Reemtsma-Biografie über Wieland: „Ich weiß recht gut, dass ich Etwas bin“
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Reemtsma-Biografie über Wieland: „Ich weiß recht gut, dass ich Etwas bin“

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„Der Himmel verhüte, dass ich von irgendeinem denkenden Wesen verlange, mit mir überein zu stimmen“, schreibt Wieland.
„Der Himmel verhüte, dass ich von irgendeinem denkenden Wesen verlange, mit mir überein zu stimmen“, schreibt Wieland. © Imago

Reimen wie ein Zauberkünstler, nie aufhören mit dem Denken und Fortschreiten – zu Jan Philipp Reemtsmas staunenswerter Biografie über den großen Christoph Martin Wieland.

Christoph Martin Wieland – atemberaubend ist die Diskrepanz zwischen Ansehen und Ruhm des Schriftstellers zu seinen Lebzeiten und in unserer Gegenwart. Nicht nur war Wieland der Begründer der „Weimarer Klassik“ um Goethe, Schiller, Herder und andere mehr in der kleinen Residenzstadt an der Ilm. Auch hat er der deutschen Literatur den Weg in die Moderne geebnet. Wielands „singuläres“ Werk „wieder lesen zu lernen“, das ist das ambitionierte Ziel der Biografie von Jan Philipp Reemtsma. Der für den Sachbuch-Preis der Leipziger Buchmesse nominierte Titel ist eine in mancherlei Hinsicht staunenswerte Veröffentlichung.

Christoph Martin Wieland wurde am 5. September 1733 in Oberholzheim bei Biberach geboren, einem – so seine Worte – „an der Sonne modernden stinckenden Reichsstädtchen“, in dem „travestierte Hottentotten“ lebten, „die mir noch Ehre anzuthun glauben, wenn sie mich für ihres gleichen halten“. Aber die schwäbische Küche schätzte er doch sehr. Und in Weimar, wohin er 1772 gezogen war, ist er am 20. Januar 1813 gestorben. Dazwischen? Nichts als Dichtung und Wahrheit.

Wieland selbst wusste, was er von sich zu halten hatte. Im Jahre 1808 schreibt er, dem Eitelkeit nicht fremd gewesen sein soll, in einem Brief: „Ich weiß recht gut, dass ich Etwas bin, und, unter uns gesagt, ich bin sogar überzeugt, dass ich, da wo ich stehe, ganz allein stehe und Niemand unter den Völkern mit mir ist noch war.“ Damit zielt er allerdings „nur“ auf seine Rolle als Wegbereiter. Denn sogleich fügt er an, worin ihm andere über sind: „In dem Sinn worin Shakespeare, Klopstock, Goethe, Schiller Dichter, und Dichter von der ersten Größe, sind, kommt mir dieser Name keineswegs zu.“

Trotz dieser Selbstbescheidung: Er war ein Großer. Die moderne deutsche Literatur wurde von zwei Autoren erfunden, schreibt Reemtsma, nämlich von Gotthold Ephraim Lessing und eben von Wieland. Dessen Name stehe für den Roman, für Versroman und Verserzählung, für die deutschsprachige Oper (mit dem Libretto zur „Alceste“), den politischen Journalismus (in seiner Zeitschrift „Der Teutsche Merkur“) und die Übersetzungen von Shakespeare, Horaz, Cicero oder dem „unübersetzlichen“ Aristophanes.

Wielands Shakespeare-Ausgaben seien wesentlich für die Modernisierung der deutschen Literatur gewesen, merkt Reemtsma an. Die Werke des Engländers imponierten und inspirierten dadurch, dass sie keinem Regelkanon folgten und eine neue Tiefe der Weltdurchdringung erreichten. Wieland führte in seinen Übertragungen zahlreiche Begriffe ein, die uns heute geläufig sind – von „Abschied nehmen“ bis „Wortbrecher“. Nach Reemtsmas Berechnung hat Wieland an den Shakespeare-Übersetzungen mehr verdient als an seinen eigenen Werken. Wieland habe gezeigt, dass sich das Deutsche entgegen landläufiger Meinung durchaus für die Poesie eigne. Es musste nicht immer Französisch oder Italienisch sein. Reemtsma meint, Wieland habe Verse gereimt „wie ein Zauberkünstler“.

Von den vielen Wieland-Werken ist ausführlich die Rede. Weniges bleibt unbeleuchtet. Den ersten Schwerpunkt der frühen Jahre bilden die „Komischen Erzählungen“, über die es heißt, sie seien „heiter erzählt“. Jedoch: „Uns skandalisieren die Pikanterien der Geschichten nicht mehr.“ Dann gleich danach die „Geschichte des Agathon“ (1766/67). Lessing hielt das Werk für den „ersten Roman für Leser von klassischem Geschmack“. Reemtsma sieht es ähnlich: Mit dem „Agathon“, sagt er, „beginnt in Deutschland der Roman eine allgemein anerkannte literarische Gattung zu sein“.

Das große Spätwerk ist der Briefroman „Aristipp und einige seiner Zeitgenossen“. Nach Reemtsmas Ansicht – dies für alle, die einen Lese-Einstieg suchen – handelt es sich dabei um das Hauptwerk (und nicht der „Oberon“, der einst als Spitzentitel galt). Der Biograf fragt recht euphorisch: „Wann hat je ein Roman so entspannt begonnen?“

Staunend nimmt man den Reichtum des Wieland’schen Werks zur Kenntnis. Aber ebenso die potzblitzende Eigenart seines Schöpfers. Jan Philipp Reemtsma spricht von einem „undramatischen Leben“. Tatsächlich? Es kommt wie immer auf den Maßstab an.

Was da an Stoffen und Stationen geboten wird, vom jugendlichen Ringen um eine Fixierung im Leben bis zur spätzeitlichen Begegnung mit Napoleon, dem damals mächtigsten Herrscher Europas, ist schon aller Ehren wert. Zwischendrin war Wieland Prinzenerzieher in Weimar, Vater von 14 Kindern (von denen fünf frühzeitig starben), zeitweiliger Gutsbesitzer in Oßmannstedt und Gesprächspartner von Goethe: „Sie konnten einander nicht recht fassen, nicht verehrend beiseite stellen, nicht schlankweg abtun.“

Das Buch

Jan Philipp Reemtsma: Christoph Martin Wieland. Die Erfindung der modernen deutschen Literatur. Beck, München 2023. 704 S., 38 Euro.

Ein breites Panorama ist zu besichtigen. Von der Pocken-Impfung – Wieland ist im Zweifel dafür – bis zum Plädoyer für die Pressefreiheit. Sein Bekenntnis zum freien Diskurs war nachweislich nicht nur ein Lippenbekenntnis. Es sind goldene Worte: „Der Himmel verhüte, dass ich von irgendeinem denkenden Wesen verlange, mit mir überein zu stimmen, wenn er von der Richtigkeit meiner Behauptungen oder Meinungen nicht überzeugt ist; oder dass ich jemals fähig werde, jemandem meinen Beifall deswegen zu versagen, weil er nicht immer meiner Meinung ist!“

Der Biograf verweist einige Male auf die Forschungen seiner Vorgänger, auf Johann Gottfried Grubers „C. M. Wielands Leben“ von 1827 und Friedrich Sengles „Wieland“ von 1949. Und mehrfach zitiert er Arno Schmidt, dessen Werke er verehrt und deren Pflege er betreibt. Schmidt entschied sich für Versalien: „Unter uns Deutschen hat Keiner so tief über die große Prosaform nachgedacht, Keiner so kühn damit experimentiert, Keiner so nachdenkliche Muster aufgestellt, wie Christoph Martin Wieland.“

Aber es steht außer Frage, dass Reemtsma einen ganz eigenen Zugang zum Werk sucht und findet. Er pflügt mit Akribie durch die Schriften, ja, zuweilen wünschte man sich, er würde die eine oder andere Erkundung abkürzen, damit im Wust der Details das große Ganze nicht verloren geht. Doch zugleich versteht man den Antrieb des Liebhabers, möglichst viele Preziosen aufzuzeigen.

Es ist ein eindrucksvolles Buch. Nicht zuletzt stilistisch. Reemtsma formuliert mal launig, mal gelehrt, mal betulich, mal flüssig. Auch mal kreuz und quer austreibend, so dass er sehr viel mehr als einmal auf Formulierungen zurückgreift wie „doch dazu später“ beziehungsweise „wir gehen zurück“. Man könnte eine poetische Sammlung anlegen mit den einschlägigen Formulierungen. Aber wir sind ja nicht Ror Wolf.

Nicht gar so üppig geriete ein Brevier mit den lateinischen Vokabeln, die den Text garnieren. Dennoch ist deutlich, dass Reemtsma von der Lateinliebe seines Protagonisten inspiriert ist, der sich dieser schon im Alter von vier Jahren hingegeben hat. Ein „nota bene“ oder ein „sive“ fällt vielfach auf. Zahlreiche Unikate kommen hinzu: „Wer die Briefe, die diese Liebe dokumentieren, liest, wird seine Beteuerungen überspannt finden, aber cave!“

Eigenwillig ist vieles. Vokabeln wie „oblatenhaft“ und „Hahn-im-Korb-schaft“ sind es. Auch saloppe Wendungen wie „Bertolt Brecht schreibt irgendwo“ und „Man kennt das (wenn man es kennt)“. Zudem die gelegentliche Ansprache an die „Leserin“ (unter Verzicht auf den „Leser“). Ebenso Verweise auf Johannes Mario Simmel und Friedrich Torberg, auf Quizmaster und Beatles, Humanistisches Gymnasium und Illustrierten-Horoskope – alles Phänomene aus der alten Bundesrepublik, aus den 1960er und 1970er Jahren.

Erfrischend ist Reemtsmas Neigung zur klaren Positionierung. Im Negativen wie im Positiven. Das Liebeswerben des jugendlichen Wieland um seine drei Jahre ältere Cousine Sophie Gutermann, die spätere Schriftstellerin Sophie von La Roche, hält er für derart befremdlich, „dass man sagen möchte: Er ist nicht ganz bei Trost“. Und zu einer Passage im Roman „Don Sylvio“ stellt er alternativlos fest: „Wen so etwas nicht entzückt, dem ist nicht zu helfen.“

Sinnlos, es zu leugnen: Je länger, je lieber überlassen wir uns diesem ganz und gar nicht zeitgemäßen Ton. Bald schon stolpert man allenfalls noch über einen Satz wie diesen: „Die Idee, Moralphilosophie als etwas zu präsentieren, das über Grund-Sätze und Ableitungen seine Triftigkeit ausweist, ist Wieland contra intellectum et contre coeur.“ Fest steht: Wielands „konsequente Arbeit an der Modernisierung der deutschen Sprache“ findet bei Reemtsma keine Fortschreibung.

Nicht auf dem Cover, aber auf dem Deckblatt der Biografie wird die Zusammenarbeit mit Fanny Esterházy erwähnt. Die Arno-Schmidt-Expertin hat im vergangenen Jahr das Buch „Wielandgut Oßmannstedt“ im Deutschen Kunstverlag veröffentlicht. Anlass dafür war die neue Dauerausstellung, um die sich wiederum Jan Philipp Reemtsma als Fachmann und Mäzen verdient gemacht hat. Nun setzt er Christoph Martin Wieland ein weiteres würdiges Denkmal. Ob diese Biografie eine kleine Wieland-Renaissance auslösen kann, wird sich weisen. Aber um eine Großtat handelt es sich allemal.

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