligung erkannt werden, die zu schlechteren Voraussetzungen führt, obschon die Fähigkeiten eines Individuums ziemlich gut wären. Dieser Punkt ist ein weiterer Beleg dafür, dass der Klassismus eine Realität ist, dass (soziale) Herkunft noch immer massgeblich darüber entscheidet, wohin der Weg eines Individuums führen wird, und dass gesellschaftliche Strukturen die Macht dazu haben, das Selbstvertrauen einzelner, aufgrund finanzieller Verhältnisse, zu sabotieren. 

Weiter schreibt Mayr: "Wir meinen also, viel leisten zu müssen, und gleichzeitig geht es uns schlecht, weil wir unter Druck stehen, viel zu leisten." Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, die gezeichnet ist von einer, wie Mayr sie bezeichnet, "Kultur der Qual und Belohnung". Wer sich mehr quält, erhält mehr Belohnung. Dies vermag sie stark zu kritisieren, denn Qual sei für die Autorin an sich kein Wert – denn erst durch die Belohnung werde sie zu einem. Mayr schlussfolgert, dass Leistung einen nicht weiterbringe, sondern lediglich Glück, wie beispielsweise das Glück, in eine wohlhabende Familie hineingeboren zu werden. Einerseits suggeriert diese Kultur also, dass Selbstqual zu Erfolg führe, und andererseits zeichnet sich diese Entwicklung als Hamsterrad aus: Wir müssen immer mehr leisten, und erfahren immer mehr Druck, ohne unbedingt mehr zu erreichen und weiterzukommen. Diese Entwicklung kritisiert Mayr stark, denn sie kann nur in einer Überforderung münden, die uns an unsere Grenzen bringt, sodass die Autorin die psychische Gesundheit vieler in Gefahr sieht. 

Im Kapitel 266 Euro für einen Ehevertragsentwurf untersucht Mayr die Thematik schliesslich in Bezug auf das Thema Gender. Sie schreibt: "Es gibt Frauen, die hatten nie die Chance auf eine eigene Karriere, weil sie einfach Pech hatten, schlagende Väter, traumatisierende Erlebnisse, ungewollte Schwangerschaften, kranke Familienangehörige, Schwarzarbeit, Niederiglohnjobs. All diese Frauen brauchen Hilfe und finanzielle Sicherheit. Sie brauchen niemanden, der ihnen sagt, dass sie ihr Leben "einfach selbst in die Hand nehmen" sollen. Oder dass es ihr eigener Fehler war, nicht zu studieren, nichts Vernünftiges zu lernen. Ihre eigene Entscheidung, Kinder zu bekommen." Frauen sind häufig dieser Kritik ausgesetzt, obschon sie oftmals nichts für ihre Situation können. Zudem kommen sie oftmals in partnerschaftliche Beziehungsverhältnisse, aus welchen sie meist nur benachteiligt wieder hinaustreten. So sind die allermeisten alleinerziehenden Frauen - und oftmals haben sie für Mann und Kind eine Karriere geopfert und sich so in eine zukünftige finanzielle Schieflage gebracht. Wer hier die Frauen zu kritisieren versucht, muss sich bewusst sein, dass man niemanden, der nach Selbstverwirklichung, hier also der Familiengründung, strebt, dafür verurteilen sollte. Niemandem sollte das Glück, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, verwehrt werden, weswegen es konstruktive Lösungen braucht, um die weiterhin existierende und prägende Benachteiligung von Frauen aufzubrechen.

Laut Mayr müssen wir "[d]as Prinzip der Arbeitsteilung, das Prinzip der Erwerbsarbeit, die Macht des Geldes über Persönlichkeit, die Macht des Geldes über unsere Beziehungen" kritisieren und hinterfragen. Das Buch, das sie geschrieben hat, kann ein erster Anhaltspunkt für eine neue Diskussion sein, denn ihm gelingt etwas Wichtiges: Selbstreflexion. Mayr analysiert schonungslos ihren eigenen Umgang mit Geld, und ist ehrlich mit sich selbst - was für ein Neudenken unumgänglich ist. Schliesslich lässt sich zusammenfassen: Geld spielt keine Rolle ist vordergründig ein Buch über Geld - hintergründig jedoch ein Text über Ungerechtigkeit und eine Einladung, soziale Strukturen neuzudenken und sich selbst zu hinterfragen. Wofür möchte ich Geld ausgeben? Wie verdiene ich mein Geld? Gewinne ich, oder verliere ich? Es lädt zudem ein, Kritik, wie sie oft in gesellschaftlichen Diskursen ausgeübt wird, nicht an die Betroffenen zu richten, sondern in erster Linie an das System und die, die sich daran bereichern.

Das Credo der kapitalistischen Gesellschaft lautet nach wie vor "It's all about the money" - nach der Lektüre des Buches lässt sich nur hoffen, dass im Kleinen Veränderungen kommen werden, und dass die Verlierer:innen des aktuellen Systems, einst die Gewinner:innen einer gerechteren Zukunft sein werden.

Rezension von Jonas Rippstein

Anna Mayr: Geld spielt keine Rolle, Hanser 2023.  

 

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