Aus dem Gedächtnis: Herta Haas zum 100. - WELT
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Herta Haas zum 100.

Am 10. Januar 1915 gegen drei Uhr nahm der kleine Frankfurter Verlagskaufmann Emil Doctor seine Tochter Herta an der Hand und ging mit ihr zum Opernhaus. Dort wurde um halb vier "Schneewittchen und die sieben Zwerge" gegeben, genau das Richtige für die Siebenjährige. Es war eine "Vorstellung zu ermäßigten Preisen", Emil Doctor hatte nur wenig Geld. Vielleicht ahnte er, dass er mit dem Besuch dieses Märchens eine lebenslange Kulturbegeisterung entfachen würde. Jedenfalls notierte er auf dem Programmzettel: "Hertas erster Theaterbesuch". Seine Tochter hat das vergilbte Papier bis zum Ende ihres Lebens im Mai dieses Jahres aufbewahrt.

Es war ein langes, fast hundertjähriges Leben, durch das sich Herta Haas immer wieder mit eisernem Willen und großer Disziplin beißen sollte. Ein Leben, das erst im Alter ein wenig leichter wurde. Gegen den Willen des Vaters begann Herta Doctor nach dem Abitur ein Studium. Geschichte und Romanistik, immer unter dem Druck, von den Studiengebühren befreit zu werden. Im Sommersemester 1934 schloss sie mit einer Doktorarbeit über die "franco-russischen Beziehungen" ab.

Ihre Hoffnungen auf eine Stelle als Bibliothekarin zerschlugen sich schnell. Als Jüdin hatte sie keine Chance im Dritten Reich. Noch 1934 kehrte sie Deutschland den Rücken, arbeitete in Oberitalien als Kindermädchen und Sprachlehrerin. 1939 musste sie dann aus dem faschistischen Italien fliehen. Die Emigrantin ging nach Großbritannien, schuftete zunächst als Hilfskrankenschwester, später bearbeitete sie die Auslandsbestellungen der Buchhandlung "Blackwell" in Oxford. Besonders ausgefallene Wünsche bekam sie dort von einem Soldaten der britisch-indischen Armee aus Dehra-Dun, einem Ort am Fuße des Himalajas. Herta Doctor freute sich über die langen Bücherlisten von Willy Haas. Dieser Mann hatte ganz ähnliche kulturelle und literarische Interessen wie sie! Aus den Bestellungen entwickelte sich eine Brieffreundschaft. Herta Doctor erfuhr, dass Willy Haas in der Weimarer Republik ein gefeierter Filmkritiker und der Herausgeber der "Literarischen Welt" gewesen war - bis man den "Juden Willy Haas" wie sie selbst aus Deutschland verjagt hatte. Obwohl sie einander nur von diesen Briefen her kannten, beschlossen sie zu heiraten.

Am 13. März 1947 holte sie ihn vom Überseedampfer aus Indien ab. Doch aus dem gemeinsamen Leben in England wurde nichts. Ihr Mann ging bald als britischer "Controller" nach Deutschland zurück, half dort beim Wiederaufbau einer demokratischen Presse. Anfangs wehrte sie sich, wieder unter den Menschen zu leben, die sie aus dem Land gejagt und ihre Eltern in Theresienstadt ermordet hatten. Doch 1954 fügte sie sich und folgte ihrem Mann.

Während er zur Edelfeder der "Welt" und der "Welt am Sonntag" aufstieg, stand sie im Schatten ihres gewiss nicht einfachen Ehemannes. Für die Rolle als "Heimchen am Herd" war sie sich aber zu schade. Bienenfleißig machte sich als Übersetzerin der Werke von Bernard Malamud und Henry James einen Namen.

Nach dem Tod ihres Mannes 1973 dachte sie nicht daran, sich still aufs Altenteil zurückzuziehen. Herta Haas reiste mit dem Auto allein durch Europa, durchquerte die USA mit Greyhound-Bussen und erkundete Indien auf eigene Faust.

1998 half sie bei der Wiedergründung der "Literarischen Welt" als Literaturbeilage der "Welt". Von Altersträgheit war bei ihr nichts zu spüren: Inmitten Hunderter Bücher plauderte sie mit Freunden in ihrer Hamburger Wohnung über Kunst und Kultur. Und mit Ausnahme der letzten zwei, drei Jahre gehörte die kleine Dame mit den schneeweißen Haaren zum Stammpublikum jeder wichtigen Theaterinszenierung in Hamburg. Emil Doctor wäre stolz auf seine Tochter gewesen.

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