Faktencheck zu "maischberger"

Sendung vom 07.05.2024

Faktencheck

Die Gäste (v.l.n.r.): Dietmar Bartsch, Ulrike Herrmann, Sigmund Gottlieb, Bettina Böttinger, Thomas de Maizière, Christian Dürr
Die Gäste (v.l.n.r.): Dietmar Bartsch, Ulrike Herrmann, Sigmund Gottlieb, Bettina Böttinger, Thomas de Maizière, Christian Dürr | Bild: WDR / Oliver Ziebe

Bei Maischberger wird engagiert diskutiert, Argumente werden ausgetauscht, es wird auch schon mal emotional und manchmal bleibt am Ende keine Zeit, um alles zu klären. Wenn Fragen offen bleiben, Aussagen nicht eindeutig waren oder einfach weitere Informationen hilfreich sein könnten, schauen wir nach der Sendung noch einmal drauf – hier in unserem Faktencheck.

Und das schauen wir uns an:

  • Was bedeutet eigentlich der Begriff "Leitkultur"?

Was bedeutet eigentlich der Begriff "Leitkultur"?

Mit dem ehemaligen Verteidigungs- und Innenminister Thomas de Maizière (CDU) sprach Sandra Maischberger unter anderem über den Begriff der Leitkultur. Eine Debatte darüber sei in seinen Augen "nicht konservativ, sondern richtig". Es gehe dabei darum, dass man sich darüber verständige, welche Grundwerte man teile. Er verwies auf die Themen Gewalt, Respekt und das Verhältnis zur eigenen Geschichte. Die Leitkultur sei "ein gemeinsames Band", das die Gesellschaft zusammenhalte.

Debatte um "Leitkultur": Was bedeutet der Begriff überhaupt? | Video verfügbar bis 07.05.2025

Maischberger: "Trotzdem die wichtige Frage für die CDU und damit natürlich auch für das demokratische Gefüge in diesem Land ist: Wohin geht diese Partei? Wir haben Daniel Günther gehört, der vor dem Parteitag gesagt hat: Eigentlich war Angela Merkel mit ihrem Kurs der Mitte sehr erfolgreich und die CDU würde jetzt Wähler, die sie mal hatte, in der Mitte nicht mehr ansprechen. Auf der anderen Seite eben die Debatte um Leitkultur. Das war etwas, was Angela Merkel nie wollte. Wohin soll diese CDU gehen? Richtung Merkel? Richtung Leitkultur?"

De Maizière: "Ja, das ist eine überholte Fragestellung. Ich selbst gelte ja nun als Merkelianer, wenn Sie so wollen. Ich habe selbst einen großen Aufsatz über Leitkultur gemacht und da war sie auch nicht sehr glücklich darüber. Aber ich finde schon gut, dass man sich darüber verständigt: Was hält ein Land, eine Gesellschaft im Innersten zusammen? Das hat relativ viel zu tun mit dem Gewalt-Thema, was gerade diskutiert wurde. Mit Höflichkeit, Respekt, unser Verhältnis zur Geschichte von Bach bis Auschwitz. All das steht nicht im Grundgesetz, wie die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Und Vielfalt, die wir haben und die wir wollen, braucht irgendwie ein gemeinsames Band. Hausordnung, was Herr Gottlieb sagt, ist mir schon zu regulatorisch. Aber ein gemeinsames Verständnis, Zusammenhalt können Sie auch sagen. Sich darüber zu verständigen, was dazugehört, das finde ich nicht konservativ, sondern richtig."

Hintergrund: Woher kommt der Begriff "Leitkultur"?

Der Begriff wurde nicht von der CDU erfunden, sondern geht auf den Politikwissenschaftler Bassam Tibi zurück. Dieser führte die Leitkultur im Jahr 1998 als Integrationskonzept ein. Laut eigener Aussage ging es ihm darum, ein Gegenkonzept zu der islamischen Weltanschauung zu liefern, die in "muslimischen Parallelgesellschaften" in Europa vorherrsche, und den "Multikulturalismus" zu überwinden, bei dem sich alle Gemeinschaften auf ihre eigene Wertebasis fixieren würden. Tibi entwickelte die Leitkultur als ein europäisches Konzept und versteht sie als eine "säkuläre wertebezogene Hausordnung", die für alle Menschen gilt. Sie solle die Rahmenbedingungen für die Integration von Einwanderern in die europäische Identität liefern und gleichzeitig die kulturelle Vielfalt erhalten.

Eine erste öffentliche Debatte über den Begriff der Leitkultur entfachte, als der damalige CDU-Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz im Oktober 2000 in einer Bundestagsrede forderte, dass sich Migranten einer "freiheitlichen deutschen Leitkultur anpassen" sollten. Diese Aussage bekräftigte er in einem Artikel, der am 25. Oktober 2000 in der "Welt" erschien und überführte Bassam Tibis Konzept einer Europäischen Leitkultur in einen nationalen deutschen Kontext. In seinem Aufsatz mit dem Titel "Einwanderung und Identität" stellt Merz fest, dass Einwanderung nur erfolgreich sein könne, wenn sich die Zuwanderer an "die Regeln des Zusammenlebens in Deutschland" halten würden. Als Minimalkonsens dieser Regeln definiert er die Gleichberechtigung von Mann und Frau, Freiheit, Menschenwürde und darüber hinaus das Verstehen und Sprechen der deutschen Sprache, "auch dann, wenn das Grundgesetz dazu schweigt".

Auch andere Unionspolitiker griffen das Konzept der Leitkultur auf und teilten die Auffassung, dass die Achtung des Grundgesetzes nicht ausreiche, um eine multikulturelle Gesellschaft zusammenzuhalten. Der damalige Innensenator Berlins, Jörg Schönbohm (CDU), hatte bereits 1998 in der Berliner Zeitung gefordert, integrationswillige Ausländer sollten sich an eine "deutsche Leitkultur" anpassen. Edmund Stoiber (CSU) rief auf dem CSU-Parteitag 2004 dazu auf, die "christliche Prägung unseres Landes" zu verteidigen, und forderte mehr Patriotismus. Er erklärte, wer in Deutschland lebe, habe die "Bringschuld", sich zu deutschen Grundwerten zu bekennen, andernfalls müsse man Sozialleistungen kürzen. Auch Angela Merkel (CDU) äußerte gegenüber dem Magazin "Focus", wer hier lebe, müsse "ohne Wenn und Aber auf dem Boden des Grundgesetzes stehen und unsere christlich-abendländischen Wurzeln tolerieren".

Diese Leitkultur-Debatte zog viel Unmut auf sich. Kritiker mahnten, man stelle nichteuropäische Ausländer und vor allem Muslime unter einen Generalverdacht. Dies sei "verantwortungslos und brandgefährlich". "Der Spiegel" titelte, bei der Leitkultur gehe es um eine "Operation Sauerbraten". Man wolle Minderheiten die deutsche Kultur aufzwingen. In der Leitkultur-Debatte sahen sowohl Migrationsforscher als auch Journalisten eine politische Strategie, die auf Abgrenzung ziele. Ein zentraler Kritikpunkt war und ist zudem die Uneindeutigkeit des Konzepts. "Jeder im Land hat eine Meinung dazu, aber niemand weiß, wofür sie steht", heißt es im "Spiegel", denn es gebe keine "deutsche Dominanzkultur". Georg Seibt schrieb 2014 in der "Zeit", die Leitkultur reiche "von der Beherrschung der deutschen Sprache bis zu abendländischen Werten". Der Inhalt sei diffus und unklar.

Auch aus den eigenen Reihen erntete die Union Kritik. Günther Beckstein (CSU) mahnte zur Zurückhaltung. Wolfgang Schäuble (CDU) lehnte die Debatte als missverständlich ab und erklärte im Jahr 2006, als Bundesinnenminister: "Der Islam ist Teil Deutschlands und Europas". Trotzdem schaffte es der Begriff der "deutschen Leitkultur" in das Grundsatzpapier der CDU aus dem Jahr 2010.

Im Jahr 2017 verfasste der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière, in einem Gastbeitrag für die "Bild am Sonntag", zehn Punkte zur Skizzierung einer deutschen Leitkultur und entfachte damit die Debatte erneut. Als diejenigen, die die Leitkultur definieren, identifiziert er zunächst deutsche Staatsbürger, aber auch Menschen, die schon lange ohne Staatsbürgerschaft in Deutschland leben. Seine Thesen, – "Wir sagen unseren Namen. Wir geben uns zur Begrüßung die Hand. […] Wir zeigen unser Gesicht. Wir sind nicht Burka." – erregten besonderes Aufsehen und stießen in der Bevölkerung auf Ablehnung. Die Union wurde wieder beschuldigt, Muslime unter einen Generalverdacht zu stellen. Die Diskussion darüber, was eine spezifische deutsche Kultur sei, wurde erneut losgetreten. Zuspruch bekam de Maizière aus seiner eigenen Partei, aus den anderen politischen Lagern erntete er überwiegend Kritik. Im Gespräch mit Sandra Maischberger verteidigte de Maizière sein Zehn-Punkte-Papier. Mit dem Begriff Leitkultur wolle man sich nicht von muslimischen Menschen abgrenzen, er habe nicht beabsichtigt dieses Bild zu erzeugen. Trotzdem unterstütze er auch heute noch die Aussage, "dass eine Burka den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht fördert".

Heute genießt die Leitkultur-Debatte wieder hohe Aktualität. Unter dem Parteivorsitzenden Friedrich Merz will die CDU u.a. mit den Schlagworten Freiheit, Sicherheit und Leitkultur zurück in die Regierung. Anfang 2024 wurde zum ersten Mal seit 17 Jahren ein neues CDU-Grundsatzprogramm formuliert. In diesem heißt es: "Mut zur Leitkultur. Wir wollen eine Gesellschaft, die zusammenhält. Alle, die hier leben wollen, müssen unsere Leitkultur ohne Wenn und Aber anerkennen. Zu unserer Leitkultur gehören die Achtung der Würde jedes einzelnen Menschen und die daraus folgenden Grund- und Menschenrechte, unser Rechtsstaat, demokratische Grundprinzipien, Respekt und Toleranz, das Bewusstsein von Heimat und Zugehörigkeit, Kenntnis der deutschen Sprache und Geschichte sowie die Anerkennung des Existenzrechts Israels. Nur wer sich zu unserer Leitkultur bekennt, kann sich integrieren und deutscher Staatsbürger werden." Das Grundsatzprogramm wurde auf dem CDU-Bundesparteitag am 07.05.2024 beschlossen.

Fazit: Der ehemalige Verteidigungs- und Innenminister Thomas de Maizière (CDU) erklärte in der Sendung, es sei richtig eine Debatte über die Leitkultur zu führen, da sie definiere, was die Gesellschaft zusammenhalte. Der Begriff wird immer wieder verwendet, wenn über Zuwanderungspolitik in Deutschland diskutiert wird. Manche Politiker sprechen davon, dass es eine "deutsche Leitkultur" gebe, an die sich ausländische Menschen, die hier leben, halten sollen. Innerhalb der Union, aber auch im gesamtdeutschen Diskurs, ist eine Leitkultur-Debatte seit über zwei Jahrzehnten präsent. Ursprünglich entwickelt als ein europäisches Integrationskonzept, wurde die Leitkultur auf politischer Ebene in einen nationalen deutschen Kontext gerückt. Das Konzept stößt jedoch an seine Grenzen, da nicht eindeutig spezifiziert ist, was die "deutsche Kultur" umfasst. Außerdem stellt sich die Frage, wer das Konzept der Leitkultur definiert.

Stand: 08.05.2024

Autorin: Aylin Geweniger