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Leichtathletik Seoul 1988

Ben Johnson, das Bauernopfer in der Freakshow

Ben Johnson wurde in seiner Karriere mehrfach positiv getestet. Nur zwei der acht Finalisten von 1988 wurden nie näher mit Doping in Verbindung gebracht Ben Johnson wurde in seiner Karriere mehrfach positiv getestet. Nur zwei der acht Finalisten von 1988 wurden nie näher mit Doping in Verbindung gebracht
Ben Johnson wurde in seiner Karriere mehrfach positiv getestet. Nur zwei der acht Finalisten von 1988 wurden nie näher mit Doping in Verbindung gebracht
Quelle: Infografik Welt
Der olympische 100-Meter-Lauf vor 25 Jahren in Seoul gilt als dreckigstes Rennen der Geschichte. Ben Johnson wurde damals zum Bauernopfer - und die Glaubwürdigkeitskrise des Spitzensports begann.

Es gibt Tage und Ereignisse, die vermögen den Lauf der Dinge zu verändern. Sie verursachen eine Unwucht, sie bleiben haften im Gedächtnis nicht bloß der Chronisten. Sie sind wie ein dumpfer Schmerz, versteckt irgendwo im Hinterkopf, der dann einsetzt, wenn die Erinnerungen geweckt werden.

Der 24. September 1988 ist so ein Tag. Ein Foto genügt, und die Erinnerungen sind da. An die Olympischen Spiele von Seoul. An das 100-Meter-Finale. An einen Mann mit der Physiognomie eines Zuchtbullen auf zwei Beinen. An seinen irrwitzigen Vorsprung vor sieben anderen Männern. An einen Weltrekord. An all das Faszinierende am Sprint und all das Schlechte im globalen Sportbusiness. Es ist der Tag, zu dem die Frage gehört: Wo warst du, als Ben Johnson gedopt gewann?

Gerd Rubenbauer (65) weiß es genau: In der Kommentatorenkabine der ARD in Seoul. Er sprach damals den Livekommentar zum epischen Endlauf. 17 Worte in zehn Sekunden, denen keine drei Tage später die große Sprachlosigkeit folgte: „Ich konnte es nicht fassen. Johnson gedopt? Ich dachte: Das gibt es nicht, das kann alles nicht wahr sein.“

Natürlich hatte der Reporter leise Zweifel gehegt. Dieser Oberschenkelzuwachs. Dieser Oberkörper. Dieser rapide Muskelaufbau Johnsons in den Monaten zuvor – „ich war“, bekennt Rubenbauer heute, „ein bisschen zu naiv“.

Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen...

Mit diesem Empfinden ist er nicht allein. Naivität war weit verbreitet. Im besten Fall verpackt als Ahnungslosigkeit, im schlechteren Falle nach dem Drei-Affen-Prinzip: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.

Der britische Filmemacher Daniel Gordon ist Produzent der sehenswerten Dokumentation „9.79“. Seine Recherchen stimmten ihn nachdenklich. „Wenn wir heute zurückschauen, frage ich mich: Warum hat damals nie jemand wirklich hinterfragt, wie es möglich sein kann, dass einer eine solche Leistung vollbringt?“

Richard Pound (71) hat darauf eine Antwort. Der Kanadier erläutert: „Eine schrecklich große Zahl von Leuten hoffte, Ben Johnson würde Carl Lewis besiegen. Sie haben nicht so aufmerksam hingesehen, wie sie es hätten tun sollen. Wird der Ben Johnson von 1984 mit jenem von 1988 verglichen – das war ein anderer Mensch!“

„Ist jemand gestorben?“ „Nein, schlimmer!“

Vor 25 Jahren war Pound Vizepräsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). Eben jener Organisation also, die durch den Positivtest des populären Olympiasportlers in ein Dilemma geriet: Sollte sie den Weltstar tatsächlich aussortieren und einen Skandal managen müssen? Oder ließ sich der schöne Schein wahren?

Pound erinnert sich, wie der spanische IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch zwei Tage nach Johnsons sagenhaftem Lauf aufgeregt an die Tür seiner Seouler Hotelsuite klopfte. „Samaranch sagte: ‚Dick, es ist etwas Schreckliches passiert.‘ Ich antwortete: ‚Was? Ist jemand gestorben?‘ Er antwortete: ‚Schlimmer! Ben Johnson ist positiv getestet worden.‘“

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Bald verbreitete sich diese Meldung unaufhaltsam. Im BBC-Fernsehstudio zitterte Chefmoderator Des Lynam beinahe die Stimme: „Mir wird hier gerade ein Zettel hineingereicht. Und wenn das stimmt, ist das die dramatischste Geschichte dieser Olympischen Spiele – oder vielleicht aller Spiele überhaupt.“

„Ruiniert!“, prangt auf der Titelseite

In gewisser Weise behielt Lynam recht. „Ruiniert!“, prangte auf einer Sonderausgabe der US-Zeitschrift „Sports Illustrated“ („Skandal in Seoul“). Das „Time“-Magazin titelte: „Absturz vom Ruhm“. Und die Zeitung „Toronto Sun“ fragte auf ihrer Titelseite über „Kanadas Schande“ anklagend: „Warum, Ben?“

Jäh war dem Sportpublikum weltweit vor Augen geführt, was olympische Leichtathletik-Wettkämpfe wirklich waren: kein Wettstreit unter Einhaltung des Reinheitsgebots. Sondern Gladiatorenkämpfe, bloß ohne Löwen, in denen derjenige gewann, der seinen Dopingstoff rechtzeitig absetzte und nicht so dumm war, sich erwischen zu lassen.

Immer höher, immer schneller, immer weiter – immer weiter so? Diese Illusion zerplatzte am 27. September 1988. Und das Publikum reagierte mit Empörung. Vielleicht auch, weil es sich selbst entlarvt fühlte?

Heute weiß alle Welt längst, was damals gespielt wurde. Etwa dass Stoffe wie das Anabolikum Stanozolol Menschen statt Rennpferde zu Laufmaschinen machten. Oder dass skrupellose Pfuscher wie Johnsons Leibarzt Jamie Astaphan Heerscharen von Athleten flott spritzten.

„If you don’t take it, you won’t make it“

Als Motto galt, was Astaphan 1989 vor einem Untersuchungsausschuss aussagte: „If you don’t take it, you won’t make it.“ Wenn du nichts nimmst, wirst du es nicht schaffen.

„Erst der dumme Ben mit den Kinderaugen musste den Verfechtern der ewigen Höchstleistung klarmachen, dass irgendwann nur noch die Chemie hilft“, spottete im Oktober 1988 der „Spiegel“. Ungewollt wurde das Einwandererkind aus Jamaika zum Symbol für den moralisch verdorbenen Sportbetrüger an sich – hinter dem sich andere Doper wunderbar verschanzen konnten. In jenen Tagen begann die Glaubwürdigkeitskrise des Spitzensports.

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Wer mochte noch unvoreingenommen Carl Lewis’ Rekordleistungen bejubeln? Wer wollte Florence Griffith-Joyner mit ihrem „deutlich sichtbaren, wenn auch frisch rasierten Schnurrbart“ (dpa) abnehmen, ihre 10,49 Sekunden seien clean zustande gekommen?

Auch andere Olympiastarter hatten Stonozolol intus

Die aktuelle, viel diskutierte deutsche Dopingstudie illustriert ja hinlänglich, wie verkommen der Hochleistungssport bereits in den Jahrzehnten vor Seoul gewesen war. „Der Fall Ben Johnson ist keineswegs der größte Dopingfall der Sportgeschichte. Er wurde nur dazu hochstilisiert“, sagt der Molekularbiologe Werner Franke (73).

„Wie scheinheilig ist man in diesem Lande noch immer! Bei denselben Olympischen Spielen hatten dank des Freiburger Universitäts-Dopingarztes Georg Huber beispielsweise westdeutsche Bahnradfahrer – wie der damalige Bronzemedaillengewinner Robert Lechner bekannt hat – denselben Stoff drin wie Ben Johnson“, sagt Franke. „Selbst deutsche Leichtathletinnen wurden vor den Spielen 1988 mit Stanozolol und anderen androgenen Steroiden gedopt. Sie wurden virilisiert, vermännlicht!“

Dass Ben Johnson als einziger der acht 100-Meter-Finalisten erwischt wurde, fuchst ihn bis heute. „Ich war zur falschen Zeit am falschen Ort“, hat er einmal gesagt. Klarer Fall von: dumm gelaufen.

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