Am 14. Juni 2022 wird es wieder einen sogenannten Supervollmond geben. Wenn der Mond auf seiner Bahn dem Horizont so nah kommt, dass er ihn berührt, erscheint er größer als hoch am Himmel. Astronomen sehen darin nichts Besonderes, Romantiker, Poeten und Verliebte schon.
Der „Junimond“, den Rio Reiser 1986 ansang, könnte solch ein Mond gewesen sein, mit dem er seinen überwundenen Liebeskummer teilte. Vielleicht hieß aber auch der Verflossene so. Man weiß es nicht. Der Dichter hat die Antwort auf die Frage aller Fragen seiner Interpreten mit ins Grab genommen, als er 1996 starb. „Es ist vorbei / Bye bye, Junimond.“
Wer „Junimond“ von Rio Reiser googelt, landet immer nur bei Claudia Roth, der deutschen Kulturstaatsministerin. Früher war sie die Freundin eines Musikers der Band Ton Steine Scherben, lebte mit ihm in der Bandkommune Fresenhagen neben Rio Reiser und organisierte eine desaströse Abschiedstour der linken West-Berliner Agit-Pop-Band. 1985 lösten sich die Scherben, wie sie alle nannten, auf. Claudia Roth verließ den Musiker Martin „Paul“ Hartmann und ging zu den Grünen. Hartmann komponierte auf der Heimorgel sein Abschiedslied für sie, den Text schrieb Rio Reiser – und der „Junimond“ wurde zu Claudia Roth. So setzen sich Legenden durch, wenn sie sich googeln lassen.
Ohne die Musik von Martin Hartmann wäre „Junimond“ kein Klassiker geworden. Hartmanns eigene Geschichte hat mit dem Gedicht von Reiser aber auch nicht mehr zu tun, als dass sie den Poeten dazu angeregt hat. „Ich bin hier oben auf meiner Wolke / Ich seh dich kommen, aber du gehst vorbei / Doch jetzt tut’s nicht mehr weh / Nee, jetzt tut’s nicht mehr weh.“
Lyrisches Ich?
Das Ich in Rio Reisers Lebenswerk war nie nur lyrisch. So normal sein Schwulsein, seine Sehnsüchte und seine Liebe für ihn waren, so sehr litt er darunter, wenn Schwule seine Liebe nicht normal erwidern konnten oder wollten. „Meine Krankheit ist nicht, dass ich Männer liebe. Meine Krankheit ist die Angst, und die ist lebensgefährlich“, schrieb er in sein Tagebuch. Die Angst, sich immer wieder zu verlieben, um verlassen und verletzt zu werden, brachte ihn auf Suizidgedanken. Und auf seine Wolke hoch über der Welt, hinter dem „gnädigen Vorhang vor der offenen vierten Wand unserer Erdbühne“, wie Christian Morgenstern die Wolken nannte.
Im Musikvideo zu „Junimond“ sitzt Rio Reiser auf den Ästen einer Weide an der Spree – als Parodie des Schlagersängers, der er für das Publikum der Scherben plötzlich war. Was scherte seine Homosexualität die Weltrevolution? Schmierte er das System mit seinen Schnulzen? Und ging „Bye bye“ nicht als Gottesgruß im Englischen zurück auf „God be with ye“? Rio Reiser wollte 1986 auch „König von Deutschland“ sein, in seinem anderen großen Hit damals, der erste schwule König nach Friedrich dem Großen und Ludwig II.
Auch in „Junimond“ besang er ein Ideal der deutschen Linken: Das Private ist politisch. Darunter, dass ihn die eigenen Leute nicht verstanden, litt er. „Die Welt schaut rauf zu meinem Fenster / Mit müden Augen ganz staubig und scheu.“ Vielleicht war Rio Reiser selbst sein Junimond.