Schlüsselwörter

1 Einleitung

Was ist anarchistische Literatur? Ist es die, die anarchistische Personen, Schlüsselereignisse oder Idealvorstellungen zum Thema macht, ohne einen explizit anarchistischen Hintergrund der AutorInnen (Joseph Conrad, Maria Regina Jünemann, Horst Bienek, Dario Fo, Emeric Pressburger, Emanuel Litvinoff, Frank Harris, Max Aub), bis dahin, dass ein anarchistischer Klassiker wie „The Dispossesed“ von einer Autorin stammt, die sich nicht als Anarchistin bezeichnet (Ursula K. Le Guin)? Ist es die widerstands- oder rebellionsaffine Darstellung von Dandys, Landstreichern, Gaunern und Einzelgängern, die sich gesellschaftlich-kapitalistischen oder militärischen Zwängen entziehen oder sich ihnen widersetzen (Jack London, Albert Cossery, Nikos Kazantzakis, Joseph Heller, Arundhati Roy)? Oder ist es Literatur von nachweislich anarchistisch geprägten AutorInnen?

Ausschließlich um letztere soll es in diesem Abriss gehen. Aber dieser Fokus wirft nur weitere Fragen auf, nämlich danach, was überhaupt ‚Literatur‘ ist. Ist es das, was hochkulturell so definiert wird? Oder das, was, im Sinn von ‚Lesestoff‘, für LeserInnen produziert wird (und zwar, vor anarchistischem Hintergrund, u. a. auch mit einer stark subkulturell ausgerichteten Verneinung von ‚Autorschaft‘)? Ist es das, was gar anonym in Kollektivautorschaft entsteht? Und ggf. gewollt jenseits der Verwertungswege des kapitalistischen Verlagsbetriebs? Und wie wäre das Verhältnis von anarchistisch geprägter Literatur zur ‚Literatur‘ praktisch tätiger anarchistischer AktivistInnen (zu all diesen Fragen: Killjoy 2009; Jeppesen 2011; Shantz 2011, S. 107–119)?Ein Antwortversuch: Es gibt keine anarchistische Literatur, allenfalls anarchistisch geprägte Literatur (von AutorInnen mit anarchistischem Hintergrund). Insofern steht sie jenseits ideologischer Zuordnungen, aber nicht jenseits weltanschaulicher oder ideologischer Prägungen, und in diesem Schnittfeld bewegt sich jede Literaturanalyse.

2 Themen

In anarchistisch geprägter Literatur spiegeln sich Themen, die in der anarchistischen Bewegung oder bei Individualanarchisten in wechselnden Konstellationen relevant waren: kämpferischer sozialistischer Anarchismus (Alexander Herzen); utopischer Anarchismus um die Wende vom 19./20. Jahrhundert (John William Lloyd, Han Ryner); gewalt- und attentatsaffiner Anarchismus (Isabel Meredith, d.i. Olivia und Helen Rossetti); organisierter Diebstahlsanarchismus (Alexandre Marius Jacob); Pazifismus (Lew Nikolajewitsch Tolstoi); Antimilitarismus (Stig Dagerman); Anarcho-Syndikalismus (Émile Pataud/Émile Pouget); spanischer Bürgerkrieg (Antonio Agraz, José García Pradas, Félix Paredes); Ökologie (Edward Abbey); Spiritualität (Miriam Simos); Sexualität (Lois Waisbrooker, Alex Comfort); Utopie/Dystopie (Michael Moorcock); Anarchokapitalismus (Ayn Rand); Rückzug von der Welt (Henry David Thoreau); individuelle Selbstbewusstwerdung und Selbstfindung (John Henry Mackay, Eugene O’Neill). All das geschieht, wie es angesichts anarchistischer Strömungen und Ansätze nicht anders zu erwarten ist, auf vielfältige Weise: individual- oder gemeinschaftsanarchistisch; reform- oder revolutionsorientiert; agrarisch, industriell-modern oder nachmodern fokussiert; natur- oder gesellschaftsbezogen; hegemonial maskulin oder feministisch; in eurozentrischer oder globaler Perspektive usw.

3 Literarische Epochen

Auch in den Epochen vor 1800, in denen weder ein positiver Begriff von ‚Anarchie‘ noch der Begriff ‚Anarchismus‘ verfügbar waren, zeigten sich anarchistisch-literarische Tendenzen. So hat schon der Renaissanceautor François Rabelais im Rahmen seines Romans Gargantua et Pantagruel (1532–64) die Abtei Thelema als Ort ohne Gesetze, Regeln und Statuten gezeichnet, vereint unter dem Wahlspruch: „Tu, was dir gefällt“. François Fénelon hingegen zeigt in Les Aventures de Télémaque, fils d’Ulysse (1699) eine Doppelutopie: einerseits eine anarchistische (das abgeschiedene imaginäre Land Bátika), andererseits eine tendenziell archistische (das Reich Salento). Zu erwähnen ist auch das 1753 erschienene epische Poem Basiliade Étienne-Gabriel Morellys, das vor aufklärerischem Hintergrund die anarchische Utopie eines staatsfreien Kommunismus entwarf (sein Nachfolgewerk Code de la Nature aus dem Jahr 1755 war hingegen archistisch, nicht anarchistisch angelegt). Mit William Godwins The Adventures of Caleb Williams (1794) liegt ein anarchistisch geprägter Roman der englischsprachigen Aufklärung vor (Godwin als früher ‚klassischer‘ Anarchist; Schäffner 1997). Seit der Romantik erschienen dann in jeder literarischen Epoche und Strömung der Moderne anarchistisch geprägte Werke, bis hin zur Postmoderne und zur Gegenwart.

4 Literarische Gattungen

Anarchistisch geprägte Literatur findet sich sowohl in literarischen Groß- wie Kleingattungen. Eine Vielzahl von Kleinformen findet sich in anarchistischen Periodika (Motti, Glossen, Anekdoten); es gibt Plakate und parodistische Anti-Plakate (Jaroslav Hašek); Kinderbücher (Erich Mühsam); Reportagen (Ángel Pestaña, Augustin Souchy, Horst Stowasser); Lieder (Joseph Déjacque, Pietro Gori, Herbert Read); Lyrik (Laurent Tailhade, Voltairine de Cleyre, David Edelstadt); Kalendergeschichten (Erich Mühsam); Aphorismen (Gregor Gog); Comicstrips (Alan Moore); Erzählungen/Novellen (Ba Jin); Romantrilogien (Jules Vallès); Gegenwartsromane (Ramón J. Sender); historische Romane (Hans Widmer bzw. P. M.); utopische Romane (William Morris); Schundromane bzw. parodistische Schundromane (Stewart Home); Dramen (Louise Michel); private bzw. öffentliche Tagebücher (Erich Mühsam, Arthur Lehning); Biografien (Abel Paz); Autobiografien (und zwar nicht selten im Format einer politischen Bekenntnisschrift, angefangen mit Pierre-Joseph Proudhon).

5 Globale Perspektiven

Anarchistisch geprägte Literatur zeigt sich – ein grundlegendes Forschungsdesiderat – selbstredend auch in literarischen Kulturen jenseits Europas und Nordamerikas (wofür heute zumeist die Chiffre ‚postkolonial‘ steht). Folgt man der Diagnose der Historikerin Maia Ramnath (2011), verhält sich postkoloniale Literatur dem ‚westlichen‘ Anarchismus gegenüber, auch wenn sie ihn produktiv rezipiert und bestimmte seiner Prämissen übernimmt, letztlich distanziert. Diesem als ‚klassisch‘ apostrophierten Anarchismus (oder Anarchismus mit dem ‚großen A‘) steht, so Ramnath, ein Anarchismus des ‚kleinen A‘ gegenüber (oder, anders gesagt, ein Anarchismus ohne „Ismus“). Dieser ist realistisch, situativ, flexibel, divers und kooperativ; er kann genderbezogene, ökologische, antimilitärische, antikapitalistische und antinationalistische Aspekte gleichermaßen umfassen. In dem Zusammenhang weist sie (auch Anarchismus ist zu ‚dekolonialisieren‘) westlich-kulturimperialistische Tendenzen zurück und favorisiert anarchismusaffine Entwürfe jenseits ‚klassischer‘ Anarchismen. Als Beispiele für eine solche Literatur stehen z. B. die Werke des nigerianischen Schriftstellers Wole Soyinka (Shantz 2011, S. 75–86).

6 Deutschsprachiger Raum: Frühaufklärung und Aufklärung

Die Unterscheidung von Publizistik und Literatur einmal dahin gestellt: Versuche, Autoren aus dem Umfeld des deutschen Bauernkriegs anarchoide oder anarchistische Tendenzen beizulegen, sind grundsätzlich verfehlt. Und in der Frühaufklärung gibt es bei Matthias Knutzen zwar die entschiedene atheistische und anti-etatistische Ablehnung jeder kirchlichen und weltlichen Herrschaft (Ein Gespräch, 1674); seine dialogischen Texte sind aber eher einem philosophisch-wissenschaftlichen als einem literarischen Diskurs zuzuordnen.

Zu betonen ist allerdings, dass diese deutliche Scheidung von Literatur und Wissenschaft für die Aufklärung so gar nicht zu treffen ist, und in diesem Mischfeld von Literatur, Publizistik und Wissenschaft bewegte sich auch ein Aufklärer wie Gotthold Ephraim Lessing. Seine Schrift Ernst und Falk (1778) polemisierte nicht nur gegen absolutistische Herrschaft (so die herkömmliche Lesart). Vielmehr war sie, ausgehend von einem humanistisch-freimaurerischen Ideal universaler Menschenverbrüderung, gegen jede staatliche Herrschaft gerichtet. Staaten und Staat seien nur vorübergehende dürftige Mittel, nie Zweck. Denn sie würden, auch mit den besten Verfassungen, Menschen nie vereinigen, ohne sie zu trennen. Aber eine Alternative wäre möglich, und Lessing kleidet sie in eine kleine Fabel – die Ameisenfabel. Niemand würde diese Tierchen zusammenhalten und regieren, Ordnung könne ausdrücklich auch ohne Regierung bestehen.

Das waren keine Vorstellungen eines Außenseiters. Lessing war Vorbild der „Illuminaten“. Ihr Wortführer Adam Weishaupt ging davon aus, dass die kommende universelle Menschheitsbefreiung sich auf Basis sittlicher Lebensführung und allgemeiner Brüderlichkeit vollziehe. In dieser Perspektive wäre Staat nicht nur der Tendenz nach hinfällig – wie bei Lessing –, sondern müsste und würde durch Aufklärung gänzlich beseitigt werden. Vor allem Die neuesten Arbeiten des Spartacus und Philo (1793) bekräftigte dieses Programm und hob als wichtigste Prämisse des Naturrechts hervor: Der Mensch ist von Natur aus grundsätzlich gut und vernünftig. Ließe man nur der Natur ihren Lauf, würde Vernunft die Menschen von selbst zusammenführen, ohne staatliche und andere Regulierungen (vgl. auch Weishaupts Pythagoras, 1790). Jakobinische bzw. nachjakobinische Publizisten wie Adolph Freiherr von Knigge und Georg Friedrich Rebmann knüpften an diese Ideale an. Rebmanns Reisebriefe aus Holland und Frankreich (1796/97) zeigen das zukünftige Frankreich des Jahres 1896: Regierungsgeschäfte gibt es nicht, diese sind in die Verwaltung von Sachangelegenheiten aufgegangen. Etwa einhundert Personen sind dafür genug. Zwar besteht Privateigentum, aber alles regelt sich im Einklang mit der Natur (Briese 2016).

7 Frühromantische Rebellen

Clemens Brentanos Roman Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter (1801) ist ein lustvolles literarisches Experiment. Bereits im Untertitel wird das angezeigt: Ein verwilderter Roman. Formal geht es dem Ich-Autor ausdrücklich darum, poetische Verwirrung zu schaffen; gelegentlich diskutiert er mit einem potenziellen Herausgeber über sein eigenes zukünftiges Romanschicksal: Selbstmord? Blitzschlag? Und inhaltlich geht es um höchst unkonventionelle Lebensläufe. Antibürgerlich und erotisch: Godwi und seine Mitstreiter toben sich aus. Die Ehe ist eine rein lächerliche Einrichtung, überhaupt das ganze Gehäuse der sogenannten Bürgerlichkeit. Die libertären Tendenzen des Romans sind der Forschung natürlich bekannt. Nicht bekannt ist – blinder Fleck betreffs Anarchismus –, dass Godwi bereits vom Namen her eine Anspielung auf einen heutigen anarchistischen Klassiker bedeutet, auf William Godwin, auf den Begründer des europäischen Anarchismus. Brentano war nicht der einzige Frühromantiker, der mit Anarchismen spielte. So hatte Ludwig Tieck im Jahr 1797 in seiner Märchenkomödie Der gestiefelte Kater nicht nur bewusst mit poetischen Regeln gebrochen, sondern Regel und Gesetz als solche demonstrativ verabschiedet. Der sog. Popanz – das Gesetz – verwandelt sich in eine Maus und wird vom Kater gefressen.

Um diese Zeit entstand ein nicht genau zu datierender Text, der unter dem Namen Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus bekannt geworden ist. Wer auch immer der gedankliche Urheber des Fragments war (Schelling, Hölderlin oder Hegel): Es ging um die Stiftung einer neuen religionsähnlichen Mythologie. Sie sollte die voneinander entfremdeten Subjekte der Moderne vereinen. Denn Religion und Staat haben sich als kulturelle Einigungsinstanzen überlebt. Gerade Staat könne nie das einen, was nur durch eine neue Mythologie geeint werden kann. Im Gegenteil (so hatte auch schon Lessing argumentiert) – Staat sei ein Medium der Zertrennung. Zumindest wäre die Einigung, die er vollbringt, nur die eines mechanischen Räderwerks. Automatischer Gehorsam! Ein Leben im Zwangsgehäuse! Im Gehäuse der Hörigkeit! Der Staat, als mechanische Maschine, habe ausgedient, und ausdrücklich heißt es, über den Staat müsse hinausgegangen werden. Mehr noch, und so fährt das Skript fort: Das ganze elende Menschenwerk von Staat, Verfassung, Regierung, Gesetzgebung sei bis auf die Haut zu entblößen.

Dennoch, Anarchie – dieses Wort fällt im Entwurf nicht – erscheint nicht als Selbstzweck. Man könnte – und das trifft für fast alle Anarchismen der Romantiker zu – von ästhetisch geprägten Sekundäranarchismen sprechen. Denn Freiheit vom Staat, Abschaffung des Staats oder Erlöschen des Staats haben nicht Wert an sich. ‚Staat‘ muss in Theorie und Praxis überwunden werden, weil er anderen und besseren Entwicklungen im Weg steht. In diesem Fall wäre das eine Menschheitseinigung auf Basis von Mythologie (Thun 2015; Briese 2017).

8 Vormärz I: Das Junge Deutschland

Autoren der heterogenen Literatengruppe ‚Junges Deutschland‘ knüpften an diese aufklärerischen und romantischen Diskurse an, vor allem Ludwig Börne, Heinrich Laube, Karl Gutzkow und Ernst Willkomm. Sie wurden zwar nicht zu systematischen Anarchisten, aber sie erprobten solche Positionen zumindest zeitweise und experimentell. Börne stand mit seinen fragmentarisch gebliebenen Studien über die Französische Revolution (nach 1830) in der Linie, den Horizont dieser Revolution zeitgemäß zu übersteigen. Es ging um ihre Bedeutung und Grenzen, er erklärte demokratiekritisch, dass nur Anarchie die Keime der Unterwürfigkeit und des Knechtseins zu zerstören vermöge. Laube bezog sich hingegen direkt auf die revolutionären Umbrüche von 1830. In seinem Briefroman Politische Briefe (1833) erklärt sich das Autoren-Ich – getragen von einer Sehnsucht nach Freiheit – programmatisch gegen Gesetze und beruft sich dabei ausdrücklich und wortwörtlich auf Anarchie im Sinn von Herrschaftslosigkeit. Das wird in eine geschichtliche Dimension eingebettet: Anarchie sei das Ziel der Geschichte. So wie ihre Entwicklung zu Staaten geführt habe, treibe sie nun darüber hinaus. Anarchie als Endziel von Geschichte scheint aber nicht wirklich einlösbar zu sein. In geradezu Kantischer Diktion heißt es, man könnte sich ihr nur stetig nähern. Diese poetische Unmittelbarkeit eines bekennenden Ichs wurde in Laubes literarischer Folgetrilogie Das junge Europa auf kunstvolle Weise relativiert. Ihr erster Band (Die Poeten, 1833) besteht aus einem Briefwechsel von sieben Personen, Männern und Frauen, und diese verkörpern verschiedene Haltungen. Valerius, stark autobiografisch gezeichnet, ist als Sprecher von Laubes Positionen anzusehen: Nicht der Einzelne habe der Allgemeinheit zu dienen, sondern diese jenem zu nutzen. Denn das größte Ziel sei es, einen Jeden zum Selbstherrscher zu erheben, zur ungebundenen Herrschaft der Individualität. Auch Gutzkow hat sich – allerdings nur im Sinn vereinzelter Gedankenexperimente – der Problematik von Staat und Herrschaftslosigkeit zugewandt. In seinem Briefroman Briefe eines Narren an eine Närrin (1832) proklamierte er, Menschen seien nicht zum Leben in Staaten geboren. Staat sei nur ein Übergangspunkt in einen andern Zustand; seine wahre Bestimmung zu erfüllen hieße, ihn zu zerstören (Briese 2018).

Willkomm schließlich lässt diese Reflexionsprosa hinter sich und schildert mit konkreten sozialen Schicksalen den Druck von Staat und Gesetzlichkeit. In seiner Schmugglergeschichte Gränzwanderungen (1837, als Pascherleben 1842) radikalisiert er den Verbrecherdiskurs des ‚Sturm und Drang‘. In mehrfachen Anläufen erklärt sich der (am Ende tragisch scheiternde) Held gegen Staat, Recht und Gesetz an sich und beruft sich auf das Naturrecht des ehrlichen Lebens und Handels einfacher und armer Leute. Er scheitert an den Umständen. Aber, und das ist grundsätzlich neu in der Räuber- und Verbrecherliteratur: nicht mit Reue, nicht geläutert. Er wird von Willkomm demonstrativ ins Recht gesetzt. Das Naturrecht ist das wirkliche Recht.

9 Vormärz II: Wahrer/libertärer Sozialismus

Eine einflussreiche vormärzlich-anarchoide Strömung war die des ‚wahren Sozialismus‘ (besser: ‚libertärer Sozialismus‘) mit Hauptvertretern wie Karl Grün und Moses Heß. Sie erreichte mit Publikationen wie Gesellschaftsspiegel (1845/46, hg. v. Heß) oder Das Westphälische Dampfboot (1845/48, hg. v. Lüning) durchaus eine größere Öffentlichkeit. Mitte der vierziger Jahre waren diesen Vertretern mindestens drei Prämissen gemeinsam: das Ziel einer Emanzipation der arbeitenden Klassen durch Erziehung und Bildung; Sozialismus als Ideal eines Sozialausgleichs durch Erkenntnis und Einsicht bzw. durch philanthropisches Engagement; die gezielte Negierung der Sphäre der Politik und die ausschließliche Konzentration auf die des Sozialen (‚Gesellschaft‘ statt ‚Staat‘).

Auf literarischer Ebene wurden einerseits das gravierende soziale Elend und die staatliche, d. h. polizeilich-juristische Unterdrückung der Elenden zum Thema (u. a. Ernst Dronke). Andererseits wurden auch soziale Alternativen bis hin zu gewaltsamem Gruppenwiderstand gestaltet (Louise Otto). Ihr Roman Schloß und Fabrik (1846) setzt programmatisch Auszüge aus Hermann Püttmanns ‚wahrsozialistischen‘ Rheinischen Jahrbüchern (1845) ein; den Arbeitern einer Fabrik werden Auszüge daraus bekannt gemacht (Religion und Politik müssen aufhören; Geld und Kapital gehören mittels Umsturz abgeschafft; Ziel ist eine freie gesellschaftliche Vereinigung in Liebe). Der Hauptvertreter dieses ‚libertären Sozialismus‘, Karl Grün, stand in enger freundschaftlicher Verbindung zu Proudhon, übersetzte seine Werke und verfocht auch auf ökonomischem Gebiet dessen Auffassungen. Sein Bruder Albert – selbst Emigrant – legte 1851 einen Roman vor, der das Emigrantenschicksal eines deutschen Revolutionärs schildert und als weltanschaulichen Kern ein Streitgespräch dreier Personen beinhaltet, die für unterschiedliche Positionen stehen (Deutsche Flüchtlinge. Zeitbild). Der eine Akteur hat skeptisch resigniert, die Massen seien ungebildet und manipulierbar, es könne allenfalls Reformen durch einsichtsvolle Eliten geben. Der andere plädiert für Demokratie und Sozialismus, für Volkssouveränität und eine staatssozialistische Lösung der sozialen Frage. Der dritte schließlich – und er ist unschwer als Sprachrohr Grüns zu erkennen – begegnet der ganzen Sphäre der Politik (auch der Sozialpolitik) deutlich abweisend. Mit ausdrücklicher Berufung auf Proudhon heißt es: Statt, dass Jeder regieren könne, müsse gelten, dass Jeder das Recht habe, nicht regiert zu werden. Die Weltgeschichte dränge – wortwörtlich – auf Anarchie hin. Und auch ökonomisch werde (hier erfolgt der Bezug auf Proudhon indirekt) die Tyrannei des Kapitals durch Kleinbesitz und durch wechselseitige Garantie der Zirkulation und des Kredits beseitigt.

10 Revolution 1848: Moritz Hartmann

In der Revolution 1848 rückte im praktischen Kampf der engagiertesten Kräfte ‚Demokratie‘ an die Spitze der Agenda. Im scheiternden Verlauf der Revolution radikalisierten sich aber einstige revolutionäre Demokraten, und sie experimentierten mit anarchistischen Positionen. Als repräsentativ für diesen Wandel kann der österreichische Dichter Moritz Hartmann angesehen werden. Er gehörte seit Mitte der 1840er-Jahre zur liberalen und demokratischen Opposition, wurde dann Abgeordneter des Paulskirchenparlaments und floh nach der Niederschlagung der Revolution ins Exil. Im Nationalparlament stand er auf der Seite der äußersten bürgerlichen Linken, und in seiner literarischen Sottise Reimchronik des Pfaffen Maurizius (1849), die den Parlamentsbetrieb karikierte, scheute er sich nicht, den auch damals so geschmähten Begriff ‚Anarchie‘ als Positivbegriff zu verwenden, für eine erstrebenswerte Zukunft: „Wo nicht Verbote, nicht Gebot/Dem reinen Menschenthume Noth – /Mit einem Wort: – die Anarchie!“ (Hartmann 1849, S. 96).

Hartmanns nachfolgender Roman Der Krieg um den Wald (1850) erprobte dann die Potenziale von Anarchie, war aber, nach der verlorenen Revolution (auch im Sinn eines Selbstbilds und einer Selbstkritik) pessimistisch gehalten. Der historische Roman, angesiedelt 1745, radikalisiert Elemente der vormärzlichen Dorfgeschichte. Er setzt ein mit dem Konflikt zweier Dorfgemeinden um Rechte an einem Waldstück. Schnell mündet dieser in einen bewaffneten Kampf. An die Spitze der legitimen Seite setzt sich ein erfahrener Wilderer, der über eine ganze organisierte Bruderschaft von Wilderern verfügt. Er ist von unbändigem Hass auf die adligen Grundbesitzer, auf ihre kirchlichen Handlanger und die staatlichen Verfolgungsinstanzen (Beamtenschaft, Justiz) getrieben. Es gelingt ihm, mittels Waffen und mittels eines Bündnisses mit Gruben- Hütten- und Mühlenarbeitern einen Bauernaufstand zu entfachen. Dieser richtet sich nicht nur gegen Steuern und Leibeigenschaft, sondern gegen Grundbesitz und Kirche an sich. Anfangs genießt er – ein böhmischer Robin Hood, der die eroberte Beute zu Gemeineigentum erklärt – vielfältige Unterstützung in der Bauernschaft. Aber eine großflächige Ausbreitung des Aufstands kommt nicht zustande. Nach und nach fallen die Unterstützer ab: durch Unwissen, Eigeninteresse, Verrat. Und der revolutionäre Rebell, weniger an der konkreten Sache der Bauern interessiert als an seiner radikal-anarchischen Agenda, erweist sich mehr und mehr als fanatischer Michael Kohlhaas denn als Robin Hood. Militär schlägt den Aufstand nieder, der Rebell wird gehenkt. Der Roman schließt mit der Frage, wann die Zeit der Bauern endlich kommen werde.

11 Individualanarchismus: John Henry Mackay

Mackay führte, pointiert gesagt, ein Doppelleben. Als Mackay kämpfte er literarisch-anarchistisch gegen herrschende Instanzen wie Religion, Moral, Recht und Politik; als Sagitta bekämpfte er literarisch eine bigotte Sexualmoral und Repressionen gegenüber Homosexualität. Und letztlich kann sein vielfältiges literarisches Werk nur bedingt auf diese zwei Facetten reduziert werden. Von seinen anarchistisch geprägten Schriften sind besonders vier hervorhebenswert. Seine Gedichtsammlung Sturm (1888) ist geprägt von seinen Kontakten zum Londoner Kreis um Die Autonomie um Josef Peuckert und propagiert einen sozialrevolutionären, anarchistischen Arbeiterkommunismus. Aber schon sein Roman Die Anarchisten. Kulturgemälde aus dem Ende des XIX. Jahrhunderts (1891) – die wohl wirkungsreichste literarische Arbeit Mackays – bezeugt eine Abkehr von der organisierten Arbeiterbewegung und seinen entschiedenen Individualanarchismus. Inhalt des Romans – der keinesfalls nur aus Reflexionsprosa besteht, sondern, im Sinn eines ‚Kulturgemäldes‘, u. a. auch naturalistische Schilderungen Londoner Elendsquartiere beinhaltet – sind die mehrfachen Begegnungen des Protagonisten Carrard Auban mit dem anarchistischen Kommunisten Otto Trupp. Dieser bestärkt ihn in seiner Abkehr von fruchtlosen sozialdemokratischen Reformhoffnungen und auf seinem Weg zum anarchistischen-kommunistischen Sozialrevolutionär. Das bleibt aber nur eine vorübergehende Entwicklungsphase Aubans. Ein Gefängnisaufenthalt bringt die nächste und entscheidende Wende: Nachdem er anfangs der Sozialdemokratie anhing, dann dem anarchistischen Kommunismus, ist er nunmehr entschiedener Individualist geworden. Fortan wird in beständigen Kontrastarrangements deutlich, wie sehr sich die Positionen der einstigen Kampfgenossen Trupp und Auban auseinander entwickelt haben. Schon in der Einleitung gibt der auktoriale Erzähler den LeserInnen vor, wer Sieger dieses weltanschaulichen Zweikampfs sein wird: Auban, der jeder organisierten Arbeiterbewegung den Abschied gibt, alle Massen hinter sich lässt, nicht mehr gegen das kapitalistische Privateigentum kämpft und nicht mehr für die Lösung der ‚sozialen Frage‘ durch staatliche Eingriffe, sondern gegen die Allmacht des Staats. Seine Alternative: Freiheit von jedem Staat und von jeder Beschränkung; Freiheit für Individualität im Sinn Stirners und für frei entfalteten Eigenbesitz jenseits aller staatlichen Repression im Sinn Proudhons. Statt: der Staat muss fallen, damit das Eigentum fällt, müsse es heißen: der Staat muss fallen, weil er das Eigentum unterdrückt.

Dieser Wechsel Mackays hin zu individualanarchistischen Positionen verdankt sich offenbar seiner Entdeckung Stirners. Das Ergebnis der intensiven Beschäftigung mit dem Autor war u. a. eine aufwendig recherchierte und gut lesbar verfasste Biografie des Philosophen: Max Stirner. Sein Leben und sein Werk (1898), noch heute das biografische Standardwerk. Es bewirkte maßgeblich die Stirner-Renaissance um 1900. Mackays Roman Der Freiheitssucher (1921) schließlich, den er als ergänzenden Teil zu Die Anarchisten verstand, war ebenfalls von autobiografischen Motiven durchzogen. Er war angelegt als Entwicklungsroman eines zum Individualanarchismus Erwachenden. Das, was der erste Roman kulturhistorisch thematisierte – den Weg zum Individualanarchismus – zeichnete dieser Roman individualpsychologisch nach.

12 Vom Bohemien zu kommunistischen Anarchisten: Erich Mühsam

Mühsam ist als bedeutendster deutschsprachiger anarchistischer Schriftsteller anzusehen. Sein betreffendes literarisches Schaffen währte über drei Jahrzehnte, es umfasste eine Vielzahl literarischer Gattungen (bis hin zu Kinderbuch und Kalendergeschichte), und es hatte, selbstredend in wechselndem Maß, eine relativ große Breitenwirkung. Ob es literarisch innovativ war, ist in diesem Zusammenhang eher zweitrangig: Einerseits blieb Mühsam naturalistisch-realistisch geprägt und setzte eher auf eine aufrüttelnde Wirkung als auf literarische Experimente. Andererseits verfocht er stets den Anspruch auf Kunst und wies Forderungen nach bloßer Tendenzkunst und literarischer Agitation zurück (Delabar 2005). Vier Segmente seines Schaffens sind besonders hervorhebenswert: Lyrik, Publizistik, Tagebuch, Dramatik.

Mühsams frühe Gedichtsammlungen – hier zeigt sich noch die konventionelle Trennung von Kunst und operativer Kunst – enthielten noch nicht seine bereits in Journalen veröffentlichten politischen Gedichte (Fähnders 1987, S. 98). Erst Brennende Erde. Verse eines Kämpfers (1920) und Revolution. Kampf-, Marsch- und Spottlieder (1925) waren als bewusst politische Gedichtsammlungen konzipiert. Sie griffen u. a. auf die kämpferischen Traditionen der Vormärzlyrik zurück (Wir-Emphase; Lied-Charakter; Freiheitspathos; Naturmetaphern), und sie waren inhaltlich gezielt antimilitaristisch, antikapitalistisch und sozial-revolutionär angelegt.

Publizistisch war Mühsam – anfangs ein von Stirner geprägter Salon- oder Bohemienanarchist, wie er es später selbst sah – vielfältig tätig. Er veröffentlichte in vielen Journalen und Periodika, und er wirkte nach 1900 für einige Jahre auch als Redakteur (Der arme Teufel, Der Weckruf). In den Jahren 1911–1914 und 1918/19 gab er selbst, mit erzwungener Kriegsunterbrechung, eine Zeitschrift heraus: Kain. Dieses Blatt – in der ersten Periode monatlich erscheinend, in der zweiten meist wöchentlich – verfocht in der Vorkriegsphase eine bestimmte Bündnispolitik. Es erstrebte eine antibürgerliche Allianz zweier geächteter sozialer Gruppen: der intellektuellen Bohème und des Subproletariats. Die künstlerische Intelligenz und das ‚Lumpenproletariat‘ hätten sich zu verbinden und zu verbrüdern: in antibürgerlicher, politischer Opposition. Insofern lässt der Anti-Wilhelminismus, Antimilitarismus und Antikapitalismus des Blatts – vereinfacht und zugespitzt gesagt – folgende Spezifik erkennen: Die sozialevolutionäre Erneuerung der Gesellschaft sollte aus dem ‚Geist‘ und von der ‚Kultur‘ her erfolgen. Federführend dabei seien unangepasste Intellektuelle und Künstler. Und die wirkmächtige soziale Basis dieser Erneuerung sei nicht das (sozialdemokratisch) korrumpierte und verbürgerlichte Proletariat. Vielmehr würden Deklassierte, Ausgestoßene und Vagabunden die bisherige Gesellschaft umstoßen.

Das Verbot des Blatts – und überhaupt die scharfe Reglementierung des Pressewesens und literarischen Lebens während der Kriegszeit – verstärkte Mühsams Konzentration auf das Medium Tagebuch. Seit 1910 (Sanatoriumsaufenthalt) bis 1924 (Entlassung aus mehrjähriger Haft) führte er mit wechselnder Intensität Tagebücher. Sie sind in den Jahren 2011–2019 in 15 Bänden veröffentlicht worden. Diese Tagebücher sind ein äußerst wichtiges Zeugnis: in biografischer und historischer Hinsicht. Ebenso optimistisch wie selbstironisch, dokumentiert Mühsam sein Liebesleben und seine Geldsorgen, aber auch die wachsende Kriegsgefahr. Man erfährt Näheres zu Mühsams Bemühungen um eine pazifistische Sammlungsbewegung während der Kriegszeit, ebenso zu seiner politischen Haltung während der Novemberrevolution und „Münchner Räterepublik“ (er bleibe Anarchist und Bakunist, erkenne aber auch das Erfordernis einer proletarischen Diktatur an). Auch sein spannungsreiches Verhältnis zur entstehenden Sowjetunion findet einen Widerhall, gleichfalls seine Befürchtung, der Aufschwung der organisierten kommunistischen Bewegung während der „Weimarer Republik“ wäre gleichbedeutend mit dem Sieg von Disziplin über Begeisterung.

Schon früh trat Mühsam als dramatischer Autor hervor. Gerade seine Dramatik macht seine schrittweise Entwicklung zum anarchistischen Kommunisten in der Zeit der „Weimarer Republik“ erkennbar (und zwar zum proletarisch-anarchistischen Kommunisten). Die Hochstapler (1906) ist ein Lustspiel über Spekulations- und Betrugspraktiken innerhalb des großstädtischen Bürgertums mit der Alternative einfachen, naturnahen Landlebens. Die Freivermählten (1914) ist eine Farce, in der das freireligiöse Bekenntnis zu Ehelosigkeit als Fortsetzung von bürgerlich-männlichen Besitzansprüchen an Frauen entlarvt wird. Judas. Arbeiter-Drama (1921) handelt von Streikbewegungen und den Spannungen zwischen proletarischer Masse und Führung – bis hin zu Verrat durch Führungspersonen. Staatsräson. Ein Denkmal für Sacco und Vanzetti (1928) ist ein dokumentarisch angelegtes Stück über die Klassenjustiz gegenüber anarchistischen Proletariern. Alle Wetter (1930) zeigt, auf utopisch-allegorische und satirische Weise, den durch einen Aufstand errungenen Sieg einer ländlichen Genossenschaft über staatliche Enteignungsgelüste (die von politischen Parteien aller Couleur ausgehen). Löst sich dieses letzte größere literarische Werk Mühsams also zum Teil von der Fixierung auf das Proletariat, bleibt sein theoretisches ‚Vermächtnis‘ Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Was ist kommunistischer Anarchismus? (1933) dennoch dem Proletariat deutlich verbunden und vertritt ungebrochen einen anarchistischen Kommunismus (Gemeinschaftseigentum, Rätestruktur, Selbstverwaltung, Föderalismus) mit dem Proletariat als wesentlicher sozialrevolutionär-politischer Befreiungsinstanz.

13 Weimarer Republik: B. Traven, Theodor Plievier, Gregor Gog

Der Aufschwung anarchistischer Bewegungen nach der November-Revolution 1918 führte zu einem Aufschwung anarchistischer Periodika, auch zu dem anarchistisch geprägter Literatur. Travens Werk muss hier nicht behandelt werden (vgl. Bd. 1 dieses Handbuchs). Als weiterer wichtiger Autor ist Theodor Plievier (Plivier) anzusehen. Sein Roman Des Kaisers Kulis (1930), der von der revolutionären Politisierung der Matrosen der kaiserlichen Marine während des Kriegsverlaufs berichtet, trägt jedoch nur noch wenige anarchistische Spuren und ist eher packend-antiautoritär als spezifisch anarchistisch angelegt. Das zeigen Vergleiche etwa mit Plieviers Broschüre Anarchie (1919), in der der Autor mit geradezu religiösem Pathos von Stirner geprägte individualanarchistische Positionen vertritt, auch mit seinen Flugblättern, die bis Mitte der zwanziger Jahre gezielt individualanarchistische Positionen verfechten und vornehmlich den ausgestoßenen Künstler, den Vagabunden, den Paria zum Umstürzler von Kultur und Gesellschaft überhöhen (Fähnders und Rector, 1980, Bd. 1, S. 319 ff.).

Wie der junge Plievier war auch Gregor Gog ein Tramp und Vagabund. Auch er reflektierte diesen sozialen Status literarisch (übergreifend zur Vagabundenliteratur der „Weimarer Republik“: Fähnders 2007; Palm und Steker 2020). Im Jahr 1927 wurde er Mitarbeiter und alsbald Redakteur der wohl ersten Straßenzeitung Europas Der Kunde (1927/31) und war maßgeblich an der Organisation des ersten deutschen Vagabundenkongresses (Stuttgart 1929) beteiligt, wo er in seiner Einleitungsrede proklamierte: ‚Generalstreik das Leben lang‘. Er verfocht einen – nie zu einem stimmigen ‚System‘ ausgeformten – kommunistischen Individualanarchismus, in dem sich urchristlich-messianische, nietzscheanische und marxistisch-leninistische Einflüsse überkreuzten. In seiner ersten Aphorismensammlung Von Unterwegs. Tagebuchblätter des verlorenen Sohnes (1926) dominieren, pathetisch-schwülstig gehalten, auf Tolstoi zurückgehende urchristlich-messianische Einflüsse: „aus der Bruderschaft der Idealisten werden die Erlöser geboren“ (Gog 1926, S. 61). In der zweiten, Vorspiel zu einer Philosophie der Landstraße. Aus den Notizen eines Vagabunden (1928), blieben sie eher im Hintergrund. Ecce Poeta: Man hat spannungsvolle, am prallen Leben orientierte anarchistische Aphorismen vor sich. Sie lassen mehrere, auf einem sinnlich-naturalistischen Menschenbild basierende Prämissen erkennen: Antikirchlichkeit, Antibürgerlichkeit, Antikapitalismus, Antimilitarismus, Ablehnung von Institutionen an sich, Individualismus, Voluntarismus, eine an Nietzsche geschulte Moralkritik sowie ein Revolutionspathos, das politische Revolutionen vor allem als Schritt hin zu neuer Menschlichkeit begreift. Gemessen am ersten Band, wirken die Aphorismen viel origineller, viel sarkastischer und bissiger, zeigen gelegentlich auch nihilistische Anklänge. Und ihr optimistisches Potenzial erweist sich als herabgestimmt: „Dieses Buch ist bewußt negativ“ (Gog 1928, S. 5).

14 Häftlingsträume: Peter-Paul Zahl

Zahl ist bekannt geworden als politischer Aktivist im Rahmen der radikalisierten ‚linken Szene‘ nach 1968, er saß zehn Jahre in Haft. Sein produktives literarisches Schaffen vor, während und nach dieser Inhaftierung wurde in der Öffentlichkeit allerdings überlagert von politischen und literaturpolitischen Debatten. Es umfasst die Gattungen Lyrik, Dramatik (einschließlich Komödie), Roman (Schelmenroman, Kriminalroman), Erzählung und Kinderbuch (Lachmann 2018). Für einige Jahre avancierte Die Glücklichen (1979) zum Kultbuch einstiger ‚68er‘. Der originelle Roman – intertextuell gezielt an Narren- und Schelmenromane angelehnt, ein Montageroman mit dokumentarischen und mit surrealen Einsprengseln – handelt von der West-Berliner Subkultur der frühen siebziger Jahre. Die nonkonformen HeldInnen sind sinnenfrohe Schelme und Tagediebe, gruppiert um eine Familie von Ganoven und Kleinkriminellen. Sie leben im kapitalistischen System und versuchen gleichzeitig, es karnevalesk zu unterlaufen, u. a. durch Leistungsverweigerung (Dutschke 1984). So gründen sie die Zeitschrift „Der glückliche Arbeitslose“. Diese ist als Typoskript eingefügt; darin wird für die Gründung einer „PARTEI GEGEN DIE ARBEIT“ geworben. Die keineswegs ausschließlich männlichen Helden – im Mittelpunkt stehen eher ‚starke‘ Frauen – entfalten sich lustvoll als Individuen. Sie sehen sich aber auch als Teil einer größeren solidarisch-kollektiven Schicht, fühlen sich subkulturell vereinigt. Doch diesbezüglich sind diese ‚Glücklichen‘ nicht immer glücklich – vor allem aufgrund der Aufsplitterung der Opposition in verschiedene konkurrierende Szenen. In dieses Spannungsfeld von individueller und kollektiver Renitenz mit ihren vielfältigen Facetten sind auch Debatten über organisierte Widerstandsformen eingebettet. Das elitäre Ansinnen terroristischer Geheimbünde (RAF; Bewegung 2. Juni) wird skeptisch zurückgewiesen. Favorisiert wird eine anarchistisch-subversive Stadteroberung ‚von unten‘ durch ein sinnenfrohes, gewitztes Lumpenproletariat und durch eine intellektuelle Spaßguerilla, die dem System, wo immer möglich, lustvoll jenseits des Gesetzes ein Schnippchen schlagen. Auch andere Widerstandsformen werden debattiert. Gewalt wird nicht grundsätzlich verneint, aber es gehe um eine basisdemokratisch legitimierte Gewalt im Sinn sozialer Revolution, keinesfalls um Insurrektionsgewalt einiger Weniger.

15 Erinnerungsarbeit und Zukunftsvisionen

Aktuelle anarchistische Diskurse sind heute eng verwoben mit Gender-, Ökologie-, Antikolonial-, Antimilitär-, Antikapitalismusdiskursen usw. Der ‚klassische Anarchismus‘ gehört der Vergangenheit an. Er wird, als Gegenstand europäischer Literatur, teilweise mit postmodernen Erinnerungsverschachtelungen, geradezu historisiert. Maurizio Maggianis Roman Der Mut des Rotkehlchens (1995) schildert die Traumreisen des Protagonisten in die anarchistische Vergangenheit seiner Vorfahren bis hin zu Ketzern des 16. Jahrhunderts; Juan Manuel de Pradas Roman In den Winkeln der Lüfte (2000) zeichnet das Leben der spanischen Feministin, Sportlerin, Anarchistin und Dichterin Ana María Martínez Sagi im Rahmen einer geradezu kriminalistischen Entdeckungsgeschichte nach; Daniel de Roulet schildert in Zehn unbekümmerte Anarchistinnen (2017) den Aufbruch einer Gruppe von zehn Frauen aus der Schweiz und ihre Suche nach einem herrschaftsfreien Leben in Südamerika und in Ozeanien Ende des 19. Jahrhunderts; Giulia Caminitos Roman Ein Tag wird kommen (2019) erzählt, in kunstvoll verschachtelten Vor- und Rückblenden, das Schicksal eines italienischen Anarchisten um die Zeit des 1. Weltkriegs. Trotz aller Historisierung: Anarchistisch geprägte Literatur wird es weiterhin geben. Um nur ein aktuelles und faszinierendes Beispiel zu erwähnen: Ilija Trojanow, der mit Buchreportagen und Streitschriften immer wieder mehr als nur anarchistische Affinitäten zu erkennen gibt, hat mit seinem Roman Tausend und ein Morgen (2023) spielerisch eine Utopie entworfen, die allen dystopischen Moden die Zunge herausstreckt. Mag die Gegenwart bedrückend sein: In dieser umgekehrten Zeitreisefiktion erfolgt ihre Veränderung aus einer anarchisch-gelungenen Zukunft heraus.