Genau um 22.04 Uhr knallen die Schüsse. Zweimal schießt ein irgendwie düster wirkender Mittdreißiger in schwarzer Lederjacke aus seinem Revolver auf den drahtigen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, und teuflischerweise ist die Waffe mit spezieller Munition geladen, die Jäger benutzten, um verletztem Wild den Fangschuss zu geben – genau wie die völkerrechtlich verbotenen Dumdum-Geschosse reißen sie besonders große Wunden.
Es ist der 12. Oktober 1990, und der CDU-Spitzenpolitiker Schäuble ist zu einem Wahlkampftermin in das Gasthaus der Brauerei Bruder im badischen Oppenau gekommen, seinem Heimatwahlkreis. Anderthalb Stunden hat der Hoffnungsträger der CDU und inoffizelle „Kronprinz“ von Bundeskanzler Helmut Kohl geredet, der zuletzt den Vertrag mit der einzig demokratisch legitimierten DDR-Regierung zustande gebracht hat, die Voraussetzung für die Wiedervereinigung am 3. Oktober.
Dann will sich Schäuble auf den Weg machen. Umringt von Menschen geht er zum Ausgang des Gasthauses, doch dort kommt er nicht an. Denn der 36-jährige Dieter Kaufmann, der Mann in der schwarzen Lederjacke drängt sich vor zu ihm. Schäubles Leibwächter reagieren zu spät. In Kiefer und Rückenmark getroffen, bricht der Innenminister zusammen – genau unter einem Plakat, das seinen Besuch angekündigt hat. Der Täter wird niedergerungen und festgenommen, doch dabei schießt er noch ein drittes Mal und verletzt einen Beamten.
Das Opfer wird umgehend in die Universitätsklinik Freiburg gebracht, wo mehrere Ärzteteams in der Nacht vom 12. auf den 13. Oktober 1990 sein Leben retten können. Allerdings wird Schäuble querschnittsgelähmt bleiben. Währenddessen macht der Täter bei der Polizei erste Aussagen. „Erschreckend nüchtern“ äußert sich Kaufmann, so ein Vernehmer.
Um so irrer ist der Inhalt des Geständnisses. „Der Staat“ setze die Bürger „elektrischen Wellen“ und „Lauttechnik“ aus, um sie zu foltern. Vorsätzlich fügten geheime Beauftragte „des Staates“ ganz normalen Menschen „elektrolytisch erhebliche Schmerzen“ zu, unter anderem „im Zwölffingerdarm und im Kopf“. Auch ihn habe „der Staat“, sagt der Attentäter aus, „sexuell zu erregen“ versucht.
Vor solchen Wahnideen kapitulieren die Vernehmer: Kaufmann wird zwar angeklagt, aber wegen erwiesener Schuldunfähigkeit auf unbegrenzte Zeit in die Psychiatrie eingewiesen. 2004 kommt er frei, bleibt aber dauerhaft in Behandlung und stirbt 2019.
Wolfgang Schäuble entscheidet sich, nach seiner Genesung die politische Arbeit fortzusetzen. Sie hatte schon bisher sein Leben geprägt. Geboren 1942 in Baden, studierte er Jura und wurde Finanzbeamter im Land Baden-Württemberg. Von dieser Tätigkeit war er allerdings 35 Jahre lang beurlaubt, denn schon 1972 zog er zum ersten Mal in den Bundestag ein und profilierte sich in der Opposition, ohne aber der breiten Öffentlichkeit bekannt zu werden.
1981 wurde er Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion, Ende 1984 wechselte er als Kanzleramtschef in die Bundesregierung; seine besondere Aufgabe war die innerdeutsche Politik. Nach knapp fünf Jahren wechselte Schäuble im Zuge einer Kabinettsumbildung ins Innenministerium, in das er schon einige Wochen nach dem überlebten Attentat zurückkehrte. 1991 wurde er Fraktionsvorsitzender, 1998 nach der Wahlniederlage von Helmut Kohl dessen Nachfolger als CDU-Vorsitzender.
Schon ein gutes Jahr später löste ihn seine eigene Generalsekretärin Angela Merkel ab. Trotzdem stellte sich Schäuble seit 2005 als Innenminister der Kanzlerin Merkel zur Verfügung, ab 2009 für acht Jahre lang als Finanzminister. 2017 wurde er, im Alter von 75 Jahren und als dienstältester Abgeordneter, Präsident des Bundestags. Bei der Wahl 2021 verteidigte er seinen Wahlkreis zwar, doch weil die CDU/CSU hinter die SPD zurückfiel, wird er sicher nicht erneut Parlamentspräsident. Im November 2022 wird er trotzdem einen einzigartigen Rekord feiern können – 50 Jahre als Parlamentarier hat in der Bundesrepublik außer ihm noch niemand geschafft.
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