Legenden um den 9. November 1989: Die Maueröffnung bleibt ein Versehen der SED - WELT
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Deutschland Legenden um den 9. November 1989

Die Maueröffnung bleibt ein Versehen der SED

Schabowski bestreitet bestellte Frage zu Maueröffnung Schabowski bestreitet bestellte Frage zu Maueröffnung
Quelle: dpa
Vor fast 20 Jahren fiel die Berliner Mauer. Viele Legenden ranken sich um den 9. November 1989. So auch die um die Frage auf einer Pressekonferenz, die zum berühmten Verspecher Günter Schabowskis und der Öffnung der Grenze führte. Jetzt behauptet der Journalist, der die Frage stellte: Alles war fingiert.

Der Saal im Internationalen Pressezentrum in Ost-Berlin ist restlos überfüllt am frühen Abend des 9.November 1989. Günter Schabowski, der Sprecher des SED-Politbüros, stellt sich den Journalisten. Die Pressekonferenz neigt sich ihrem Ende zu, als um 18.53 Uhr Riccardo Ehrman zu Wort kommt.

„Herr Schabowski, Sie haben von Fehler gesprochen. Glauben Sie nicht, dass es war ein großer Fehler, diesen Reisegesetzentwurf, das Sie haben jetzt vorgestellt vor wenigen Tagen?“, fragt der 60-jährige Chefkorrespondent der italienischen Nachrichtenagentur Ansa in gebrochenem Deutsch.

Schabowski, offensichtlich auf dem falschen Fuß erwischt, setzt unsicher zu einer Antwort an. Nach allgemeinen Sätzen über die Massenflucht aus der DDR aber verkündet er, dass auf Empfehlung des Politbüros ein überarbeitetes Reisegesetz in Kraft treten werde, das die ständige Ausreise und Privatreisen „ohne Vorliegen von Voraussetzungen“ gestatte.

Auf die Nachfrage, ab wann das gelte, sagt Schabowski zögerlich: „Das tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich ...“ Auf diese live im DDR-Fernsehen übertragenen Sätze hin beginnen Ost-Berliner scharenweise an die Grenzübergänge zu strömen.

Dies ist die bekannte Geschichte von der entscheidenden Pressekonferenz, auf der Schabowski versehentlich die Öffnung der Berliner Mauer verkündete. Seit vorgestern aber soll alles ganz anders gewesen sein. Denn Riccardo Ehrman, inzwischen fast 80 Jahre alt, gab dem MDR ein Interview.

Seine Frage nach dem DDR-Reisegesetz sei „kein Zufall“ gewesen, sagte Ehrman dem TV-Magazin „artour“. Er habe vorher einen mysteriösen Anruf eines ihm bekannten SED-Spitzenfunktionärs erhalten, aus dem „U-Boot“, wie der fensterlose Konferenzraum der DDR-Nachrichtenagentur ADN unter Journalisten hieß. Dieser Funktionär habe ihm geraten, in der Pressekonferenz „unbedingt nach dem Reisegesetz zu fragen“.

Am Donnerstag verbreiteten Nachrichtenagenturen dieses Bekenntnis und sorgten für erhebliches Aufsehen – die ARD nahm daraufhin kurzfristig den Beitrag bis auf eine knapp zweiminütige Sequenz aus dem Kulturmagazin seines Regionalprogramms und will das vollständige Interview am kommenden Sonntag in der Sendung „Titel, Thesen, Temperamente“ im Ersten ausstrahlen. Offenbar ist die ARD überzeugt, eine Sensation präsentieren zu können.

Muss also die Geschichte des Mauerfalls umgeschrieben werden? Stand hinter Günter Schabowskis Versprecher eventuell doch ein Plan? Behauptet worden ist das oft. Auch von Schabowski selbst, der sich Anfang der 90er-Jahre gegen den Vorwurf wehrte, er habe am 9. November 1989 aus Unachtsamkeit den Satz „Ab sofort!“ vorgelesen, der erst am Morgen des 10. November richtig gewesen wäre.

Später hat er die Version vertreten, er habe die Reiseregelung bewusst als „Extraknüller“ und „Weltnachricht“ verkaufen wollen. In seinem neuesten Buch „Wir haben fast alles falsch gemacht“ findet sich abermals eine modifizierte Begründung. Nun will Schabowski die Verkündung der Reiseregelung bewusst ans Ende der Pressekonferenz gestellt haben, damit „nur wenig Zeit für peinliche Fragen der Journalisten“ blieb. Auch sein gehetzter, vernuschelter Vortrag des kurzen Textes sei Taktik gewesen: „Ich habe diese Formulierung in schnellem Tempo vorgelesen, weil ich vor der Öffentlichkeit nicht auch noch betonen wollte, dass das ein Schritt aus der Bedrängnis war.“

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Ist der Mauerfall das Ergebnis einer gezielten Indiskretion oder eines kaltblütigen Plans von Schabowski? Und wenn das so sein sollte – warum haben die beiden Hauptprotagonisten seither die Öffentlichkeit an der Nase herumgeführt?

Der Fragende und der Antwortende, die – wie Riccardo Ehrman einmal gesagt hat – „der Weltgeschichte das Stichwort gegeben“ haben. So entschieden Schabowski seine eigenen Überlegungen vertritt, so klar weist er jedoch Ehrmans neue Darstellung zurück: „Das ist völlig absurd. Der italienische Journalist hat seine Frage nach dem neuen Reisegesetz spontan gestellt.“

Tatsächlich spricht viel gegen die neue Variante von Ehrman. Kaum ein Thema war im Herbst 1989 so drängend wie eine für die DDR-Bevölkerung akzeptable Reiseregelung. Im Sommer hatte sich die seit Jahren angestaute Unzufriedenheit vieler ostdeutscher Bürger in einer Massenflucht entladen: Rund 120.000 Menschen stellten Ausreiseanträge, Tausende flüchteten in die Botschaften der Bundesrepublik in Warschau, Budapest und Prag. Erich Honecker reagierte nach altem Muster und verunglimpfte die Flüchtlinge öffentlich: „Wir weinen ihnen keine Träne nach.“

Zugleich ließ die altersstarrsinnige Parteiführung am 3. Oktober den pass- und visumfreien Verkehr in die Tschechoslowakei aussetzen, um Fluchtwilligen den Weg nach Ungarn und damit über die offene Grenze nach Österreich zu versperren. Die Bevölkerung reagierte so entrüstet, dass Egon Krenz Mitte Oktober 1989, nach der Ablösung Honeckers, ein neues Gesetz für Reisen von DDR-Bürgern in Aussicht stellte und die Beschränkungen aufhob. Sofort schwoll der Flüchtlingsstrom wieder an.

Am 6.November, einem Montag, präsentierte die SED-Führung den angekündigten Reisegesetz-Entwurf, im Glauben, ihr sei ein großer Wurf gelungen. In Wirklichkeit machte der Text die Ankündigungen einer politischen „Wende“ in der DDR noch unglaubwürdiger.

Denn beim Lesen des Entwurfs trat Ernüchterung ein: Der Gesamtreisezeitraum war auf 30 Tage pro Jahr beschränkt; er sah Ablehnungsgründe vor, die aber nicht genau definiert waren und den Behörden viel Spielraum ließen; schließlich blieb die Finanzierung der Reisen mit Devisen ungeklärt.

Wenige Wochen zuvor wäre dieser Entwurf wohl noch als Fortschritt begrüßt worden. Doch nun löste er offenen Protest aus. Am folgenden Tag beschloss das SED-Politbüro daher, das Hauptanliegen des Reisegesetz-Entwurfes – den Teil für ständige Ausreisen – vorzeitig in Kraft zu setzen und eine entsprechende Regelung ausarbeiten zu lassen, um den Druck zu vermindern.

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Das sollten am 9. November vier Mitarbeiter des Innenministeriums und der Staatssicherheit erledigen. Sie schrieben in den Regierungsbeschluss über Ausreisen jedoch auch das Recht auf private Besuchsreisen hinein. Einem sofortigen Exodus glaubten sie einen Riegel vorgeschoben zu haben, indem sie ein Visum sowie einen Pass zur Bedingung für die Reisegenehmigung machten, den nur jeder vierte DDR-Bürger besaß.

Angesichts der Zuspitzung der Lage vor dem 9.November erwarteten Politik wie Medien, „dass eine Regelung mit dem Reisegesetz unmittelbar bevorstehen musste“, erinnert sich der damalige Leiter des Westberliner Büros der Nachrichtenagentur AP, Frieder Reimold. Anders wäre „der Deckel nicht mehr auf dem Staat zu halten“.

Sein Kollege Riccardo Ehrman ist seit jenem Abend des 9. November 1989 immer wieder zu seiner Frage in der Pressekonferenz interviewt worden, doch bislang hat er nie etwas von dem mysteriösen Anruf erzählt – weder vor zehn Jahren in einem Gespräch mit der „Berliner Morgenpost“ noch vor zwei Jahren bei WELT ONLINE oder vor drei Wochen beim Gespräch mit dem Magazin „Stern“.

Gegenüber dem Potsdamer Historiker Hans-Hermann Hertle hatte Ehrman für dessen Buch „Mein 9.November“ 1999 ausdrücklich betont: „Ich habe meine Frage an Herrn Schabowski nicht vorher vorbereitet, ich hatte keine Vorabinformationen.“ Ehrman kannte sich jedoch gut aus in der DDR. Der 1929 als Sohn polnischer Juden in Italien Geborene studierte Rechtswissenschaften und arbeitete als Journalist. Von 1976 bis 1982 und noch einmal von 1985 an war er Korrespondent in Ost-Berlin. Dabei hatte er viele Bekanntschaften geschlossen, auch zum damaligen ADN-Generaldirektor Günter Pötschke.

Der ADN-Chef saß seit 1986 als Mitglied im Zentralkomitee der SED. Genau vor diesem Gremium hatte Krenz am Nachmittag des 9.November 1989 mitgeteilt, dass am nächsten Tag eine neue Reisereglung in Kraft treten sollte. Wenn Pötschke damals anwesend war, muss er die Regelung genau gekannt haben. Außerdem war die Pressemitteilung, die über die neue Reiseregelung informieren sollte, zwei Stunden vor Schabowskis Pressekonferenz vom DDR-Regierungssprecher Wolfgang Meyer per Kurier zu ADN geschickt worden – versehen mit einer Sperrfrist: 10.November, vier Uhr morgens. Ein übliches Verfahren, da die Agentur als Monopolist für Nachrichten alle DDR-Medien versorgte.

Was treibt Riccardo Ehrman, erst 20 Jahre nach den Ereignissen mit dieser Version aufzutreten? Das MDR-Team hat ihm diese Frage gestellt. Ehrman, so die „artour“-Redaktion, habe ausweichend geantwortet und dies mit Quellenschutz begründet. Auch aus „Rücksicht“ auf seinen Informanten wollte er dazu nichts sagen. Pötschke allerdings ist im September 2006 gestorben. Gestern schob Ehrman die Bestätigung nach, es habe sich bei dem mysteriösen Informanten aus dem „U-Boot“ tatsächlich um den ADN-Chef gehandelt: „Er sagte mir das von Freund zu Freund.“

Bleibt die Frage, wie glaubwürdig Ehrman ist. Liest man Interviews mit ihm aus den vergangenen Jahren, so fällt immer wieder sein Hang auf, bekannte Ereignisse frei auszuschmücken. Manche Details lassen sich nachprüfen – und erweisen sich als frei erfunden.

Zum Beispiel will Ehrman kurz vor der Pressekonferenz am 9.November 1989 ein Interview mit Helmut Kohl in Dresden geführt haben; doch der Bundeskanzler war im Herbst 1989 nicht in der DDR. Auch will Ehrman Schabowski gefragt haben, ab wann die neue Regelung in Kraft trete; doch auf dem Mitschnitt der Pressekonferenz ist nur ein deutscher Kollege zu hören. Ähnlich unglaubwürdig ist folgende Anekdote Ehrmans: Nach der Pressekonferenz sei er am Bahnhof Friedrichstraße von einem DDR-Offizier gefragt worden, ob Ostdeutsche reisen dürften. Als er dies bestätigt habe, hätte der Grenzkontrolleur die wartenden Menschen per S-Bahn in den Westen fahren lassen. In Wirklichkeit waren die Grenzübergänge in Berlin bis in die Nacht geschlossen; als erster wurde die Kontrollstelle Bornholmer Straße nach 23 Uhr geöffnet.

Doch ganz gleich, welche Version von Ehrmans Erzählung nun stimmt: Umgeschrieben werden muss die Geschichte in keinem Fall. Denn ob der Korrespondent nun einen Tipp bekommen hat oder nicht: Dahinter stand in keinem Fall ein Plan der SED.

Entscheidend für den Fall der Mauer war erstens nicht Ehrmans „bestellte“ oder spontane Frage, sondern Schabowskis Versehen bei der Antwort: Die vorgesehene Reiseregelung sollte nach dem Willen der SED eben nicht „sofort und unverzüglich“ in Kraft treten, sondern am folgenden Morgen in einem geregelten Verfahren. Zweitens gibt es keinen Beleg dafür, dass Pötschke oder andere SED-Größen das eigene System ins Rutschen hätten bringen wollen – doch genau dies musste die Folge einer schlagartigen Maueröffnung sein.

Auch Schabowskis Argument, mit der Möglichkeit einer Ausreise würde sich die neue SED-Spitze als Reformer empfehlen können und so die DDR allmählich stabilisieren, ist wenig überzeugend. Übrigens ist auch seine Erinnerung durchaus flexibel: In seinem jüngsten Buch schildert er, dass er in der Nacht des Mauerfalls überlegt habe, „kraft meiner Wassersuppe als Politbüro-Mitglied“ das Chaos zu beenden und den Kontrolleuren zu befehlen, die Schlagbäume zu öffnen. Für eine solche Anweisung hätte er gar nicht die Befugnis gehabt – die Grenzer an den Übergängen nahmen Befehle nur von der Stasi entgegen, zu der sie nämlich gehörten.

Für Spekulationen und Verschwörungstheorien ist daher kein Platz: Ohne den Fehler des Politbüro-Mitglieds und die übertriebene Zuspitzung seiner Mitteilung durch westliche Nachrichtenagenturen und vor allem das Fernsehen wäre die Berliner Mauer nicht in der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 von Zehntausenden DDR-Bürgern zu Fall gebracht worden.

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