In unruhigen Zeiten: »Treibgut« von Julien Green - literaturcafe.de
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In unruhigen Zeiten: »Treibgut« von Julien Green

»Treibgut« von Julien Green

Stellen Sie sich vor, Sie spazieren eines Nachts in Paris an der Seine entlang, jemand wird bedroht und ruft um Hilfe. Sie gehen einfach weiter. Stichwort Zivilcourage. Diese fehlt Philippe Cléry, dem Protagonisten in »Treibgut«. Mit dieser Szene beginnt der Roman. Was Philippe beobachtet hat, lässt ihn im weiteren Verlauf der Geschichte nicht los.

Die Handlung schreitet langsam voran, und beim Erzählen gräbt der Autor tief. Man könnte auch von eingehenden Charakter- und Beziehungsstudien der drei erwachsenen Protagonisten Philippe, Henriette und Éliane sprechen. Dann gibt es am Rande noch das Kind von Philippe und Henriette, Robert – das Verhältnis zwischen Vater und Sohn ist am dynamischsten.

Die Geschichte spielt im gutbürgerlichen Milieu in Paris in den 1930er Jahren. Der gut situierte Philippe ist ängstlich und mit sich selbst beschäftigt, das Erlebnis der ersten Romanseiten lässt ihn Dinge hinterfragen. Seine Ehefrau Henriette kommt oberflächlich daher und ist gelangweilt von ihrem Leben. Éliane, Henriettes Schwester und Philippes Schwägerin, scheint instabil. Alle Protagonisten sind eitel, sie betrachten sich häufig genauestens im Spiegel. Man könnte sich die drei auch hundert Jahre später vorstellen: Als Kinder reicher Eltern, denen die Aufgabe im Leben fehlt. Sie würden sich sicherlich auf Instagram inszenieren.

Die 30er-Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts sind in die beiden Weltkriege eingeklemmt. Dennoch ist er Roman unpolitisch – bis auf das dunkle Gefühl, dass sich die Dinge bald ändern könnten. In unruhigen Zeiten befinden wir uns auch heute.

(Kitschige) Liebesromane, die in Paris spielen, gibt es zahlreiche. Julien Green beschreibt auch die dunklen Seiten der Hauptstadt. Die Seine könnte als Leitmotiv metaphorisch für die menschlichen Abgründe stehen.

Julien Greens Sprache ist bemerkenswert. Er beschreibt sowohl die Charaktere als auch die Orte unglaublich präzise. Als Stilmittel setzt er Vergleiche und Vermenschlichungen ein. All dies verdichtet die Stimmung.

»Treibgut« von Julien Green

Das Covermotiv ist eine Fotografie von Brassaï (1899 – 1984) aus den 1930er Jahren, auf dem man die Seine sieht, das Viadukt von Passy und im Hintergrund den Eiffelturm. Es wirkt düster und stimmt auf die Lektüre ein.

Julien Green wurde 1900 in Paris als Sohn US-amerikanischer Eltern geboren und starb 1998 in derselben Stadt. So kann man ihn auch im wahrsten Sinne des Wortes einen Jahrhundertautor nennen. Green zählt zu den bekanntesten französischen Autoren des 20. Jahrhunderts.

Sein Roman »Épaves«, auf Deutsch »Treibgut«, erschien erstmals 1932 auf Französisch. Nun hat der Hanser Verlag eine Neuübersetzung von Wolfgang Matz herausgegeben. Im Anhang des Romans finden sich zahlreiche minutiöse Anmerkungen zu Begriffen, Handlungsorten und den beiden vorhergehenden Übersetzungen auf Deutsch. Diese beweisen, dass Wolfgang Matz mit Julien Greens Werk vertraut ist und sich mit »Treibgut« genauestens befasst hat.

Der Klassiker »Treibgut« hat es verdient, auch nach fast 100 Jahren noch gelesen zu werden. Ebenso hatte das Original es verdient, von Green-Kenner Wolfgang Matz neu ins Deutsche übersetzt zu werden.

Julien Green; Wolfgang Matz (Übersetzung): Treibgut: Roman. Gebundene Ausgabe. 2024. Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG. ISBN/EAN: 9783446279513. 28,00 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
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