Spielräume im Instrumentalunterricht - Üben und Musizieren

Dartsch, Michael

Spielräume im Instrumentalunterricht

Die Unterrichtskonzeption der Reihe „Musik und Tanz für Kinder“ als Stein des Anstoßes für die Instrumentaldidaktik

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2002 , Seite 06

Der Name „Musik und Tanz für Kinder“ steht für Unterrichtswerke der Elementaren Musikpädagogik und für die Autorschaft von Mitarbeitenden des Orff-Instituts der Universität „Mozarteum“ in Salzburg. Die bei Schott verlegte Reihe umfasste zunächst die Unterrichtswerke für Musikalische Früherziehung (1985/ 86), Musikalische Grundausbildung (1990), ein Liederbuch (1992) und ein Schlagwerkheft (1994).

Als schließlich 1999 das auf etwa zwei Jahre angelegte Unterrichtswerk Querflöte spielen und lernen von Barbara Metzger und Michaela Papenberg herauskam und die Reihe „Musik und Tanz für Kinder. Wir lernen ein Instrument“ (s. Kasten) begründete, dürfte bei vielen Musikpädagoginnen und -pädagogen die Überraschung groß gewesen sein. Schon rein äußerlich erinnert manches an diesem Werk an die bekannten Publikationen im Bereich der Elementaren Musikpädagogik: Wieder gibt es ausgiebig illustrierte Kinderhefte zum Betrachten, Musizieren, Hineinschreiben, Malen und Einkleben sowie auch wieder einen dicken Ringordner für die Lehrenden. Auch die Elternbroschüre fehlt hier nicht. Im Jahr 2000 folgte das Klavierwerk von Ines Mainz und Rudolf Nykrin, 2001/2002 der Geigenband von Bianka Wüstehube und erneut Rudolf Nykrin; beide sind auf etwa drei Jahre angelegt. Die entsprechenden Werke für Blockflöte und Schlaginstrumente stehen noch aus. Ihr Aufbau ist bereits in den vorliegenden Lehrer-Handbüchern abgedruckt, denn alle Schulwerke werden aufeinander abgestimmt und inhaltlich koordiniert von den Herausgebern Wolfgang Hartmann, Rudolf Nykrin und Hermann Regner.

Wenn sich Fachleute für Elementare Musikpädagogik des Anfangsunterrichts auf Instrumenten annehmen, so kommt sofort die viel beschworene Problematik der „Nahtstelle“ in den Blick. In den vergangenen Jahren wurde verstärkt darüber nachgedacht, wie Kindern der Übergang von der Grundstufe zum Instrument erleichtert und eine Kontinuität an Stelle eines Bruchs erreicht werden kann. Doch bei genauem Hinsehen geht es hier um mehr, nämlich um eine erweiterte Sicht des Instrumentalunterrichts generell. Programmatisch heißt es in den Lehrer-Handbüchern: „Das eingeschränkte Bild, das unvorbereitete Eltern und Kinder oft von Instrumentalunterricht haben, muss behutsam, aber nachdrücklich korrigiert und erweitert werden“ (S. 13). Auch auf Lehrkräfte kann dieser Satz bezogen werden. Das Ungewohnte der Unterrichtswerke kann als Anfrage erlebt werden und Abwehr hervorrufen. Mögliche Steine des Anstoßes können aber andererseits fruchtbare Anstöße für die Instrumentaldidaktik geben.

Grundlagen

Wollte man das zu Grunde liegende Bild von Instrumentalunterricht auf einen einzigen Begriff bringen, müsste man wohl das Wort „Spielraum“ wählen. So wird dem spielenden Umgang mit Klängen, Motiven und Rhythmen breiter Raum gegeben. Dabei kann durchaus an Formen des Kinderspiels, zum Beispiel an Bewegungs- und Geschicklichkeitsspiele, Rollen- und Symbolspiele, Regel- und Ratespiele angeknüpft werden (Handbuch, S. 17). Die Auswahl der Musikstücke lotet den Spielraum heutiger Hör-Umwelten aus. So findet man Rap neben Kinderliedern, Blues neben Musik anderer Länder, klassische Spielstücke und Etüden bekannter Virtuosen neben Stücken mit erweitertem Klangraum jenseits der Funktionsharmonik – zum Beispiel die reizvollen Kompositionen von Ines Mainz und Hermann Regner. Aufs Ganze gesehen dominieren allerdings doch neuere, häufig von Rudolf Nykrin eigens verfasste Stücke.

Weiterhin entwickelt sich bei dem hier vertretenen „kindzentrierten Ansatz“ auch zwischen Lehrkraft und Kindern ein „spielendes Miteinander“, eine „ausgewogene Interaktion“ und ein „für beide spannendes Erlebnis“ (S. 16). Wie bei vielen neueren Instrumentalschulen wird auch im Fall von „Musik und Tanz für Kinder“ die Eignung für Einzel- und Gruppenunterricht betont. Während sich jedoch manches Mal das Gefühl einstellt, ein eigentlich am Einzelunterricht orientierter Lehrgang möchte seine Verkaufschancen durch das Beteuern seiner universellen Einsatzmöglichkeit erhöhen, gewinnt man hier eher den umgekehrten Eindruck: Der Gruppenunterricht wird ausdrücklich als Chance gesehen. Die Gruppe stellt ihrerseits einen Spielraum dar, der die Möglichkeit zum Hervortreten und zum Rückzug, zu sozialen und musikalischen Interaktionen bereitstellt. Schließlich machen die Autorinnen und Autoren darauf aufmerksam, dass sich im und durch den Instrumentalunterricht auch musikübergreifende Prozesse abspielen. Geistige und soziale Fähigkeiten wie das Wahrnehmen, Strukturieren, Antizipieren, Erinnern, Kommunizieren, Initiieren und Beurteilen können, wenn ihnen besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird, „angesprochen“ und „wachgerufen“ werden (S. 19).

Beachtenswert ist hier der Hinweis auf das „wenn“, der in der allgemeinen Debatte über Transfer-Effekte nicht selbstverständlich ist. Gerade ein Konzept, das den Kindern vielfältigste Spielräume der Partizipation bietet, das sich eben nicht in erster Linie an der „Optimierung von Spieltechnik und reproduktiver Befähigung“ als einem „isolierten Ziel“ orientiert (S. 15) und das in der Planung der Lernschritte Freiheiten lässt, kann wohl den Blick auf die allgemeine Förderung des Kindes lenken. Zwischen bewusst intendierten und nebenbei sich ergebenden, zwischen kurzfristigen und anhaltenden, zwischen oberflächlicheren und tief reichenden Wirkungen des Unterrichts auf die junge, dies alles individuell verarbeitende Persönlichkeit spannt sich hier ein Kontinuum vielfältigster Einflussmöglichkeiten auf, dem man mit simplifizierenden Annahmen über eindimensionale Kausalitäten à la „Musik macht klug“ schwerlich gerecht wird.(1)

Lernfelder

Einen Spielraum verschiedener Aktionsformen eröffnet die konsequente Fokussierung der spätestens seit Anselm Ernst(2) diskutierten „Lernfelder“. So plädiert Bianka Wüstehube dafür, den Instrumentalunterricht als „allgemeine musikalische Grundbildung mit instrumentalem Zentrum“(3) anzulegen. Zum Beispiel sollen Kinder und Lehrende jede Stunde improvisieren oder komponieren (Handbuch, S. 27). Das Spektrum reicht von assoziativ inspirierten, freien bis zu an bestimmte Tonvorräte gebundenen Improvisationen und beginnt im Grunde schon da, wo die Kinder selbst Entscheidungen bezüglich der Begleitung, der Dynamik und Pedalisierung, der Rhythmik, des Fingersatzes, der genauen Tonhöhen oder auch der Vorzeichen fällen können. Häufig wird das Erfundene nachher aufgeschrieben.

Der Spielraum „Notation“ beinhaltet grafische Notation, Zeichen für bestimmte Typen instrumentaler Aktionen, verbale Beschreibungen solcher Aktionen und die traditionelle Notenschrift – im weitesten Sinne auch Texte und Bilder als Improvisationsanregungen. Mit einzelnen Motiven aus Liedern und Stücken wird variierend oder improvisierend gespielt. Häufig werden Stücke über das Gehör erarbeitet und gelernt, wobei dann oft ihre Faktur erfahren oder geklärt wird. So kommt das Lernfeld „Werkanalyse“ im Sinne eines „vernünftigen Auffassens musikalischer Zusammenhänge“ (Klavier-Handbuch, S. 117) ins Spiel. Manchmal dient auch das Notenbild als Ausgangspunkt gemeinsamer Überlegungen. Das Spiel nach Noten wird dabei zunächst zurückgestellt. Anregungen zum Tonleiterspiel, zum Vorüben schwerer Stellen und zum Wechsel des Aufmerksamkeitsfokus dienen dem Lernfeld „Üben“ (Geigenband, Thema 10).

Beispiele von Tonträgern und das Vorspielen der Lehrkraft erweitern den Hör-Horizont. Das Zusammenspiel mit Lehrer oder Lehrerin, mit den anderen Kindern der Gruppe, aber auch mit anderen Instrumenten ist als weiteres Lernfeld unverzichtbarer Bestandteil der Konzeption. Die in den Kinderheften abgedruckten Ensemblesätze können vielleicht verhindern, dass das Zusammenspiel mit anderen dann doch wieder vergessen wird oder am Mehraufwand scheitert. Am Ende laden die Instrumente zu einem Vorspiel der besonderen Art ein: Ein bildhaftes Thema, zum Beispiel eine Reise oder eine Zeitmaschine, geben den Rahmen für unterschiedlichste Spielstücke und Improvisationen ab. Auch das Singen hat seinen Platz. Eventuell bezieht schon die Raumaufteilung das Publikum mitten in das Geschehen ein, in jedem Fall bieten sich verschiedene Gelegenheiten zum aktiven Mittun der Besucher. An der Planung des Vorspiels sollten nach Ansicht der Autorinnen und Autoren auch die Kinder beteiligt sein, um schließlich anstatt der manchmal steifen und peinlichen Leistungsschau einen feierlich-freudigen Höhepunkt gemeinsam zu erleben.

Berührungen mit der Elementaren Musikpädagogik

Dass sich auch Aktionsbereiche aus der Elementaren Musikpädagogik im Instrumentalunterricht wieder finden lassen, ist nichts ganz Neues. Schon Claudia Ehrenpreis’ und Ulrike Wohlwenders 1 2 3 KlaVIER(4) sieht auch das Singen, das Bewegen und das Spiel auf Instrumenten des so genannten kleinen Schlagwerks vor. Bettina Schwedhelms Klavierspielen mit der Maus(5) will den kreativen Bereich über die Improvisation genauso fördern wie den reproduktiven. Der erste Band versteht sich als Früherziehung für Fünfjährige und arbeitet unter anderem mit grafischer Notation, Hörübungen und Klanggesten. Umso weniger überrascht es, dass die Unterrichtswerke von „Musik und Tanz für Kinder“ Inhalte, Lieder und Themen aus der Grundstufe aufgreifen. Auch hier wird der ganze Körper mit Klanggesten und Bewegung einbezogen, um Artikulationen, Tempi und Charaktere von Musik erfahrbar zu machen und im Sinne der „anthropologisch fundierten Einheit von Musik und Bewegung“ auch für die fernere Zukunft der Lernenden „Bezugs- und Spielarten von Musik und Bewegung offen zu halten“ (Handbuch, S. 34).

Die Kinder flöten im Liegen, an die Wand gelehnt oder beim Rückwärtsgehen, bewegen sich auf verschiedene Arten durch den Raum und begleiten sich dazu passend selbst auf Flöte und Geige. Und wie es der Titel der Reihe verspricht, wird auch getanzt. Zu Beginn wird dem Explorieren breiter Raum eingeräumt. Wenn zunächst das Instrument erforscht und ausprobiert wird, gilt es für Metzger und Papenberg (Flöten-Handbuch, S. 48), die Experimentierfreude nicht mit technischen Ratschlägen einzuengen, sondern den Kindern zu ermöglichen, ihren eigenen Weg zum Klang zu finden. Um der Klangerzeugung auf die Spur zu kommen, werden auch Alltagsgegenstände angeblasen, eventuell sogar Flöteninstrumente selbst gebaut. Das Klavier wird mit seinem gesamten Tonumfang als „Tönewiese“ für allerlei possierliche Insekten erprobt, seine Größe und Form mittels „Umarmung“ des Instruments durch die ganze Gruppe erfahren. Die Geige wird beklopft und in Gitarrenmanier zum Singen gezupft. Auch der Unterrichtsraum wird auf seine Klang- und Bewegungsmöglichkeiten hin untersucht. Für die Arbeit mit Rhythmen wird die eventuell aus der Grundstufe bekannte Rhythmussprache empfohlen. Wie schon in der Musikalischen Früherziehung gibt es Impulse für Elternmitmachstunden, bei denen die Eltern also nicht nur zuhören dürfen, sondern selbst aktiv mit ihren Kindern spielen können.

Der Aufbau der Unterrichtswerke orientiert sich, wie es auch Ehrenpreis und Wohlwender intendieren, an „Themenbildern“, zu denen die Kinder inhaltlich Zugang haben und mit denen sie eigene Vorstellungen verbinden können. Wüstehube begründet: Wenn wechselnde „Aktivitäten in ein Thema eingebettet sind, werden sie zu Mosaiksteinen eines Ganzen, und der Unterricht kann sich in eine erlebnisreiche Spielphase verwandeln“.(6) So können die Aktionen einer Stunde analog zur Elementaren Musikpädagogik beispielsweise um die Themen „Bahnhof“ oder „Hafen“ kreisen und dabei verschiedenste Impulse zu Rhythmus, Klang, Spieltechniken, Zusammenspiel und Erfindung beinhalten. Die Themen der verschiedenen Instrumentalschulwerke sind zum Teil identisch oder entsprechen einander.

Daneben finden sich auch eher instrumentenspezifische Themen. Bei der Flöte sind das die Lippen (Aufhänger „Essen“), der Atem (Wind) und die Zunge (Zungenbrecher), beim Klavier geht es um Akkorde und arpeggierte Dreiklänge (Schifffahrt, Meereswellen), um Skalen und Passagen („Treppauf, treppab“) sowie um Kadenzen und Begleitformen für Lieder. Das Geigenwerk wiederum thematisiert Stricharten, experimentelle Spieltechniken und besondere Klangeffekte, aber auch Horchen, Zuhören und innere Vorstellung. Die Themen eröffnen auch den Lehrenden Spielräume. Wie bei den Grundstufenwerken wollen sie ein „roter Faden“ sein, eine didaktische Leitlinie für persönliche Arbeitswege (Handbuch, S. 38). Themen und Elemente können eigenständig ausgewählt, in Beziehung zueinander gesetzt, variiert, anhand der Materialien und Vertiefungsvorschläge akzentuiert und in anderer Reihenfolge angeordnet werden. Zur Vorbereitung und Absicherung mancher eher großer Lernschritte wird man vielleicht auch ergänzende Spielliteratur hinzuziehen wollen.

Zehn Fragen zum Instrumentalunterricht

Wie schon angedeutet können die Instrumentalschulwerke der Reihe „Musik und Tanz für Kinder“ mancherlei Fragen und Überlegungen anstoßen. Diese betreffen wichtige Themen der Didaktik: die beteiligten Gruppen – nämlich Kinder, Eltern und Lehrkräfte –, die Unterrichtsziele, -themen und -methoden sowie die Bereiche Pädagogik, Psychologie, Kunst und Kultur. Solche Fragen sollen hier bewusst provokativ zugespitzt werden, um ihre Brisanz herauszustreichen. Die sich jeweils anschließenden Überlegungen zeigen – quasi als Diskussionseröffnung – Ansätze für mögliche Antworten auf.

1. Kinder: Wollen Kinder solch einen Unterricht überhaupt? Finden sie ihn nicht kindisch oder langweilig? Wollen sie nicht eher etwas „Ordentliches“ lernen?

Kinder empfinden durchaus unterschiedlich. Ein Konzept, welches vielfältige Differenzierungsmöglichkeiten anbietet, erleichtert aber das Eingehen auf individuelle Dispositionen und Motivationen. „Musik und Tanz“ bietet vielerlei Anregungen, an die Neugier und die Spielmotivation der Kinder anzuknüpfen. Nach wie vor sind freilich auch die Motivation des Kompetenzzuwachses („Jetzt kann ich schon…“) und die Freude am schönen Ergebnis, also das Berührtsein von Musik, fruchtbar zu machen.(7)

2. Eltern: Wollen die Eltern einen solchen Unterricht? Muss man nicht gerade im Sinne der Kundenorientierung die Wünsche der Eltern ernst nehmen?

Sicher ist pädagogischer Hochmut zu vermeiden und sind die Vorstellungen der Eltern ernst zu nehmen. Andererseits arbeiten pädagogisch Tätige zwangsläufig vor dem Hintergrund ihrer Ideale. Diskrepanzen zwischen den eigenen Auffassungen und den Wünschen der Eltern führen zu einem Dilemma, aus dem man nur durch Austausch und „Aushandeln“ herauskommt. In der Sozialpädagogik gilt die Elternarbeit längst als anspruchsvolle und wichtige Aufgabe.(8) Auch für den Instrumentalunterricht setzt „Musik und Tanz für Kinder“ einen Akzent auf die Elternarbeit. Besonders wenn Eltern im Unterricht dabei sein oder aktiv mitmachen können, wird die Basis für Austausch und Verständnis geschaffen. Die gedruckte Elterninformation macht die Eltern mit Grundgedanken der Konzeption bekannt. Außerdem empfehlen die AutorInnen, „mit den Kindern und den Eltern in gewissen Zeitabständen mittelfristige Zielstellungen abzusprechen“ (Handbuch, S. 37).

3. Lehrkräfte: Können die Lehrkräfte einen solchen Unterricht überhaupt in die Praxis umsetzen? Fehlt es ihnen nicht am entsprechenden Rüstzeug für die Annäherung von Instrumentalunterricht und Elementarer Musikpädagogik?

Dies steht möglicherweise tatsächlich zu befürchten. Die Anfrage ist in diesem Fall an Fortbildungen und die Hochschulausbildung weiterzureichen. Gerade im Studium müsste dann mehr Wert auf Grundlagen der Elementaren Musikpädagogik sowie auf die didaktische Komponente der Pflichtfächer, sozusagen deren „Verwertung“ für die Lernfelder des Instrumentalunterrichts, gelegt werden. Die Bereitschaft zum Weiterlernen gehört aber auch für bereits Berufstätige zur wünschenswerten „Grundausstattung“ der Profession.

4. Unterrichtsziele: Ist es nicht utopisch, alle möglichen Lernfelder im Unterricht zu berücksichtigen, und geht das nicht auf Kosten des Instruments?

Das Musikschul-Ideal, Lernfelder in obligatorischen Ergänzungsfächern abzudecken, scheitert in der Praxis oft an Zeit, Geld und Wille. Es mag aber auch eine besondere Chance in der direkten Verbindung von Instrument und allgemeinem musikalischem Lernen liegen. Das eine kann hier bruchlos für das andere fruchtbar gemacht werden. Eine generelle Vernachlässigung der Lernfelder ist sicher kontraproduktiv für den Unterricht. In diesem Zusammenhang muss man sich schließlich nach den Richt- und Leitzielen fragen, denen man sich verpflichtet fühlt. Kann das Instrument Selbstzweck sein oder ist es letztlich ein Medium für das Erleben von Musik, für ein Leben mit Musik?

5. Unterrichtsthemen: Braucht es wirklich „Themenbilder“ im Sinne von „Spielthemen“? Lenken diese nicht vom Eigentlichen, von Musik und Instrument ab?

Die Themen bieten mentale Anknüpfungspunkte und dienen der „emotionalen Verankerung“(9) von Lernerfahrungen. Sie liefern konkret Vorstellungsbilder für Bewegungen, musikalischen Gehalt und Charaktere. Besonders in Liedern zeigt sich die enge Verbundenheit von Sujet und musikalischer Gestalt; zum Beispiel können Rhythmus, Melodieverlauf, Tempo und Dynamik vom Sujet her geprägt sein. In allen diesen Fällen arbeitet das Spiel mit dem „Thema“ dem musikalischen Erlebnis und der Ausführung unmittelbar zu.

6. Unterrichtsmethoden: Verliert man mit solcherlei Vermittlungsansätzen nicht sehr viel Zeit? Könnte man Kinder nicht in der gleichen Zeit mit gezielten Vorgaben und Übungen viel weiter bringen?

Noch einmal ist hier an die Palette der Lernfelder und Ziele zu erinnern. Sicher dienen nicht alle Anregungen des Unterrichtswerks dazu, die Spieltechnik zu entwickeln. Diese aber verliert ja auch bei „Musik und Tanz für Kinder“ ihre alles beherrschende Stellung im Unterricht. Ein spielorientierter Zugang empfiehlt sich besonders für die ersten, grundlegenden Kontakte mit einer Materie, denn dem Gegenstand oder Stoff wird im Spiel – anders als beim zielgerichteten Handeln – die Möglichkeit gegeben, sich von allen, auch unerwarteten Seiten zu offenbaren.(10) Wie Maria Manturzewska(11) zeigt, beginnt auch die musikalische Biografie professioneller Musiker mit einer Phase der sensorisch-emotionalen Sensibilisierung und des spontanen musikalischen Ausdrucks.(12) Nach den Studien von Keith Swanwick und June Tillman(13) geht der Fähigkeit musikalisch-formal ausgerichteten Improvisierens zunächst das Explorieren des klingenden Materials und danach ein lautmalerisches und illustratives Gestalten voraus.(14) Für Edwin Gordon(15) schließlich stellen vielfältige Hörerfahrungen, das imitative Singen und das eigenständige Kombinieren gehörter Muster Voraussetzungen der Entwicklung des „Denkens in Musik“ („Audiation“) dar. Sensorisch-emotionale Sensibilisierung, spontaner musikalischer Ausdruck, Materialexploration, imitatives und illustratives Gestalten, reiche Hörerfahrungen sowie imitatives und freies Singen sind allesamt wichtige Inhaltsbereiche der Elementaren Musikpädagogik. Die Vermutung liegt nahe, dass sie für die musikalische Entwicklung und Förderung ein unerlässliches Fundament sind, auf das die Instrumentaldidaktik schwerlich verzichten kann.

7. Pädagogik: Ist ein solches Konzept nicht –  fern davon, Allgemeingültigkeit beanspruchen zu können – Auswuchs einer pädagogischen Mode? Würde es nicht in anderen Regionen oder zu anderen Zeiten Befremden auslösen?

Selbstverständlich fließen pädagogische Strömungen in ein Konzept ein, zum Beispiel haben Orff und Dalcroze als Wegbereiter Elementarer Musikpädagogik in einer reformpädagogisch geprägten Zeit gewirkt. Allerdings ist so auch das bis heute einflussreiche „Konservatoriumswesen“ im Sinne einer Rationalisierung, Demokratisierung und Spezialisierung von der Aufklärung und der Französischen Revolution geprägt.(16) Ebenso sind die Suzuki-Methode oder die osteuropäischen Traditionen an ihr Umfeld gebunden. (Kürzlich monierte eine russische Studentin in der Violindidaktik, wir hätten hinsichtlich des Anfangsunterrichts bisher meist über Spiele und das Musizieren gesprochen. Nun wolle sie auch über das entsprechende Technik- und Etüdenprogramm informiert werden. Dass das eine im anderen aufgehen kann, schien für sie undenkbar.) Um nicht einer Mode aufzusitzen, benötigt die Instrumentaldidaktik einerseits den Überblick über ihre Geschichte in verschiedenen kulturellen Umfeldern und andererseits Einsichten in gesellschaftliche Möglichkeiten und Erfordernisse. Für Lehrkräfte gilt es, biografisch gewachsene Überzeugungen bezüglich Autorität, Individualisierung und Partizipation zu reflektieren und mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten auszubalancieren.

8. Psychologie: Ist ein solcher Ansatz für Schulkinder entwicklungsgemäß oder unterfordert er sie nicht gerade in einer Phase, in der sie bereit sind, sich Kulturtechniken anzueignen?

Hier ist an die Gedanken zur Unterrichtsmethodik anzuknüpfen: Besonders Kinder, die keine Grundstufenkurse durchlaufen haben, werden im Instrumentalunterricht von Ansätzen, wie „Musik und Tanz für Kinder“ sie verfolgt, im Sinne eines musikalisch notwendigen Fundaments profitieren. Will man alle Kinder „entwicklungsgemäß“(17) fördern, sind natürlich auch diejenigen, die solche Kurse bereits besucht haben, nach einem Ausdruck von Lew Wygotski(18) in die „Zone der nächsten Entwicklung“ zu geleiten. Dies darf auch bei der Arbeit mit „Musik und Tanz für Kinder“ nicht versäumt werden. Grundsätzlich bedeutet ein an der Elementaren Musikpädagogik orientiertes Arbeiten aber nicht, dass alles einfach wäre! Die einzelnen Anregungen des Unterrichtswerks können durchaus mit hohem Anspruch verbunden werden. Gerade auch an Kompositionen oder Improvisationen kann man feilen.

9. Kunst: Bleibt bei alledem, beim Spielen und Improvisieren, nicht die Kunst auf der Strecke? Ist es etwa schon Kunst, wenn Kinder sich etwas ausdenken?

Den Keim eines künstlerischen Tuns sollten die Lehrenden auch bei der Arbeit mit Liedern, Klangspielen oder Improvisationen anlegen. Er liegt in der authentischen Gestaltung des Materials und im eingebrachten Ausdruckspotenzial. Grundsätzlich ist aber auch der Gedanke einer „musikalischen Alltagssprache“ zu bedenken.(19) Auch im Sprachunterricht steht ja zunächst nicht in erster Linie Literatur im Zentrum, sondern Kommunikation. Musikalische Kommunikation braucht nicht das Etikett der Kunst, um sinnvoller Beitrag zur Bildung zu sein.

10. Kultur: Wird ein solches Konzept der Aufgabe gerecht, ein Kulturerbe zu vermitteln?

Kultur kann als Erbe, aber auch als Auftrag angesehen werden. Sie lebt nicht nur, indem sie tradiert wird, sondern auch indem sie von jungen Menschen immer wieder neu konstruiert wird. Dies geschieht nach Wygotski durch Ko-Konstruktion mit Erfahreneren.(20) Dabei handelt es sich um eine Aneignung im wahrsten Sinne des Wortes. Man macht sich etwas zu eigen, macht etwas Eigenes daraus. Ein Musikwerk etwa klingt doch nur dann überzeugend, wenn die Ausführenden eine wirklich eigene Interpretation bieten beziehungsweise wenn sie die Anregungen ihrer Lehrerinnen und Lehrer zu ihrem eigenen Bedürfnis oder ihrer eigenen Auffassung gemacht haben. Kindern und Jugendlichen im Rahmen ihrer jeweiligen Möglichkeiten die Chance der Kultur-Teilhabe zuzugestehen, hieße als Lehrkraft auch von ihnen zu lernen, ihre Ideen ernst zu nehmen und zu fördern und sie über ihnen gemäße Vorspiele auch direkt die kulturelle Landschaft bereichern zu lassen.

(1) vgl. Michael Dartsch: „Musik als Bildungsgut. Zwischen Transfereffekten, Persönlichkeitsbildung und Identitätsarbeit“, in: Katholische Bildung 3/2002, S. 114-132.
(2) Anselm Ernst: Lehren und Lernen im Instrumentalunterricht. Ein pädagogisches Handbuch für die Praxis, Mainz 1991, S. 44 ff.
(3) Bianka Wüstehube: „Musikalische Elementarerziehung & Instrumentalunterricht. Geschwister, die sich nicht verstehen? – Versuch einer Annäherung“, in: Franz Niermann (Hg.): Elementare musikalische Bildung, Wien 1997, S. 188-207, dort S. 195.
(4) Claudia Ehrenpreis/Ulrike Wohlwender: 1 2 3 KlaVIER. Klavierschule für 2-8 Hände, Heft II, Lehrerkommentar, Wiesbaden 1997.
(5) Bettina Schwedhelm: Klavierspielen mit der Maus, Bd. 1, Hamburg 1996.
(6) Wüstehube, S. 195 f.
(7) vgl. Hans Aebli: Grundlagen des Lehrens. Eine Allgemeine Didaktik auf psychologischer Grundlage, Stuttgart 31995, S. 20.
(8) vgl. Michael Dartsch: Erzieherinnen in Beruf und Freizeit. Eine Regionalstudie zur Situation von Fachkräften in Tageseinrichtungen für Kinder, Opladen 2001, S. 157 f., 237 f.
(9) Ehrenpreis/Wohlwender, S. 21
(10) Michael Dartsch: „Spiel in der Elementaren Musikpädagogik“, in: Üben & Musizieren 3/99, S. 15-19.
(11) Maria Manturzewska: „A Biographical Study of the Life-Span Development of Professional Musicians“, in: Psychology of Music 2/90, S. 112-139.
(12) vgl. Heiner Gembris: Grundlagen musikalischer Begabung und Entwicklung, Augsburg 1998, S. 406.
(13) Keith Swanwick/June Tillman: „The sequence of musical development. A study of children’s musical composition“, in: British Journal of Music Education 3/1986, S. 305-339.
(14) vgl. Gembris, S. 406.
(15) Edwin E. Gordon: A music learning theory for newborn and young children, Chicago 1990.
(16) vgl. Nikolaus Harnoncourt: Musik als Klangrede. Wege zu einem neuen Musikverständnis, München 1985, original 1982, S. 26 f.
(17) vgl. Martin R. Textor: „Der entwicklungsgemäße Ansatz“, in: Wassilios E. Fthenakis/ Martin R. Textor (Hg.): Pädagogische Ansätze im Kindergarten, Weinheim 2000, S. 234-248.
(18) vgl. Martin R. Textor: „Lew Wygotski“, in: Fthenakis/Textor, S. 71-83.
(19) Maria Spychiger: „Howard Gardners Konzept der musikalischen Intelligenz im Rahmen der Entwicklung der Intelligenzforschung“, in: Josef Scheidegger/Hubert Eiholzer (Hg.): Persönlichkeitsentfaltung durch Musikerziehung, Aarau 1997, S. 71-78, dort S. 78.
(20) vgl. Textor, „Lew Wygotski“.