Kassels Ex-OB Hans Eichel: „Für die documenta sind Zensurversuche lebensgefährlich“
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Kassels Ex-OB Hans Eichel: „Für die documenta sind Zensurversuche lebensgefährlich“

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Der documenta seit jeher verbunden: 2012 führte Hans Eichel Besucher als „Worldly Companion“ über die documenta 13.
Der documenta seit jeher verbunden: 2012 führte Hans Eichel Besucher als „Worldly Companion“ über die documenta 13. © Uwe Zucchi dpa

Kassels Ex-Oberbürgermeister Hans Eichel sieht die Einzigartigkeit der documenta durch die Politik gefährdet. Eingriffe in die Meinungsfreiheit seien für die Kunstschau lebensgefährlich.

Kassel – Der ehemalige Kasseler Oberbürgermeister Hans Eichel (SPD) hat sich schon im documenta-Sommer 2022 immer wieder zu Wort gemeldet – zum Teil gemeinsam mit seinen Nachfolgern Wolfram Bremeier und Bertram Hilgen. Auch die derzeitige Lage der documenta lässt ihn nicht los. Wir haben mit Eichel gesprochen.

Herr Eichel, Hessens Kunstministerin Angela Dorn sagte am Wochenende, die documenta gehe durch „ein tiefes, dunkles Tal“. Wie groß ist ihre Sorge um die Kunstschau?

Die ist sehr groß. Wegnehmen kann sie uns zwar niemand, aber ihre Einzigartigkeit ist außerordentlich gefährdet. Sie könnte zurückfallen auf ein nationales Ereignis mit internationalen Künstlern. Das war sie am Anfang. Ich kann nur hoffen, dass wir das noch vermeiden können.

Ist es noch realistisch, dass die 16. documenta 2027 stattfindet?

Das müssen die beantworten, die über die documenta entscheiden. Es geht sehr viel Zeit verloren, weil der Findungsprozess für die künstlerische Leitung neu gestartet werden muss. Die documenta versteht sich seit der dX von Catherine David als Forum der globalen Kunstgemeinde. Für das Weltkunstereignis braucht es mindestens dreieinhalb Jahre Vorbereitung. Normalerweise hätte um den Jahreswechsel feststehen müssen, wer die documenta leitet. Das wird sich weit nach hinten verschieben.

Kasseler Ex-OB Eichel: „documenta fifteen hatte ein großes Kommunikationsproblem“

Welche Fehler sind bei der documenta gemacht worden?

Die documenta fifteen hatte ein großes Kommunikationsproblem. Sie hatte keinen überzeugenden Umgang mit den Antisemitismus-Vorwürfen und sie hat zu keiner Zeit ihre eigentlichen Themen – zum Beispiel Kollektive und Einzelkünstler, Kunst im Vollzug des täglichen Lebens, Kunst ohne kommerziellen Kunstmarkt, ein solidarisches Wirtschaftsmodell – mit nennenswerter Resonanz in die Debatte einführen können. Das wird ihr lange nachhängen. Das lag freilich nicht nur an ihr. Dann die politischen Eingriffe. Das Grundgesetz garantiert sehr weitreichend die Meinungsfreiheit, noch umfassender die Kunstfreiheit. Das ist die Konsequenz aus Nazi-Diktatur und Gleichschaltung des kulturellen Lebens im Dritten Reich. Das schützt auch die documenta, ist Grundlage der einzigartigen Stellung, die sie sich in über 60 Jahren in der globalen Kunstszene erworben hat.

Und die Kunstfreiheit sehen Sie in Gefahr?

Erstmals im vergangenen Jahr versuchten Gesellschafter und Aufsichtsrat – und dann gleich mehrfach – in die Kunstausstellung einzugreifen. Die Kunstszene begriff das als Zensurversuch, international reagiert man darauf sehr empfindlich. Das zeigen auch die Absagen der verbliebenen vier Mitglieder der Findungskommission. Für die documenta ist das lebensgefährlich.

Sie beziehen sich auf die zurückgetretenen Mitglieder der Findungskommission, die einen verengten Diskurs in Deutschland beklagen. Heißt das, dass man einfach etwas Antisemitismus zulassen muss, wie die Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff diese Begründung am Wochenende kritisierte?

Nein. Aber das Grundgesetz regelt sehr klar, wer entscheidet. Kunstfreiheit findet ihre Grenzen ausschließlich im deutschen Strafrecht. Darüber entscheiden nur Gerichte, nicht Kultusbürokraten, nicht Politiker und bei der documenta nicht die Geschäftsführer. So hatte ich auch Andreas Hoffmann verstanden. Was strafrechtlich relevant ist, wird verboten. Werke werden abgebaut, Verantwortliche strafrechtlich belangt. Solange etwas strafrechtlich nicht relevant ist, darf es gezeigt und gesagt werden. Das gilt für das gesamte kulturelle Leben in Deutschland. Alles, was auf der documenta fifteen zu sehen war, war durch die Kunstfreiheit gedeckt. Die Staatsanwaltschaft hat das geprüft und keine Verfahren eingeleitet.

Das Banner „People’s Justice“ von Taring Padi hätte nicht abgebaut werden müssen?

Das hat der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, in einem Vortrag hier in Kassel erklärt. Kampf gegen den Antisemitismus heißt hier nicht Verbot, sondern Aufklärung im Angesicht des Bildes, wie es Natan Sznaider vorgeschlagen hatte. Ich fand „People’s Justice“ auch nicht gut, wegen der antisemitischen Bildsprache in einem Teil des Banners, mir war es auch zu sehr Agitprop. Auch Kulturstaatsministerin Claudia Roth und Frau Dorn hatten das Recht zur Kritik, sie hatten aber kein Recht, einen Eingriff in die Ausstellung zu fordern. Ihre Aufgabe als für Kunst und Kultur verantwortliche Regierungsmitglieder ist doch zuallererst die Verteidigung der Kunstfreiheit. Ob sie das nicht einmal sagen und ihre Forderungen nach Eingriff in die Ausstellung öffentlich mit Bedauern zurücknehmen sollten? Das wäre auch ein wenig Wiedergutmachung für den Imageschaden, den sie der documenta unberechtigterweise zugefügt haben.

Eichel: „Ich bin auch ein Gegner der BDS-Kampagne“

Die aktuelle Debatte dreht sich auch um eine angebliche BDS-Nähe von Ranjit Hoskoté. Das zurückgetretene Mitglied der Findungskommission hat 2019 ein Statement der Israel-Boykott-Bewegung unterzeichnet. Bei der documenta will man jede Nähe zu BDS vermeiden.

Ich bin auch ein Gegner der BDS-Kampagne. Aber das Problem löst man nicht durch Verbote oder indem man selbst zu Boykotten übergeht. Die documenta-Gesellschafter beziehen sich hier auf einen Bundestagsbeschluss von 2019, der BDS als antisemitisch bezeichnet und alle Staatsebenen auffordert, weder Räume noch Geld für Veranstaltungen zur Verfügung zu stellen, auf denen BDS-nahe Personen auftreten. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags hat kurz darauf festgestellt, dass der Beschluss niemanden bindet, ein Gesetz auf seiner Grundlage wäre verfassungswidrig. So hat auch das Bundesverwaltungsgericht in einem Verfahren gegen die Stadt München geurteilt. BDS ist nicht per se antisemitisch, auch wenn es dort sicher Antisemiten gibt. Die grundgesetzlich garantierte Meinungsäußerungsfreiheit umfasst auch solche Ansichten.

In der internationalen Kunstwelt ist BDS-Nähe weit verbreitet. Wie kann man unter diesen Bedingungen noch Kuratoren finden, die sich bei der documenta einbringen?

Im internationalen Kunstbetrieb gibt es viel Sympathie für die Palästinenser bei ihrem Kampf um einen eigenen Staat, den auch das Völkerrecht ihnen zuspricht. Deshalb ist die Gefahr groß, dass das nicht gelingt. Und welche Künstler lassen sich unter diesen Bedingungen gewinnen? Sven Schoeller, der neue Aufsichtsratsvorsitzende der documenta gGmbH, hat betont, dass am Ende der Organisationsuntersuchung, die noch läuft, klar sein wird, dass die Kunstfreiheit uneingeschränkt gilt. Wir werden das Problem haben, das der Welt überhaupt noch glaubhaft zu machen. Dann darf es aber auch selbst im Konfliktfall kein Eingriffsrecht des Geschäftsführers in die Ausstellung geben und keine Eingriffsversuche der Gesellschafter und des Aufsichtsrats.

Inwiefern haben Sie Verständnis dafür, dass die Sensibilität bezüglich Antisemitismus nach dem 7. Oktober noch größer geworden ist? Viele Juden in Deutschland haben Angst.

Das sollte jeder verstehen. Unsere Aufgabe ist es, die Sicherheit jüdischen Lebens in Deutschland zu garantieren, eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber täglich neu unter Beweis zu stellen.

Schaut man sich den medialen Diskurs über die documenta an, stellt man fest: Sie vertreten eine Minderheitenmeinung.

Ich kenne keine Untersuchung, die das belegt. Aber ja: die Springer-Blätter, die FAZ, die Süddeutsche Zeitung und überwiegend auch die „Zeit“ vertreten oder vertraten eine ganz andere Position. Dagegen stehen die Kunstmagazine Art und Monopol, die Berliner Zeitung und die HNA.

Finden Sie es richtig, dass man die Analyse der Organisationsstrukturen abwartet, ehe das Findungsverfahren neu startet?

Das ist eine Entscheidung der verantwortlichen Gesellschafter. Die beiden anderen ehemaligen Aufsichtsratsvorsitzenden Bertram Hilgen und Wolfram Bremeier haben mit mir ein Eckpunktepapier entwickelt, das wir Ministerpräsident Boris Rhein und Oberbürgermeister Sven Schoeller geschickt haben. Darin schlagen wir vor, dass der Aufsichtsrat in seiner Zusammensetzung künftig die globale Ausrichtung der documenta widerspiegeln soll. Parallel zu sechs Vertretern von Stadt, Land und Bundeskulturstiftung sollen sechs renommierte Experten aus der globalen Kunstszene berufen werden. Die bisherigen politischen Vertreter sollen in die Gesellschafterversammlung wechseln. Und da es mittlerweile Stimmen gibt, die vorschlagen, die documenta aus Kassel abzuziehen, muss die Stadt ihre 50 Prozent Gesellschafteranteile in jedem Fall behalten als Garantie dafür, dass die documenta hier bleibt. Das sieht auch Oberbürgermeister Schoeller so.

Manche Stimmen glauben aber, Kassel sei zu provinziell für eine documenta.

Die „Süddeutsche Zeitung“ hat die Verantwortlichen in Kassel gerade als „Dorfdeppen“ hingestellt. Unter diesen „Dorfdeppen“ ist die documenta seit 1955 zum bedeutendsten Forum der Weltkunstgemeinde geworden, ohne irgendeinen ideellen Beitrag der Landes- oder der Bundespolitik. Nur die Bundeskulturstiftung hat im Aufsichtsrat wertvolle Hilfen formuliert. Aber ihre Vertreter Hortensia Völckers und Alexander Farenholtz kamen ja auch aus der documenta.

Was macht Ihnen gerade noch Hoffnung?

Ich bin ein leidenschaftlicher Anhänger der documenta mit ihrer globalen Ausrichtung. Darum sage ich hier nichts Negatives. Ich hoffe, dass alles noch gelingt. (Mark-Christian von Busse, Matthias Lohr)

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