HENZE, Hans Werner: DAS VERRATENE MEER

  • Hans Werner Henze (1926-2012):
    DAS VERRATENE MEER

    Musikdrama in zwei Akten

    Libretto von Hans Ulrich Treichel nach dem Roman „Gogo No Eiko“ (Der Seemann, der die See verriet) von Yukio Mishima

    Uraufführung am 5. Oktober 1990 in der Deutschen Oper Berlin.


    Personen der Handlung:
    Fusako Kiroda, eine junge Witwe und Inhaberin der Modeboutique „Rex“ (Sopran)

    Noburu, ihr dreizehnjähriger Sohn (Tenor)

    Ryuji Tsukazaki, zweiter Offizier auf dem Frachtschiff „Rakuyo-Maru“ (Bariton)

    Die Jugendbande, Freunde Noburus:

    Nummer Eins, der Anführer, (Bariton)

    Nummer Zwei (Tenor)

    Nummer Drei, Noburu (Tenor)

    Nummer Vier (Bariton)

    Nummer Fünf (Bass)

    Chor / Statisten: Seeleute, Arbeiter, Passanten, Gäste, Volk.


    Ort und Zeit: Yokohama, Japan. Gegenwart.


    Erster Akt. „Sommer“:

    Zunächst Grundsätzliches: Noburu ist Mitglied in einer Bande gewalttätiger Minderjähriger, die die „etablierte“ Gesellschaft hasst. Seine Mutter Fusako weiß davon und hat deswegen große Sorgen. Sie versucht immer wieder, ihren Sohn zum Guten zu beeinflussen.


    Mutter und Sohn kommen soeben aus dem Geschäft nach Hause. Fusako hat sich für den kommenden Tag eine besondere Attraktion ausgedacht: Mutter und Sohn werden ein Schiff besichtigen. Aber jetzt wird Noburu erst einmal in seinem Zimmer eingeschlossen – damit will Mutter Fusako verhindern, dass er sich noch am Abend mit den ihrer Meinung nach merkwürdigen Freunden trifft. Sie selber geht dann auch ins Bett und träumt offenen Auges von ihrer neuen Liebe, dem Seemann Tsukazaki, den sie schon bald zu heiraten gedenkt. Natürlich weiß sie nicht, dass ihr Sohn sie beim Ausziehen durch das Loch im Wandschrank beobachtet.


    Nachdem der Offizier Fusako und Noburu, dem alles mächtig imponiert, das Schiff gezeigt hat, ist der Junge sehr stolz auf ihn. Interessant sind auch die Fragen, die der Teenager dem Seemann stellt, sie beweisen Tsukazaki ein gewisses technisches Interesse des Jungen.


    Noburu wird in der Nacht durch sein Lünken durch das Guckloch im Wandschrank Zeuge, wie Tsukazaki mit seiner Mutter Sex hat; das kommt ihm wie ein Eroberungsfeldzug vor und er beginnt den Seemann als Helden zu verehren, Er erzählt seinen Freunden natürlich die Neuigkeiten über den Offizier, die allerdings von Tsukazaki nicht viel halten undin vor Noburu auch lächerlich machen. Sie behaupten sogar, Tsukazaki sei auch nicht anders als die übrigen Erwachsenen, die nur alles verbieten würden. Tsukazaki berichtet Noburu aus seinem Leben, das keineswegs immer heldenhaft abgelaufen ist. Trotzdem wünscht sich Noburu, für den Tsukazaki ein Held ist, dass er dem Meer, für die Jungen ein Sinnbild von Weite und Freiheit, treu bleibt. Aber es stellt sich heraus, dass dieser „Held“ lieber ständig an Land leben möchte, woran natürlich die Liebe zu Fusako eine gehörige Portion Mitschuld hat.


    Als Noburu durch Erzählungen seines Stiefvaters in spe hört, dass der Seemannsberuf nicht nur eitel Sonnenschein bedeutet, sondern harte Arbeit mit sich bringt, gerät Noburus Schwärmerei für Tsukazaki ins Wanken; es kommt ihm vor, wie ein Verrat am Meer.


    Die Jugendbande trifft sich im Park von Yokohama und ergeht sich in Gewaltphantasien. Dabei wird auch Tsukazaki, wie allen Erwachsenen, unterstellt, ein Weichei zu sein, dem die „angebetete“ Männlichkeit fehlt.


    In einer neuen Szene, die im Hafen von Yokohama spielt, dem beliebten Treffpunkt der Jugendgang, sehen die Jugendlichen, also auch Noburu, dass sich Fusako und Tsukazaki küssend voneinander verabschieden; Noburo hofft, dass der Seemann bei seiner Berufung bleibt, womit er ein Held in seines „Stiefsohnes“ Augen wäre. Dann aber wendet sich Noburu dem grausamen Ritual an einer Katze zu, wobei er sich besonders hervortut.


    Zweiter Akt. „Winter“:

    Tsukazaki macht am Neujahrsmorgen Fusako einen Heiratsantrag und erklärt, dass er in Zukunft nicht mehr zur See fahren will, sondern ihr helfen werde. Seine Ersparnisse will er in der Geschäft seiner geliebten Fusako stecken. Noburu berichtet darüber der Bande und gibt dabei zu, dass dieses Verhalten nicht seiner Vorstellung über einen Helden entspricht. Dennoch verteidigt er seinen „Stiefvater“ vor den Kumpels. Der Anführer der Jugendgang, die Nummer Eins, schlägt, indem er in das gleiche Horn tutet, vor, aus Tsukazaki wieder einen „Helden“ zu machen.


    In einer häuslichen Szene haben sich Ryuji ziemlich milde mit Noburu auf die Entdeckung des Gucklochs im Wandschrank gestritten. Außer einer Ermahnung ist weiter keine Strafe gegen den Jugendlichen festgesetzt worden. Das sorgt für Irritationen bei Noburu, der eine Strafe erwartet hatte.


    Tsukazaki hat sich inzwischen in den Beruf seiner zukünftigen Frau eingearbeitet und ist an Land heimisch geworden. Die Jugendgang sitzt über den Seemann zu Gericht, wobei Noburu des Denunzianten übernommen hat. Für den Verrat am Meer wird Tsukazaki zum Tode verurteilt. Davon ahnt Fusako, die ihrem Sohn später das Modegeschäft übergeben will, nichts. Noburu, dessen Bewunderung für Tsukazaki und seine Mutter in Hass und Verachtung umgeschlagen sind, lockt den ehemaligen Seemann zum Versammlungsort der Bande. Tsukazaki gibt zu, seinen Beruf aufgegeben zu haben. Dadurch ist er in den Augen der Burschen ein Verräter am Meer, ihrem Idol, geworden und wird von ihnen hinterrücks ermordet.


    Anmerkungen.
    Dass Henze, der sich immer politisch links positioniert hat, ausgerechnet einen Roman von Yukio Mishima als Vorlage für eine Oper benutzte, war seinerzeit ein Grund für eine interessante Diskussion. Der Romanschriftsteller, der sich spektakulär wie ein Samurai mit traditionellem Harakiri am 25. November 1970 selbst tötete, weil sein Versuch, mit Gleichgesinnten einen Staatsstreich herbeizuführen, um traditionell japanische Werte wieder in den politischen Alltag einzuführen, misslungen war, hat damals in Europa Verstörungen und Irritationen ausgelöst. Henze hat aber nicht die politische Richtung Mishimas fasziniert, auch nicht die Gewalttätigkeit der Figuren, sondern er war speziell am Ästhetizismus, mit dem die Gewalt dargestellt ist, interessiert. Dass Mishima oftmals auch faschistische Züge erkennen ließ, hat Henze entweder nicht gesehen oder verdrängt.


    Die hier inhaltlich vorgestellte Oper ist die erste Zusammenarbeit mit dem Lyriker Hans Ulrich Treichel, der das Libretto aus dem Roman selektiert hat. Dass Henze die Bezeichnung des Werkes als Musikdrama wählte, hat mit einem bewussten Bezug zu Richard Wagner zu tun, denn eine symphonische Form, wie sie in Wagners Tristan vorkommt, war für Henze ausschlaggebend, denn in Das verratene Meer waren die orchestralen Zwischenspiele wichtig.

    Die Klangsphären sind gegeneinander abgesetzt; so sind Fusako die Streicher zugewiesen, während Tsukazaki die Bläser, die Jugendgang aber, wie der Komponist selbst schrieb, mit „Klavierstundenmusik“ untermalt wurden.

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    MUSIKWANDERER