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Film Werner Herzog

Auge in Auge mit fünf Mördern im Todestrakt

Freier Autor
Werner Herzog präsentiert auf der Berlinale seinen großartigen Dokumentarfilm "Death Row". Darin porträtiert er Menschen, denen der Tod bevorsteht.

Bringen wir das Wichtigste gleich hinter uns: Dieser Film ist ein Meisterwerk. „Death Row“ ist Werner Herzogs zweiter Film über Menschen in der Todeszelle, und wie bei seinem ersten – „Into the Abyss“ – geht es weder um das Für oder Wider der Todesstrafe noch um die Schuld oder Unschuld der Delinquenten, nicht also um Argumente, sondern um Menschen. Um vier Männer und eine Frau, die im Gegensatz zu Ihnen und mir nicht nur wissen, dass sie sterben werden, sondern wann, wo und wie, und was in der Zwischenzeit passieren wird, nämlich nicht mehr viel.

Diese Absehbarkeit des Todes war es, wie der Regisseur im Interview mit „The Atlantic“ bekannt hat, was ihn am Projekt fasziniert hat. Herzog bringt diese Menschen zum Reden, die Kamera schaut ihnen ins Gesicht, und die Stimmen und Gesichter und Geschichten lassen einen auch Stunden und Tage später nicht mehr los. Diese Verurteilten sind unheimlicher als Herzogs Aguirre und Woyzeck, unheimlicher als alles, was Klaus Kinski hätte spielen können.

Kinski spielte Verrückte , diese Leute spielen Normale. „Death Row“ leistet für den Film, was Truman Capotes „In Cold Blood“ und Norman Mailers „The Executioner’s Song“ für die Literatur geleistet haben. Sich diesem Film aussetzen bedeutet nämlich, in einen Abgrund zu schauen, der zurückschaut. Und er trägt ein menschliches Antlitz.

„Death Row“, der im Berlinale-Special läuft , ist ein Mehrteiler – vier mal 50 Minuten. Im ersten Film redet Herzog mit dem geständigen Mehrfachmörder James Barnes, der eine unheimliche Ähnlichkeit mit John Malkovich besitzt. Barnes sei „der ultimative Albtraum für eine Frau“, sagte Herzog der Zeitschrift „The Wrap“: „Ein Mann, der die Absicht hat, dich umzubringen, dich zu vergewaltigen, der sich völlig nackt in deinem Schrank versteckt, dich stundenlang beobachtet, wie du dein Essen zubereitest, wie du eine Soap guckst, wie du dich duscht, der beobachtet und beobachtet und beobachtet, und dann kommt er heraus und ermordet dich.“

Der zweite widmet sich Hank Skinner, der seine Freundin und ihre beiden Kindern erstochen haben soll, der aber seine Unschuld beteuert und möglicherweise eine Wiederaufnahme seines Verfahrens erreichen wird. Im dritten kommen George Rivas und Joseph Garcia zu Wort, die zusammen mit fünf Komplizen nach dem filmreifen Ausbruch aus einem texanischen Hochsicherheitsgefängnis einen Supermarkt überfielen und einen zur Hilfe gerufenen Polizisten töteten.

Herzog interessiert sich nicht für Schuld oder Unschuld

Und im vierten Film, unheimlicher als alle anderen, redet Linda Carty, die zwei Drogendealer angestiftet haben soll, eine junge Mutter und ihr Neugeborenes zu entführen, um später die Mutter zu ersticken und das Kind als ihr eigenes auszugeben. Auch Carty beteuert ihre Unschuld.

Herzog interessiert sich aber nicht für die Schuld oder Unschuld der Delinquenten. Genauer. Er bildet sich nicht ein, darüber richten zu können. Im Film kommen nicht nur die Verurteilten, ihre Anwälte oder Familienangehörige zu Wort; Herzog spricht auch mit Staatsanwälten, Polizisten und Reportern, zeigt Fotos und Filme der Ermittlungsbehörden, die am Tatort oder bei Verhören gemacht wurden. Wenn jemand im Interview eine Behauptung aufstellt, die den Ermittlungsergebnissen widerspricht, sagt das der Film dem Zuschauer auch.

„Er wurde getötet. Sehen wir der Sache ins Gesicht“

Jedes Interview ist ein Ringen zwischen Herzog, der den Verurteilten persönliche Erlebnisse, Gefühle, Gedanken abringen will, und seinen Gesprächspartnern, die das Interview möglichst in ihre verzweifelte Strategie zur Abwendung der Todesstrafe einbauen wollen. Dabei lässt der Regisseur – obwohl er sich im Vorspann zu jedem Film, während die Kamera den kurzen letzten Gang von der Todeszelle zum Hinrichtungsraum nachzeichnet, „mit allem Respekt“ von der Todesstrafe distanziert – den Verurteilten nichts durchgehen.

„Ich bin dagegen, dass man Sie hinrichtet, aber mögen muss ich Sie nicht“, sagt er James Barnes bei der ersten Begegnung. Als George Rivas sagt, es tue ihm leid, dass jemand seinetwegen „zu Schaden kam“, sagt Herzog: „Er wurde getötet. Sehen wir der Sache ins Gesicht.“

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Aber ihrer Schuld ins Gesicht sehen können die Verurteilten nicht. Der Mangel an Empathie für die Opfer zeichnet sowohl die aus, die ihre Taten zugeben als auch jene, die ihre Unschuld beteuern. Es ist, als ob sie die Toten vergessen hätten. Darauf weist auch die Staatsanwältin hin, die Carty in die Todeszelle gebracht hat. „Wir Menschen neigen dazu, nach vorne zu sehen“, sagt sie. „Wir denken daran, was einer Mörderin bevorsteht, wir vermenschlichen sie, wir haben Mitgefühl. Mein Job ist, an die Opfer zu erinnern.“ Herzog interveniert: „Ich vermenschliche nicht. Für mich ist Carty einfach ein Mensch.“ „Well …“, sagt die Staatsanwältin, und blickt ins Leere.

Hier gelten die Gesetze der Welt nicht

Carty und die anderen sind Menschen, deren Leben oft so trostlos und hässlich wirken wie die Tatorte, die Herzog mit seiner gnadenlosen Kamera aufsucht. Bevor sie in der Vorhölle des Todestrakts landeten, haben alle diese Leute, die erstaunlich intelligent und zugleich erschreckend dumm wirken, seit der Kindheit eine schauerliche Parallelwelt bewohnt. Kindesmissbrauch und Gewalt, Alkohol und Drogen, Diebstahl und periodische Gefängnisaufenthalte stellen hier die Normalität dar, hier gelten die Gesetze jener Welt nicht, die wir für die normale halten.

„Wenn mir jemand was tut, gehe ich nicht zur Polizei. Dann tue ich ihm was“, sagt einer der Drogendealer, die von Carty zum Überfall auf ihre Nachbarin angestiftet worden sein sollen. Die Hässlichkeit dieses Lebens in der Fremde scheint in der Hässlichkeit und Isolation des Todestrakts nur potenziert.

Genaues Hinsehen statt Verstehen

Herzog fragt die Insassen nach ihren Träumen. Vielleicht erwartet er Bilder von einem Spaziergang in der Natur, vom freien Atem unter Vogelsang und blauem Himmel. Doch Hank Skinner antwortet: „Wenn ich hier rauskäme, würde ich 1000 Dollar nehmen, in den Supermarkt gehen, drei, vier Einkaufswagen zusammenbinden wie einen Eisenbahnzug und sie einfach volladen. Mann, für einen Avocado mit Tequila könnte ich töten … Na, nicht töten, aber Sie verstehen schon, was ich meine.“

Auch ums Verstehen geht es Herzog nicht. Sondern ums Abbilden: So ist es hier. Aus diesen Leben kommen diese Leute. In diesen Tod gehen sie. Dieses genaue Hinsehen ist viel mehr als ein Verstehen. Es ist ein Aushalten. Ganz großes Kino.

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