Zusammenfassung
In Zeiten einer wissenschaftlichen Krise wird vielfach in, Kreisen, die der Wissenschaft fernstehen, das bis dahin starke Vertrauen zu ihren Ergebnissen erschüttert, und man hört dann oft das Wort vom „Zusammenbrach der Wissenschaft“. In Wirklichkeit sind solche Krisenzeiten meist durch besondere wissenschaftliche Fruchtbarkeit ausgezeichnet, während die vorausgegangene Zeitepoche teilweise der Gefahr anheimfiel, in übergroßem Vertrauen auf die erzielten Errungenschaften in dogmatischem Schlummer zu erstarren. So hielt man die Physik am Ende des vorigen Jahrhunderts für „eine nahezu voll ausgereifte Wissenschaft, die wohl bald ihre endgültige stabile Form angenommen haben würde“. „Wohl gäbe es vielleicht in einem oder dem anderen Winkel noch ein Stäubchen oder ein Bläschen zu prüfen und einzuordnen, aber das System als Ganzes stehe ziemlich gesichert da1.“ Auch in der Biologie herrschte am Ende des vorigen Jahrhunderts eine ähnliche Situation. Unter dem starken Eindruck des Entwicklungsgedankens, dem Dabwins Tat zum Durchbruch verholfen hatte, und der besagte, daß die Organismen sich von einfacheren zu komplizierteren entwickelt haben, hatte man geglaubt, auch die schwierigere Frage des Wie dieser Entwicklung im Prinzip gelöst zu haben mit den völlig unzureichenden Mitteln jener Zeit. Relativitätstheorie und Quantentheorie in der Physik sowie experimentelle Vererbungswissenschaft und Entwicklungsphysiologie in der Biologie haben in beiden Wissenschaften eine Aufrüttelung der Geister verursacht und eine Zeit fruchtbarer neuer Theorienbildung und neuer experimenteller Forschung hervorgebracht, in der beide Disziplinen noch mitten drin stehen. Dabei ist die Lage in beiden Wissenschaften äußerst verschieden. Die Physik, die auf eine dreihundertjährige Entwicklung von ungemeiner Folgerichtigkeit zurückbücken kann, deren Methode und Exaktheit bis zum äußersten ausgebildet ist, gerät gerade infolge dieser folgerichtigen Weiterentwicklung in eine Lage, die Zweifel an Grundprinzipien aufkommen ließ, die 3 Jahrhunderte hindurch als die gesicherten Grundlagen dieser Wissenschaft galten. Die Biologie dagegen, eine ganz junge Wissenschaft, deren Gegenstand von ungemein komplexer Natur ist, befindet sich erst im Zustand des Ringens um die richtige Methode und um saubere Begriffs- und Theorienbildung.
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References
So hat nach Planck sein Lehrer PH. Von Jolly ihm bei Beginn seines Studiums den damaligen Stand der Physik geschildert (PLAHCK 1933, S. 128). 25 Jahre Kaiser Wilhelm-Gesellschaft. Bd. II. 1
„Ein Wesen, das solchen Vorwissens nicht mächtig und seines Zutreffens in gewissen Grenzen nicht doch sicher wäre, hätte keinen Spielraum eigenen Tuns in der Welt, es wäre zu Untätigkeit verurteilt. Ein rein aposteriorisches Erkennen wäre im Leben selbst praktisch wertlos“ (NIE:. HABTMANN 1935, S. 24).
So sagt Planck 1933, S. 99: „Die Welt kümmert sich nicht einen Pfifferling darum, ob der Solipsist wacht oder schläft und selbst, wenn er für immer die Augen schlösse, würde sie kaum eine Notiz davon nehmen, sondern ihren gewöhnlichen Gang weitergehen.“
Eine Ausnahme machen nur manche Gesetzlichkeiten der Physiologie des Stoffwechsels.
Eingehend ist dieser Standpunkt in Nik. Haktmanns Metaphysik der Erkenntnis (2. Aufl. Berlin 1925) begründet. Siehe auch BAVINK: Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaften (5. Aufl., Leipzig 1933).
MACH hatte bereits im 19. Jahrhundert die Lehren vom absoluten Raum, der absoluten Zeit und absoluten Bewegung einer eingehenden Kritik unterzogen und so EIHSTBIN vorgearbeitet.
Diese irrationale Grenze kommt auch in der BoHRschen Komplementaritätslehre zum Ausdruck. Wenn, wie das im atomaren Geschehen der Fall ist, das Meßergebnis durch den Meßvorgang beeinflußt wird, so werden nach BOHR die raum-zeitliche und die kausale Betrachtung komplementär; d. h. da Raum-und Zeitmessung vom Messungsvorgang abhängig ist, so ist eine eindeutige Definition des Zustandes des Systems nicht mehr möglich, und es könne daher nicht mehr von Kausalität im gewöhnlichen Sinne die Rede sein. „Nach dem Wesen der Quantentheorie müssen wir uns also damit begnügen, die Raum-Zeit-Darstellung und die Forderung der Kausalität, deren Vereinigung für die klassischen Theorien kennzeichnend ist, als komplementäre, aber einander ausschließende Züge der Beschreibung des Inhalts der Erfahrung aufzufassen, die die Idealisation der Beobachtungsbzw. Definitionsmöglichkeiten symbolisieren.“ (N. BOHR, 1928, S. 245.) Die Komplementarität findet ihren Ausdruck in den beiden sich widersprechenden Theorien der Optik, der Wellentheorie und Emissions (Lichtquanten)-Theorie. Beide Theorien haben recht, wobei jedoch die Wellentheorie dem Bedürfnis nach raumzeitlicher Erfassung, die Quantentheorie dem nach kausaler Erfassung entspricht.
Die neueren Formulierungen Ton HEISENBERG sind dagegen so vorsichtig gefaßt, daß sie mit der allgemeinen Geltung der Kausalität als Kategorie, wie sie hier vertreten wird, gut in Einklang zu bringen sind.
So sagt PLANCK: „In dem Weltbilde der Quantenphysik herrscht der Determinismus ebenso streng wie in dem der klassischen Physik, nur sind die benutzten Symbole andere, und es wird mit anderen Rechenvorschriften operiert. Dementsprechend wird in der Quantenphysik ebenso wie früher in der klassischen Physik die Unsicherheit in der Voraussage von Ereignissen der Sinnenwelt reduziert auf die Unsicherheit des Zusammenhanges zwischen Weltbild und Sinnenwelt, d. h. auf die Unsicherheit der Übertragung der Symbole des Weltbildes auf die Sinnenwelt und umgekehrt“ (PLANCK S. 247). Auch andere hervorragende Physiker, wie Einstein, V. Laue, H. WEYL halten an der strengen Geltung des Kausalsatzes fest.
Anm. bei der Korrektur: In prinzipiell gleicher Weise hat in einem während der Drucklegung erschienenen Vortrag BE. BAUCH (Zum Problem der Kausalität. Blätter für deutsche Philosophie, 1935. S. 125) den Fehler, der zur Krisis der Fassung und Formulierung der Kausalität geführt hat, herausgestellt. Wie hier von einer Übersteigerung und Überspitzung des Kausalitätsgedankens in der klassischen Physik, so spricht BAUCH von einer Überbestimmtheit der klassischen Formulierung der Kausalität. Auch GEETE HEEMANN hat in einem soeben erschienenen Aufsatz in den Naturwissenschaften (S. 718) in klarer Weise auf diese verschiedene Verwendung des Begriffes Kausalität hingewiesen und gezeigt, daß die Quantenmechanik keineswegs das Kausalgesetz widerlegt hat; „aber sie hat es geklärt und von anderen Prinzipien befreit, die nicht notwendig mit ihm verbunden sind“. (S. 721.)
In dem Wort „Wirkungsquantum“ kommt dieses Zusammensein von Substanz und Kausalität gut zum Ausdruck.
DRIESCH macht allerdings einen scharfen Unterschied zwischen solcher Wirkungseinheit (einfacher „Wohlgeordnetheit“) und echter Ganzheit. Dieser Unterschied ist aber nur dadurch möglich, daß die Eigengesetzlichkeit des Lebens, die besondere vitale Beschaffenheit des Organischen, von ihm mit zur Definition des Ganzheitlichen herangezogen, der Vitalismus demnach als bereits bewiesen vorausgesetzt wird.
Die Begriffe Zweckmäßigheit, Zielstrebigheit und Ganzheitsbezogenheit sind hier, wie das vielfach geschieht, gleichbedeutend verwendet. Das ist an sich nicht richtig, da, wie DRIESCH, SAPPER U. a. näher ausgeführt haben, den einzelnen Begriffen ein verschiedener Bedeutungsgehalt zukommt. Der Begriff Zweckmäßigkeit würde am besten ganz vermieden und durch Zielstrebigheit ersetzt. Die Ganzheitsbezogenheit ist der weitere Begriff (worin wir mit SAPPER übereinstimmen), die Zielstrebigkeit der engere, der nach SAPPER nur für Organismen zutrifft. DRIESCH jedoch verknüpft gerade Ganzheitsbezogenheit mit Zielstrebigkeit und bringt in seine Definition von Ganzheit die Eigengesetzlichkeit des Lebens mit hinein. Wenn man den Vitalismus als nicht bewiesen betrachtet, wie wir das mit SAPPER tun, dann fällt der Begriff Ganzheit mit Wirkungseinheit zusammen und trifft, wie oben ausgeführt, auch für leblose Naturkörper zu. Zielstrebigkeit ist demgegenüber weit charakteristischer für die Lebewesen (SAPPER). Aber Zielstrebigkeit, Gerichtetheit des Geschehens ist auch nicht etwas, das nur auf organisches Geschehen zutrifft, was aber hier nicht näher ausgeführt werden kann. Bei der hier gebotenen Kürze in der Behandlung des Problems kann die etwas ungenaue Gleichsetzung von Zielstrebigkeit und Ganzheit, ohne Mißverständnis herbeizuführen, Verwendung finden.
Die Lösung des Regulationsproblems ist dadurch natürlich nicht erbracht. Aber die Möglichkeit einer Lösung auf einem Wege, der früher nicht gesehen wurde, ist wenigstens damit gezeigt.
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Hartmann, M. (1936). Philosophie der Naturwissenschaften. In: Hartmann, M. (eds) 25 Jahre Kaiser Wilhelm-Gesellschaft ƶur Förderung der Wissenschaften. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-47338-8_1
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