Über den Gegensatz von Figuration und Abstraktion, von realistischer Darstellung und freier Formfindung können sich Kunsthistoriker erhitzen. Vor einem Werk von Chuck Close verstummt der Streit, beide Lager treten cool vor und zurück, schauen aus der Ferne, gehen ganz dicht ran ans Bild. Closes Gemälde und Zeichnungen provozieren die Gleitsicht und die Erkenntnis, dass abstrakt und gegenständlich in der Kunst eben doch kein Gegensatzpaar sein müssen.
Chuck Close, der sich in seinem berühmten Selbstbildnis von 1968 so nahekommt, wie kaum ein Maler zuvor, wurde oft als Hyperrealist bezeichnet. Und hat sich natürlich gegen diese Kategorisierung gewehrt, wie es alle Künstler tun. Doch es ist tatsächlich ein fotografisch übergenauer Hyperrealismus, der mit der heutigen Popularität des deutschen Wörtchens im Englischen mit über realism gut beschrieben wäre.
Gemälde aus Gittern von Punkten
Der amerikanische Maler gehörte in den Sechzigerjahren zu einer Gruppe von Künstlern, die Bilder nach Fotografien und mithilfe fotografischer Projektion malten. Wie seine Künstlerfreunde Richard Estes und Ralph Goings nahm er die Wirklichkeit genauer aufs Korn, als es das Auge schaffte.
Während der Sehsinn immer zwischen Fokussierung und Unschärfe verhandelt und dabei vieles aus dem Blick verliert, bemühen sich diese Fotorealisten auf der Leinwand ganz besonders scharfzustellen. In der Porträtmalerei hat Chuck Close damit größte Meisterschaft erlangt.
Der Kurator Harald Szeemann entdeckte Closes Qualität und holte ihn im Jahr 1972 mit den anderen Fotorealisten auf die Documenta 5. Realismus war damit, nach zwei Jahrzehnten des Informel, des Minimalismus und der Konzeptkunst, plötzlich wieder im Mittelpunkt zeitgenössischer Kunstbetrachtung angekommen.
Close beugte den Realismus in den folgenden Jahren wieder in Richtung Abstraktion. Er baute seine Gemälde aus Gittern von Punkten, Kringeln, Pixeln auf, um aus diesem strengen Formalismus heraus immer wieder individuelle Porträts zu schaffen.
Dass Malen im Kopf stattfindet, bewies Close mit seinem Spätwerk. Wegen eines Aneurysmas nahe der Wirbelsäule gelähmt, saß er seit 1988 im Rollstuhl, erlangte die Bewegung seiner Arme nur langsam wieder und schuf doch in jenen Jahren einzigartige Bildnisse von den Protagonisten der New Yorker Kunstszene, etwa von Cindy Sherman, Eric Fischl, Alex Katz, Kara Walker, von seinem langjährigen Galeristen Arne Glimcher von der Pace Gallery und immer wieder – in schonungsloser Eitelkeit – von sich selbst.
Der Kopf machte Chuck Close in seinen letzten Lebensjahren weit mehr Probleme als die Malerei, die längst zu einer gängigen und hoch bezahlten Marke geworden war. Im Jahr 2013 wurde bei Close Alzheimer diagnostiziert, seit 2015 litt er unter fortschreitender Demenz.
2017 warfen ihm Frauen sexuelles Fehlverhalten vor, was Close bestritt. Er hätte sich anzüglich geäußert, gab er im Zuge der Me-too-Debatte später zu. Am 19. August 2021 ist Chuck Close im Alter von 81 Jahren in New York gestorben.