4. Montage – filmanalyse.at

4. Montage

4.1 Definition Montage

Montage bezeichnet die Verbindung der einzelnen Einstellungen. Als Einstellung bzw. Shot wird das Ergebnis eines einzelnen kontinuierlichen Aufnahmevorgangs der Kamera bezeichnet1. Montage kann unter technischen als auch unter ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet werden. Die Begriffe Montage und Schnitt werden oftmlas synonym verwendet. Manchmal wird mit Schnitt aber ausschließlich der technische Aspekt und mit Montage der ästhetische bezeichnet.

4.2 Grundlegende Montagekonzepte: Continuity system versus Kollisionsmontage; die innere Montage

Die russischen Regisseure und Filmtheoretiker Wsewolod I. Pudowkin und Sergej Eisenstein stellen die Montage ins Zentrum ihrer Überlegungen. Die Montage ist für sie das zentrale filmspezifische Gestaltungsmittel. Jedoch ziehen sie im Grunde entgegengesetzte Konsequenzen für ihre normativen Filmästhetiken aus dieser Überzeugung.
Pudowkin kann als Theoretiker des continuity system (unsichtbarer Schnitt) betrachtet werden, dass sich praktisch schon zuvor im Hollywoodkino vor allem durch die Filme von David Wark Griffith entwickelt hat. Bei dieser Montage-Ästhetik, die den Regelfall darstellt, soll der Schnitt von den ZuschauerInnen möglichst unbemerkt bleiben, d.h. sie ist so gestaltet, dass die Abfolge der Einstellungen das Nachvollziehen der Handlung unterstützt und sich als Gestaltungsmittel nicht in den Vordergrund der Wahrnehmung drängt (entsprechende theoretische Schriften verfasste der Regisseur Wsewolod Pudowkin im Zeitraum der 1920er bis in die 1940er Jahre).
Eisenstein wird vor allem mit den Begriffen Kollisionsmontage und Assoziationsmontage in Verbindung gebracht. Der Bruch beim Wechsel der Einstellungen, indem die Geschlossenheit von Raum und Zeit ignoriert wird und die gezeigten Objekte und Ereignisse dadurch auch keiner Handlungslogik folgen, tritt deutlich hervor und soll die ZuschauerInnen verstärkt zur Bedeutungskonstruktion veranlassen (Sergej Eisenstein prägte den Begriff und entwickelte seine Montage-Theorie zeitgleich zu Pudowkin.). Diese Form der Montage bildet im narrativen Spielfilm jedoch eine Ausnahme.

Erwähnt werden sollte hier noch kurz die sogenannte innere Montage frz.: découpage en profondeur (= Montage in der Schärfentiefe); engl.: depth of field, deepstaging, staging in depth2, bei der es sich nicht um Montage im engeren Sinne handelt, d.h. es werden keine Einstellungen aneinandergefügt sondern um eine Form der Bildgestaltung. Auf den Begriff der inneren Montage und der Plansequenz, der in gewisser Weise mit dem der inneren Montage zusammenhängt, wird unter Punkt 4.5 ausfürhlich diskutiert.

Assoziationsmontage: Ineinanderschneiden verschiedener Handlungsabläufe, die sich nicht raum-zeitlich aufeinander beziehen. Eine Verknüpfung kann hier z.B. durch eine ähnliche Bewegung, die Ähnlichkeit von Objekten und/oder auf der Ebene der Bedeutung entstehen. Die Assoziationsmontage ist damit streng genommen eine spezifische Unterform der Parallelmontage. Das Konzept wurde von dem russischen Regisseur und Filmtheoretiker Sergej M. Eisenstein das erste Mal und am prominentesten formuliert und umgesetzt. Die Szene, die in diesem Zusammenhang immer genannt wird ist die Niederschlagung des Arbeiteraufstands durch die Kosaken in einer Parallelmontage montiert mit der Schlachtung eines Stiers in einem Schlachthaus in seinem Film Streik (Orig. Stachka; UdSSR 1925, Regie: Sergej M. Eisenstein, siehe rechts).

Streik (Orig. Stachka; UdSSR 1925, Regie: Sergej M. Eisenstein)

Mit Einschränkungen können auch die letzten beiden Einstellungen in North by Northwest (USA 1959, Regie: Alfred Hitchcock) als Assoziationsmontage bezeichnet werden. Auf die Einstellung mit dem sich küssenden Liebespaar folgt die Aufnahme eines Zuges, der in einen Tunnel einfährt, um den Sexualakt zu symbolisieren. Die Aufnahme erhält ihre symbolische Bedeutung dezidiert erst durch die vorhergehende Einstellung. Im Gegensatz zu Eisensteins Montage in Streik (Orig. Stachka; UdSSR 1925, Regie: Sergej M. Eisenstein) (vgl. oben) sind die beiden Einstellungen aber handlungs-, raum- und zeitlogisch miteinander verbunden. Die Figuren befinden sich in einem Zugabteil und die Aufnahme eines Zuges in einer Totalen bildet eine Art nachgeordneten Establishing-Shot. Bei Eisenstein sind die Ereignisse Niederschlagung des Arbeiteraufstands und die Abschlachtung des Stiers nicht auf diese Weise verbunden. Die Schlachtung des Tiers ereignet sich vielmehr in einer Art symbolischen Raum. Der Bezug kann also nur assoziativ hergestellt werden, während bei Norht by Northwest (USA 1959, Regie:Alfred Hitchcock) die letzte Einstellung einfach als Fahrt des Zuges, in dem die Protagonisten in die Flitterwochen fahren, in einen Tunnel, betrachtet werden kann, die dann in die Schwarzblende als konventionelle Endmarkierung eine Films überleitet.
Eine ironische Umgehung des Hays-Codes (Motion Picture Production Code)3, der zur Produktionszeit des Films noch herrschte, aber immer weniger streng umgesetzt wurde, bis er gegen Ende der 1960er Jahre ganz abgeschafft wurde. Die von den Filmstudios eigens gegründete MPPDA (Motion Picture Producers and Distributors of America) verfasste den Code unter der Schirmherrschaft von William Hays, eigentlich um staatliche Zensur zu umgehen. Im Wesentlichen ging es beim Hays-Code um Einschränkungen bei den Darstellungen von Sexualität und Gewaltverbrechen, aber auch Blasphemie und Drogenkonsum, etc. Zunächst wurde er ab 1930 als eine Art freiwllige Selbstkontrolle konzipiert, aber als ein staatliches Zensurgesetz verabschiedet werden sollte, wurde der Code noch strenger gefasst und schließlich 1934 für die Filmemacher verbindlich.

4.3 Formen des Einstellungswechsels

4.3.1 Harte Schnitte

Harte Schnitte in Stranger than Paradise (USA/D 1984, Regie: Jim Jarmush)

harte Schnitte: Der Begriff des harten Schnitts wird in doppelter Bedeutung verwendet. Ein harter Schnitt kann die Funktion einer filmischen Interpunktion, z.B. einer Zäsur erfüllen. Er wird so gesetzt, dass der Umbruch deutlich ins Bewusstsein der ZuscherInnen rückt. Die Einstellung wirkt dann in der Regel wie plötzlich abgebrochen. Das wäre die ästhetische Definition des harten Schnitts (siehe dazu rechts die Beispielszene aus Stranger than Paradise) (USA/D 1984, Regie: Jim Jarmush).
Unter einem harten Schnitt wird aber auch ein einfacher Einstellungswechsel verstanden. Diese Form des Einstellungeswechsels stellt den statistischen Normalfall dar und wird von den ZuschauerInnen auch nicht als abrupte Brüche wahrgenommen, da die Montage nach dem continuity system erfolgt, d.h. die Einstellungen sind visuell und auditiv so miteinander verbunden, dass nahtlose Übergänge suggeriert werden und sich problemlos plausible Anschlüsse von den ZuschauerInnen konstruieren lassen. Das wäre die technische Defintion des harten Schnitts .

4.3.2 Weiche Schnitte

Alle Möglichkeiten sogenannter weicher Einstellungswechsels hier aufzulisten, würde zu weit führen. Aus Gründen der Übersichtlichkeit konzentriert sich die Darstellung hier auf die gebräuchlisten Sonderformen. Dazu gehören unter anderem Ab- und Aufblende (auch mit Irisblende), Überblendung (mit Doppelbelichtung), Wischblende.

Wischblende und Split-Screen: In dieser Szene aus Dr. Jekyll and Mr. Hyde (USA 1931, Regie: Rouben Mamoulian) setzt im Prinzip eine Wischblende zum Einstellungswechsel an, die in der Mitte stoppt und das Bild zerteilt, so dass für eine Weile zwei Einstellungen gleichzeitig sichtbar werden. Die Besonderheit ist hier, dass die Wischblende einem Scheibenwischer vergleichbar erfolgt und das Bild in zwei Dreiecke anstatt in zwei Kader teilt.
Dr. Jekyll and Mr. Hyde (USA 1931, Regie: Rouben Mamoulian)
Überblendungen, Überblendungen mit Mehrfachbelichtung, Montagesequenz

4.4 Montagekonventionen

4.4.1 Schuss-Gegenschuss, das 180°-Prinzip

Zwischen zwei Einstellungen besteht eine Verbindung auf der Blickachse: Eine Figur schaut in eine bestimmte Richtung und die folgende Einstellung zeigt, was sie sieht. Eine Standardsituation ist der Dialog zwischen zwei Figuren, wie in der nebenstehenden Grafik skizziert wird. Die Kamera bewegt sich dabei in der Regel in dem gestrichelt umrandeteten Bereich, um in der Wahrnehmung der ZuschauerInnen eine flüssige Verbindung der Einstellungen zu erzeugen. Dabei sollte bei jedem Einstellungswechsel die Position der Kamera mindestens 30 Grad von der vorhergehenden Position abweichen, damit deutlich wird, dass das Geschehen aus einer anderen Position gezeigt wird und nicht der Eindruck eines Sprungs entsteht. Hierbei handelt es sich um Konventionen, die aber aus unterschiedlichen Gründen auch immer wieder nicht befolgt werden, etwa aus ästhetischen, um bewusst eine Irritation zu erzeugen, oder weil diese Konventionen schlicht in einer anderen Filmkultur nicht gelten oder zumindest weniger strikt gelten. In dem japanischen Film Früher Frühling (Orig.: Sôshun; J 1956, Regie: Yasujirô Ozu) etwa verstößt die Inszenierung immer wieder gegen das 180° Grad-Prinzip (vgl. hier).

aus: Handbuch der Filmmontage, Hans Beller, Hg. 1993, München: TR-Verlagsunion, S. 16

In Crouching Tiger, Hidden Dragon (Taiw./HK/USA/Chin. 2000, Regie: Ang Lee) ist der Dialog zwischen Li Mu Bai und Lu Shu Lien geradezu lehrbuchartig mit dem Schuss-Gegenschuss-Verfahren und dem 180°-Prinzip aufgelöst. Die Kamera steht auf den Positionen B1, B2 und C1, C2 (siehe Grafik) und zeigt die Figuren so mit Over-the-Shoulder-Shots und Großaufnahmen. Lediglich der Mastershot (A1), mit dem oftmals eine Dialogszene beginnt, wird hier ca. in der Mitte des Dialogs quasi nachgereicht.

Crouching Tiger, Hidden Dragon (Taiw./HK/USA/Chin. 2000, Regie: Ang Lee)

In dem japanischen Film Früher Frühling (Orig.: Sôshun; J 1956, Regie: Yasujirô Ozu) wird das 180°-Prinzip nicht eingehalten. Beachten Sie die Blickachsenkonstruktionen in der Unterhaltung der drei Männer bis Minute 02:39.

Früher Frühling (Orig.: Sôshun; J 1956, Regie: Yasujirô Ozu)

Auch mit konventionellen filmischen Verfahren, die den ZuschauerInnen eine Orientierung in Raum und Zeit gewährleisten sollen, kann genau diese hintertrieben werden, wie das nebenstehende Beispiel aus Mulholland Drive (F/USA 2001, Regie: David Lynch) zeigt.

4.4.2 Parallelmontage

Parallelmontage: Parallelmontage ist zunächst einmal ein allgemeiner technischer Begriff für das Ineinanderschneiden verschiedener Handlungsabläufe. Synonym dazu wird häufig auch der Begriff cross-cutting verwendet, der aber auch als eine spezifische Unterform der Parallelmontage verstanden wird (siehe weiter unten). Ein frühes Beispiel in der Filmgeschichte für Parallelmontage ist The Great Train Robbery (USA 1903. Regie: Edwin S. Porter), bei dem unter anderem die Geschehnisse in der Bahnstation und das Ankommen des Zuges ineinandergeschnitten werden. Der Film gilt außerdem als der erste Western und zeigt die Problematik der Genreabgrenzungen, da er ebenso Kriterien des Gangsterfilms erfüllt (siehe rechs).
Des Weiteren etablierte der Regisseur David Wark Griffith die Parallelmontage als filmisches Gestaltungsmittel.

Ob es sich tatsächlich um die erste Parallelmontage im Film, den ersten Western und den ersten Gangsterfilm handelt, sei einmal dahingestellt. Auf jeden Fall ist The Great Train Robbery (USA 1903, Regie: Edwin S. Porter) eines der beliebtesten Beispiele, wenn es um diese Themen in der einschlägigen Literatur geht.

Oftmals ist bei Parallelmontagen aber ein zeitlicher Zusammenhang gegeben, eben dass sich die Handlungen parallel an verschiedenen Orten ereignen. Die Parallelmontage wird dann oft eingesetzt, um die Dramatik der in Zusammenhang stehenden Handlungen zu verschärfen. Eine Szene, die oftmals als Beispiel dient, ist die Parallelmontage aus Hitchcocks Strangers on a Train (USA 1951, Regie: Alfred Hitchcock). In einer Parallelmontage kann die Dramatik zusätzlich durch eine Stetigerung der Schnittfrequenz und damit einen rascheren Wechsel der Handlungsstränge gesteigert werden. Auch ist es möglich, dass sich die parallelen Handlungsstränge aufeinender zu bewegen um in einer gemeinsamen Sequenz zu kulminieren.

4.4.3 Cross-Cutting

Silence of the Lambs (USA 1991, Regie: Jonathan Demme): Angetäuschtes Cross-Cutting, das sich als Parallelmontage entpuppt.

Cross-Cutting: Ineinanderschneiden von Handlungen, die am selben Handlungsort stattfinden, die aber dennoch eine gewisse räumliche Trennung erfahren, also etwa zwei Unterhaltungen, die zeitgleich in derselben Wohnung aber nicht im selben Zimmer stattfinden. Bei dieser Definition bildet das Cross-cutting eine Unterform der Parallelmontage. Das nebenstehende Beispiel aus Silence of the Lambs (USA 1991, Regie: Jonathan Demme) verdeutlicht nicht nur sehr gut den Unterschied zwischen Cross-Cutting und Parallelmontage, sondern es zeigt auch, wieso eine Unterscheidung dieser beiden Montagetechniken sinnvoll ist. Im Filmbeispiel wird den ZuseherInnen ein Cross-Cutting suggeriert, indem zwei scheinbar zusammengehörige Handlungsstränge, vor und in einem Haus gezeigt werden. Da die ZuschauerInnen durch ihre Seherfahrungen darauf konditioniert sind, verknüpfen sie beide Handlungsstränge nicht nur zeitlich sondern auch örtlich, die Totale des Hauses wird damit als Establishing-Shot interpretiert und der zweite Handlungstrang gedanklich in diesem Haus verortet. Diese (Fehl)Schlüsse werden jedoch nicht allein von der Montage erzeugt sondern auch von der Handlungslogik gestützt. Wenn sich am Ende des Beispiels herausstellt, dass die Unterstellung von räumlicher Kontinuität und Objektkonstanz ein Trugschluss war, wirkt der Umschnitt auf die Protagonistin im Türrahmen für die ZuseherInnen überraschend: sie sind einer (mikrostrukturellen) Form der falschen Fährte aufgesessen und nun gezwungen, das Gesehene rückwirkend neu einzuordnen bzw. zu bewerten.

4.4.4 Match-Cut

Match-Cut: Beim Match-Cut wird der Eindruck einer kontinuierlichen Bewegung über zwei oder mehr Einstellungen erzeugt, die in der Regel mit großen Raum-Zeitsprüngen verbunden werden. Die „Träger“ der Bewegung (Objekte oder Figuren) können, müssen dabei aber nicht dieselben sein, weisen in der Regel aber zumindest eine ähnliche Form auf.

Der wohl berühmteste Match-Cut der Filmgeschichte: 2001: A Space Odyssey (UK/USA 1965-68, Regie: Stanley Kubrick)
und ein weiterer Match-Cut in North by Northwest (USA 1959, Regie:Alfred Hitchcock)

4.4.5 Montagesequenz

Montagesequenz wird im Grunde eine spezifische Form der erzählerischen Verdichtung von längeren Handlungsabschnitten genannt. Meistens handelt es sich dabei um Entwicklungen, die viel filmische Zeit in Anspruch nähmen, wenn sie ausgeführt würden. Häufig finden sich solche Sequenzen in Sportlerfilmen, wenn das harte, langwierige Training gezeigt wird (siehe Filmausschnitt aus Rocky (USA 1976, Regie: John G. Avildsen) rechts). Dabei zeigt sich eine Leistungssteigerung eben erst nach stetiger Routine. Um diese Routine darzustellen, aber eben für die ZuschauerInnen auch nicht langatmig werden zu lassen und wertvolle Filmzeit zu verlieren, werden solche Handlungsabschnitte verdichtet erfahrbar gemacht.4

Aber auch der Zerfall einer Ehe kann so quasi im Zeitraffer erzählt werden. Die Verdichtung zeigt diesen Zerfall weniger als Drama denn mit einem ironischen Unterton. Die Routine des täglichen gemeinsamen Essens und die dabei stetig wachsende Entfremdung zwischen Frau und Mann erscheinen damit als typisch und weniger als individuelles Problem.

In Rocky IV (USA 1985, Regie: Sylvester Stallone) werden die Verfahren Parallelmontage und Montagesequenz miteinander kombiniert. Im Grunde handelt es sich hier auch noch um eine Art Kontrastmontage im Sinne Pudowkins, gleichzeitig werden auf der Ebene der Trainingsmethoden und der damit einhergehenden vergleichbaren Bewegungsdynamiken auch Entsprechungen der beiden Gegner inszeniert. Hier von Match-Cuts zu sprechen, würde den Begriff wohl zu weit dehnen, da für eindeutige Match-Cuts die Suggestion einer Kongruenz der Bewegungen noch deutlicher sein müssten.

4.4.6 Jump-Cut

Jump-Cut: Bei einer durchgehenden Handlung werden Teile herausgeschnitten, wobei aber keine Ellipsen sondern Sprünge entstehen.
Als Standard-Beispiel für Jump-Cuts wird in der Literatur zur Filmanalyse in der Regel Jean-Luc Godards À bout de souffle (F 1960, Regie: Jean-Luc-Godard) genannt. Godard hat hier Jump-Cuts als erstes als ästhetisches Mittel eingesetzt. Interessant ist hier, dass sich die Einstellungsgröße auf die Figur der Frau bei einer Autofahrt durch Paris nicht verändert , dafür aber der Hintergrund. Anders verhält es sich bei Spielbergs E.T. the Extra-Terrestrial (USA 1982, Regie: Steven Spielberg). Hier ändert sich sprunghaft die Einstellungsgröße auf den Jungen, ohne dass sich die Blickachse verändert, so dass der Effekt eines Jump-Cuts durch die Verletzung der 30°-Regel entsteht.

Jump-Cuts in À bout de souffle (F 1960, Regie: Jean-Luc-Godard)
Jump-Cuts in E.T. the Extra-Terrestrial (USA 1982, Regie: Steven Spielberg)

4.6.7 Sonderform: Split-Screen-Verfahren

Beim Split-Screen-Verfahren wird der Bildkader in mehrere Kader unterteilt. Diese Unterteilung kann durch deutlich erkennbare Linien angezeigt werden, Bilder können sich aber auch überlappen. Ein Verfahren, das von der Bildästhetik dem Split-Screen-Verfahren gleichen kann, ist der sogenannte Split-Fokus-Diopter, ein spezielles Objektiv, mit dem Objekte im Bildvordergrund und im Bildhintergrund scharf aufgenommen werden können, während der Raum dazwischen unscharf bleibt. Dieses Gestaltungsmittel wird etwa in Blow Out (USA 1981, Regie: Brian De Palma) verwendet.

The Boston Strangler (USA 1968, Regie: Richard Fleischer) handelt von dem authentischen Fall eines Serienmörders in 1960er Jahren. Albert deSalvo verlässt seine Wohnung mit Frau und Tochter, um einen weiteren Mord zu begehen. Eine Plakatwerbung mit der Abbildung einer nackten Frau darauf, an der er mit seinem Auto vorbeifährt, fungiert als zusätzlicher Trigger. Er schließt seine Augen, die Kamera zoomt in eine Detailaufnahme seiner Augen (auch Italienische genannt, da diese Einstellung in Italo-Western häufig verwendet wurde), die sich schließen und es bildet sich eine Kadrierung in der Kadrierung. An dieser Stelle beginnt der Einsatz des Split-Screen-Verfahrens in dieser Szene. Zunächst wird der Mörder zeitgleich in mehreren Kadrierungen gezeigt. In einer Einstellung etwa ist die Figur in zwei kleineren Kadern jeweils einer Großaufnahme und einer Nahaufnahme zu sehen und in einer größeren in einer Mischung aus Halbtotalen und Totalen Einstellung in seinem Auto. Der entrückte Blick des Mannes, das Wissen der ZuschauerInnen um dessen Verbrechen, die er in einer Art Trancezustand zu begehen scheint, unterstützen die Wahrnehmung des Split-Screen-Verfahrens als visuelle Darstellung seiner psychischen Zersplitterung. Später in der Szene wird das Opfer und der Weg des Mörders zu ihr in mehreren Kadern parallel gezeigt. Die Funktion des Split-Screens wird an dieser Stelle zur Entwicklung von Suspense genutzt. Der Mörder auf der Pirsch in der einen Bildhälfte und das nichtsahnende und der Macht des Zufalls ausgelieferte Opfer gleichzeitig in der anderen.

In Hulk (USA 2003, Regie: Ang Lee) wird das Splitscreen-Verfahren in allen erdenklichen Weisen durchdekliniert. Ungewöhnlich ist hier die extreme Dynamisierung der Kader in sich und zueinander. Der Film greift damit einerseits die Panelstruktur der Comicvorlage auf und entwickelt diese mit filmischen Mitteln zu eigenen Bildstrukturen weiter.

In nebenstehender Szene etwa ersetzt das Split-Screen-Verfahren eine shot-reverse-shot-Montage bei einem Blickwechsel von drei Figuren. Der Moment, der deutlich einen bevorstehenden Konflikt zwischen dem den Raum verlassenden blonden Mann, Talbot (Josh Lucas), und dem brünetten sitzenden Mann, Bruce Banner (Eric Bana), suggeriert wird zusätzlich durch Zeitlupe akzentuiert. Die durch eine Glasscheibe von dem Raum der Männer abgetrennte Frau folgt besorgt ihrem Blickduell. Die Dynamisierung der Kadrierungen ist dabei in einem Tempo gehalten, das den ZuschauerInnen reichlich Zeit beim Betrachten lässt.

Im Gegensatz dazu wird in dieser Szene aus Hulk (USA 2003, Regie: Ang Lee) mittels des Split-Screen-Verfahrens mit der narrativen Struktur eines cross-cutting das Geschehen stark dynamisiert. Die drei Handlungen, die sich aufeinander beziehen, werden gleichzeitig im Bild gezeigt und mit unterschiedlichen Panelstrukturen jeweils hervorgehoben, parallelisiert oder zurückgenommen. So bildet der Umriss einer Figur ein Panel, das ein Teil eines anderen Panels bildet, nämlich als Talbot (Josh Lucas) von den Flammen eingehüllt wird. Die Umrisse seines Körpers bilden deutlich erkennbare Linien, zusätzlich hebt er sich von dem ihn umgebenden Geschehen insofern ab, als dass er „einfriert“, das Panel also einen freeze-frame ist. Erstaunlich ist hier, dass man als ZuschauerIn nicht den Überblick verliert, obwohl der Film hier zusätzlich zu der Beschleunigung auch umso deutlicher seine Form hervorhebt.

4.5 Wider die Montage: Innere Montage und Plansequenz

An dieser Stelle Begriffe für filmische Gestaltungsmittel aufzuführen, die der Montage entgegengesetzt sind, erscheint zunächst widersinnig, erklärt sich aber dadurch, dass innere Montage und Plansequenz in eine Einstellung integrieren, was in der Regel in Montage aufgelöst wird, sie sich unter anderem also ex negativo durch die Montage definieren.

4.5.1 Innere Montage

Innere Montage frz.: découpage en profondeur (= Montage in der Schärfentiefe), profondeur de champ (=Schärfentiefe des szenischen Handlungsfeldes, Tiefe des Bildfeldes); engl.: depth of field, deepstaging, staging in depth5: Der Begriff der Inneren Montage, wird auf Andre Bazins filmtheoretische Schrift „Die Entwicklung der Filmsprache“6 zurückgeführt, wo er so allerdings nicht vorkommt, wohl aber in der Literatur zu Bazins Texten7 und der Begriff der inneren Montage in dem oben zitierten (Online-) Lexikon der Filmbegriffe aufgenommen wurde. Bazin schreibt konkret:

„Der moderne Regisseur verzichtet mit den in Schärfentiefe gedrehten Plansequenzen nicht auf die Montage – wie könnte er auch, ohne ins Stottern der Anfänge zu verfallen –, er intergriert die Montage in seine Gestaltung.“8

Der Begriff der inneren Montage (zum Begriff der Plansequenz siehe unten) ist zunächst etwas irreführend, da technisch gesehen keine einzelnen Einstellungen aneinandergefügt werden. Vielmehr handelt es sich bei innerer Montage um eine spezielle Form der Bildkomposition, durch die Bedeutung und Dramatik auch ohne Schnitte erzeugt wird. Um dies zu erreichen, greifen die FilmemacherInnen hauptsächlich auf ausgefeilte Bildkompositionen und planvolle Tiefenschärfe über mehrere Bildebenen zurück, die mit Kamerabewegungen einhergehen kann aber nicht muss. Die Montage wird zum Stilmittel der Bildgestaltung, wodurch nach Bazin die Geschlossenheit von Raum und Zeit der abgefilmten Realität beibehalten wird. Damit wird die einzelne Einstellung nicht nur technisch sondern auch dramaturgisch die kleinste Einheit, da der (erweiterte) bildliche Inhalt einer Einstellung, bei der Inneren Montage, das zeigt was die Montage nur aneinanderreiht und die Realität dadurch zerstückelt. Die ZuschauerInnen sollen sich so aussuchen können, wohin sie im Bild schauen und werden selbst zu ihren eigenen RegisseurInnen.
Bazins aus heutiger Sicht schon fast naiv anmutendes und leidenschaftliches Plädoyer für die Plansequenz mit Schärfentiefe im Dienste eines Realismus des Films ist aber vor allem als Gegenentwurf zu Eisenstein und Pudowkin ebenso normativen filmtheoretischen Positionen zu verstehen, die die Montage als das zentrale filmspezifischen Gestaltungsmittel des Films ins Zentrum ihrer Überlegungen stellen.

Als Beispiel für eine Innere Montage nennt Bazin in „Die Entwicklung der Filmprache“9 die nebenstehende Sequenz aus Citizen Kane (USA 1941, Regie: Orson Welles). In der Sequenz wird der Selbstmordversuch von Kanes Ehefrau entdeckt, die Einstellung ist in die Tiefe komponiert und erfüllt damit Bazins filmästhetische Vorstellungen tiefenscharfer Plansequenzen, technisch ist diese Einstellung allerdings mit Mehrfachbelichtung hergestellt10, wodurch sie in drei Ebenen gegliedert werden kann: die Arzneiflasche im Vordergrund, die dahindämmernde Susan im Mittelteil und der in das Zimmer stürzende Kane im Hintergrund. Jede dieser Ebenen liefert den ZuseherInnen Informationen durch die er, ganz ohne Schnitt und Kamerabewegung, die „Geschichte“ zusammensetzten kann. Da der Blick bei der Inneren Montage weniger stark gelenkt wird fordert sie mehr Eigenleistung von den ZuschauerInnen, sie müssen selbst entscheiden wo die dramaturgisch relevanten Bereiche des Bildes liegen und wie diese zu kombinieren bzw. interpretieren sind.

4.5.2 Die Plansequenz

Konkret bedeutet Plansequenz eine lange Einstellung, auch long take (nicht zu verwechseln mit dem long shot, was nur die englische Bezeichnung für die Einstellungsgröße Totale ist), eben ohne Schnitt, mit oftmals langen komplizierten Kamerabewegungen, die aber nicht zwingend sind, um eine Einstellung als Plansequenz einzustufen. Eine spektakuläre Plansequenz, die häufig als Beispiel herangezogen wird, ist der Anfang von The Touch of Evil (USA 1958, Regie: Orson Welles) unter Mise-en-image auch als Beispiel für eine Kranfahrt zu finden. Ab welcher Dauer eine Einstellung zur Plansequenz wird, unterliegt keinen strikten Kriterien.

4.5.2.1 Zur Unterscheidung von Sequenz und Szene

Doch was ist eigentlich eine Sequenz und worin unterscheidet sich eine Sequenz von einer Szene? Auch die Verwendung dieser beiden Begriffe ist nicht unproblematisch, da sie in der Literatur teils synonym verwendet oder jeweils anders definiert werden (vgl. zu der Problematik der Definitionen von Sequenz und Szene Anton Fuxjägers Film- und Fernsehanalyse – Einführung in die grundlegende Terminologie, S. 27f11. Beide Begriffe bezeichnen dramaturgische Einheiten bzw. Handlungsabschnitte aus zusammengehörigen Einstellungen. Zum Beispiel spielt ein Teil der Filmhandlung auf einer Party. Dabei wechselt die Inszenierung zwischen mehreren Gruppen, um verschiedene voneinander unabhängige Dialoge zu zeigen (Das Hin- und Herschneiden zu verschiedenen kleineren Handlungsorten innerhalb eines größeren umfassenden Ortes wird auch cross-cutting genannt.). Diese Dialoge wiederum bestehen bei konventionellen Inszenierungen aus mehreren Einstellungen. In der Regel wird der gesamte Teil mit der Party als Sequenz bezeichnet und die kleineren dramaturgischen Einheiten also die einzelnen Dialoge als Szenen. So zumindest werden die Begriffe zumeist voneinander abgegrenzt. Es könnten aber die einzelnen Dialoge auch in jeweils einer Einstellung gedreht werden. Die Kamera fährt um die GesprächspartnerInnen herum, schwenkt zwischen den Figuren, die sich unterhalten hin und her, etc. Dann wären die einzelnen Szenen der Sequenz anstatt mit Montage in lauter Plansequenzen gefilmt, die bei einer stringenten Verwendung der Begriffe Sequenz und Szene eher als Planszenen bezeichnet werden müssten. Die ganze Party-Sequenz könnte aber auch in einer langen Einstellung gedreht werden, in der die Kamera von Gruppe zu Gruppe fährt und die Dialoge zeigt. Dann würde der Begriff der Sequenz in Plansequenz wieder einigermaßen stringent verwendet. Was beide Varianten jedoch gemeinsam haben, ist der Umstand, dass in einer Einstellung zeigt wird, was in der Regel in Montage aufgelöst wird.
Übrigens, was als dramaturgische Einheit oder Handlungsabschnitt angesehen wird, ist stark von der jeweils analysierenden Person abhängig.

Eine Besonderheit bilden sogenannte One-Shot-Filme oder One-Take-Filme, also Filme, die tatsächlich oder den Eindruck erzeugen, dass sie in einer Einstellung gedreht wurden. Theoretisch fallen auch sehr viele Filme aus der Frühzeit des Films darunter, aber mit One-Shot-Filme sind Langfilme (auch feature films12) gemeint.
Manche One-Shot-Filme arbeiten mit verschleierten Schnitten, d.h. sie sind technisch betrachtet nicht in einer Einstellung gedreht. Rope (USA 1948, Regie: Alfred Hitchcock) gilt als frühes Beispiel für einen One-Shot-Film. Da die Filmtechnik noch nicht so weit war, konnte eine Einstellung nur längstens die Dauer einer Filmrolle haben und die die Schnitte mussten kaschiert werden. Die Brüche wurden etwa verschleiert, indem eine Figur so nahe an der Kamera vorbeiging, dass das Bild quasi handlungslogisch verdunkelt wurde. Tatsächlich wurde an dieser Stelle ein Schnitt gesetzt. Auch 1917 (USA/UK/India/CA/Spain/China, Regie: Sam Mendes) besteht im Prinzip aus mehreren separat gedrehten Einstellungen die aber aufgrund fortgeschrittener technischer Möglichkeiten so miteinander verbunden wurden, dass keine Schnitte sichtbar sind.
Russian Ark (orig. Russkiy kovcheg; Russ./D/J/Can./Fin./DK, Regie: Alesandr Sokurov), Victoria (D 2015, Regie: Sebastian Schipper) und Utøya 22. Juli (Nor. 2018, Regie: Erik Poppe) hingegen sind Beispiele für Filme, die in einer Einstellung gedreht wurden, was ein hohes Maß an Durchhaltevermögen für die am Dreh beteiligten Personen bedeutet.
Die Entscheidung einen Film in einer Einstellung zu drehen, oder ihn so wirken zu lassen, ist technisch immer noch eine Herausforderung. Ein Grund, diese Entscheidung zu treffen kann sein, dass durch eine lange Plansequenz eine Einheitlichkeit von Zeit und Raum suggeriert werden soll. Im Zusammenhang mit One-Shot-Filmen fällt deshalb oftmals auch der Begriff des Echtzeitfilms. Grundsätzlich ist mit Echtzeitflim eine Inszenierung gemeint, die suggeriert, dass die dargestellte Zeit und die filmische Zeit deckungsgleich sind (vgl. dazu Lexikon der Filmbegriffe13). In Bezug auf das obegenannte Partybeispiel bedeutet das, dass wenn die gesamte Sequenz 15 Minuten dauert, auch die abgelaufene Zeit innerhalb der Geschcihte 15 Minuten beträgt. Eine Inszenierung in einer langen Plansequenz wäre eine gute Möglichkeit einen Echtzeiteffekt zu erzeugen. Aber auch mit Montage oder mehreren gleichzeitig filmenden Kameras wäre ein Echtzeiteffekt möglich. Die beiden Begriffe bezeichnen also unterschiedliche Dinge und gehören nicht zwangsläufig zusammen.

4.5.2.2 Theoretiker der Plansequenz und Beispiele

Ein Name, der im Zusammenhang mit der Plansequenz nicht unerwähnt bleiben darf, ist der schon oben im Zusammenhang mit der sogenannten inneren Montage erwähnte französische Filmtheoretiker, Filmkritiker und Mitbegründer der berühmten Filmzeitschrift Cahiers du cinéma André Bazin. Bazins einflussreicher Aufsatz Die Entwicklung der Filmsprache (Orig.: L’évolution du langage cinématographique), der aus drei Artikeln zusammgesetzt wurde, die 1951, 1952 und 195514 entstanden, versucht eine normative Filmtheorie zu entwickeln, die sich ganz einem filmischen Realismus verpflichtet. Bazin setzt die Plansequenz nicht mit Kamerabewegungen in Beziehung sondern mit der Schärfentiefe (synonym auch Tiefenschärfe). Als Beispiel nennt er die bereits oben angeführte Szene aus Citizen Kane (USA 1941, Regie: Orson Welles) mit dem Suizidversuch der Figur Susan, bei der es sich im Grunde um eine lange Einstellung handelt, die Komposition des Bildes sich aber vom Vordergrund bis in den Hintergrund erstreckt. Ein weiteres Beispiel aus Citizen Kane (USA 1941, Regie: Orson Welles) im Sinne Bazins, dieses Mal mit Kamerabewegung, bildet die berühmte Szene, in der die Mutter von Kane die Übergabe ihres Sohnes an einen Vormund regelt, während Charles im Hintergrund mit seinem Schlitten im Schnee spielt.

Ein ähnliche Position wie Bazin vertritt der russische Regisseur Andrej Tarkowskij (auch Andrei Tarkovsky) in seinem Buch Die versiegelte Zeit – Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films. Er entwickelt seine Überlegungen ebenfalls in Abgrenzung zu den Montagetheoretikern, wenn er schreibt:

Das filmische Bild wird völlig vom Rhythmus beherrscht, der den Zeitfluß innerhalb einer Einstellung wiedergibt. Die Tatsache, daß der Zeitfluß auch im Verhalten der Personen, in den Darstellungsformen und auf der Tonebene zu beobachten ist, ist lediglich eine Begleiterscheinung, die – theoretisch gesprochen – auch ausfallen könnte, ohne daß das Filmwerk dadurch in seiner Existenz getroffen würde. So kann man sich beispielsweise auch einen Film ohne Schauspieler, ohne Musik und filmarchitektonische Bauten, ja, sogar ohne Montage vorstellen. Keinesfalls aber einen Film, in dessen Einstellung nicht der Zeitfluß spürbar würde.“15

Diese Zeilen können als direkte Replik auf folgende Aussage Pudowkins aus seiner Schrift Filmtechnik – Filmmanuskript und Filmregie gelesen werden:

„Ich behaupte, daß jeder Gegenstand, der nach einem bestimmten Gesichtspunkt aufgenommen und dem Zuschauer auf dem Bildschirm gezeigt wird, tot ist, auch wenn er sich vor der Kamera bewegt hat. Das sich vor der Kamera bewegenden Objekt bedeutet noch lange keine Bewegung in der Komposition, es ist nicht mehr als das Rohmaterial, aus dem durch den Aufbau, die Montage, die eigentliche Bewegung in der Komposition der verschiedenen Einstellungen entsteht.“16

Tarkowskijs ästhetische Konzeption gleicht der von Bazins bei der Emphase mit der auf die Bedeutung der Einstellung beharrt wird, allerdings leitet er daraus nicht einen Realismus des Films, als dessen Bestimmung ab. Tarkowskij konzipiert den Film dezidiert als Zeitkunst und versucht, von dessen Materialität aus zu argumentieren, ohne in normative Setzungen übergehen zu wollen, was die Verwendung der einzelnen Stilmittel oder eine generelle Bestimmung des Films als Medium grundsätzlich betrifft.
Da Tarkowskij in erster Linie Regisseur war und er wie seine Landsleute und Kollegen Eisenstein und Pudowkin seine theoretischen Überlegungen in Wechselwirkung mit seinem filmpraktischen Schaffen entwickelte, bilden seine Filme auch die besten Beispiele für sein Verständnis von Film als Kunst.

Opfer (orig. Offret, S/F/UK 1986, Regie: Andrej Tarkowskij)

Tarkowskijs Opfer (orig. Offret, S/F/UK 1986, Regie: Andrej Tarkowskij) beginnt mit einer neunminütigen Plansequenz, in der sich die Kamera ausschließlich auf der horizontalen Achse zum Bildrand bewegt, konkret von rechts nach links mit einigen sehr langsamen, zum Teil kaum merklichen Schwenkbewegungen. Zu hören sind Atmo und die Stimme des Mannes, der mit dem aus dem linken Off ins Bild laufenden Jungen spricht. Die Stimme wirkt dabei näher als es die Entfernung der Figur von der Kamera suggeriert. Der Mann philosophiert über das Leben, während er damit beschäftigt ist, einen Baum einzupflanzen.
Sowohl die Bewegungen vor der Kamera als auch der Kamera selbst sind ruhig bzw. wirken die der Figuren durch die relativ große Entfernung relativ langsam. Die Landschaft ist karg. Alles zusammengenommen, kann die Einstellung insgesamt mit dem Begriff „entschleunigt“ überschrieben werden. Die Plansequenz erhält die Einheit von Zeit und Raum, behält die Figuren auf Distanz im Blick, setzt keine Akzente durch Montage und stimmt in Zusammenhang mit dem Monolog des Mannes die ZuschauerInnen auf einen meditativen Rhythmus ein.

Der Anfang von Tarkowskijs Stalker (UdssR 1979; Regie: Andrej Tarkowskij) besteht aus einer Reihe langer Einstellungen. Die Lamgsamkeit und Ruhe der Inszenierung insgesamt etabliert der Film damit direkt zu Beginn als ein auffälliges Stilmittel. Es handelt sich hier um lange Einstellungen, die mehr oder weniger als Plansequenzen eingeordnet werden könnten, es aber auch Argumente dagegen gibt. Der nebenstehende Ausschnitt besteht aus vier Einstellungen bei einer Länge von 5:39 (die letzte Einstellung mit der Frau in der Halbnahen Einstellung nicht mitgerechnet). Die erste (0:00-1:09) und die vierte Einstellung (4:53-5:39) etwa entsprechen einer Guckkasten-Ästhetik, wie sie im frühen Stummfilm oftmals vorzufinden ist (vgl. hierzu als Beispiel die erste Einstellung von The Great Train Robbery (USA 1903, Regie: Edwin S. Porter) oben). Eine Einordnung als Plansequenzen wäre hier also nicht überzeugend, soll der Begriff eine Differenzierung von Einstellungskompositionen über die bloße Dauer hinaus leisten.
Bei der zweiten Einstellung und dritten Einstellung sind die Kompositionen etwas komplexer. Die zweite Einstellung ist die langsame Kamerabewegung aus der Vogelperspektive auffällig, die von rechts nach links erfolgt und anschließend wieder denselben Weg zurück fährt. Start- und Endpunkt bildet der Tisch mit verschiedenen Gegenständen. Interessant sind hier auch die Blicke der Figuren. Zunächst startet die Kamera aus einer Art neutralen Erzählperspektive. Als die Kamera dann über die Figuren fährt, endet die Fahrt bei dem Mann, der in Richtugn des rechtsen Offs schaut, wo sich die Frau befindet. Die Kamera fährt auch in diese Richtugn wieder zurück, wodurch die Kamera dem Blick des Mannes folgt, wenn auch nicht aus seiner Position.

The Revenant (USA/HK/Taiw. 2015, Regie: Alejandro G. Iñárritu)

Die erste Einstellung von The Revenant (USA/HK/Taiw. 2015, Regie: Alejandro G. Iñárritu) ähnelt der zweiten Einstellung von Stalker (UdssR 1979; Regie: Andrej Tarkowskij). Aber wäre auch hier eine Einordnung als Plansequenzen gerechtfertigt? Die Kamera fährt hier von rechts nach links ebenfalls aus der Vogelperspektive über eine schlafende Kleinfamilie. Daraufhin erfolgt aber der Schnitt, ohne dass die Kamera den Weg wieder zurück fährt. Eine Einordnung als Einstellung mit einer Kamerafahrt erscheint plausibler. Auffälliger als die Kamerafahrt an sich ist auch die seltsame Optik, die durch ein Weitwinkelobjektiv erzeugt wird. Die Figuren links von der schlafenden männlichen Figur scheinen tiefer zu liegen. Erst als die Kamera weiterfährt liegen sie genauso senkrecht unter der Kamera wie die männliche Figur. Im Grunde entsteht hier ein Effekt, als wenn die Figuren auf einer Wölbung liegen die sich vor der Kamera dreht.

The Sisters Brothers (F/ESP/RO/B/USA 2018, Regie: Jacques Audiard)

The Sisters Brothers (F/ESP/RO/B/USA 2018, Regie: Jacques Audiard) endet mit einer Plansequenzen. Die beiden kriminellen Brüder Eli (John C. Reilly) und Charlie Sisters (Joaquin Phoenix) kehren nach vielen Jahren und vielen Morden zu ihrer Mutter zurück. Der ältere der beiden Brüder, Eli geht durch das Haus. Dabei ist ihm die Kamera manchmal voraus, manchmal geht sie Umwege, kehrt aber immer wieder zu der Figur zurück. An manchen Stellen suggeriert die Kamerführung point-of-view-shots und damit direkt die Sicht von Eli. Interessant sind hier die Zeitsprünge, die handlungslogisch zwar Überleitungen zu Ereignissen nach der Ankunft der beiden Brüder sind, etwa gemeinsames Essen, Baden des jüngeren Bruders, gleichzeitig aber Reminiszenzen an die Kindheit der Beiden bedeuten. Metaphorisch kann diese Plansequenzen, der als Stilmittel in der Regel eine raum-zeitliche Kohärenz innewohnt, und die hier mit langsamen ruhigen Kamerabewegungen umgesetzt wurde, als elegisches Schwelgen in Kindheitserinnerungen gedeutet werden. Im Prinzip fallen hier drei Zeitebenen in einer Einstellung zusammen, die Gegenwart, in der Eli nach vielen Jahren durch das Haus seiner Kindheit geht, Zukunft der kommenden Ereignisse wie gemeinsames Essen, Baden und auf dem Bett liegen, die aber gleichzeitig auf der metaphorischen Ebenen einen Rückblick in die Kindheit der Protagonisten bedeutet.

4.5.2.3 Weitere Beispiele

Wie schon weiter oben erwähnt, schafft der technologische Fortschritt für die FilmacherInnen immer mehr Möglichkeiten Kamerabewegungen zu inszenieren. Die virtuelle Kamera, also die Generierung einer illusionierten Kamerabewegungen am Comupter eröffnet nahezu uneingeschränkte Möglichekeiten und vollendet die schon in der Frühgeschichte des Films beschworene Omnipräsenz der filmischen Kamera (siehe Vertov?). Unter dem Punkt 1.4.3.1 Virtuelle Kamerafahrten wird hierzu bereits ein Beispiel aus dem Film Fight Club (USA/D 1999, Regie: David Fincher) zitiert. Fight Club (USA/D 1999, Regie: David Fincher) insgesamt kann als Film betrachtet werden, der diese Möglichkeiten extensiv und ostentativ nutzt. Die Eröffnungssequenz stellt diese Möglichkeiten der Kameraführung bereits aus:

Die Plansequenzen ist ein geeigentes Mittel, um die ZuschauerInnen quasi virtuell mit den Figuren durch eine Umgebung zu führen, um zeigen, wie sich die Figuren darin bewegen. Oftmals treffen die Figuren verschiedene andere Figuren, die mit ihnen in Interaktion treten, oder die Kamera folgt nach einer Interaktion anderen Figuren. Ein gutes Beispiel für diese Verwendung einer Plansequenzen ist die nebenstehende Szene aus Goodfellas (USA 1990, Regie: Martin Scorsese). Eine vergleichbare Szene ist die erste Einstellung von Boogie Nights (USA 1997, Regie: Paul Thomas Anderson), in der mittels einer Plansequenzen in das Nachtleben in einer Diskothek eingeführt wird.

Die virtuelle Kamera fährt durch ein Haus, in der die Protagonistin (Jodie Foster) schläft, während Einbrecher an verschiedenen Stellen versuchen, sich Zutritt zu verschaffen. Die Kamera fährt zu den einzelnen Orten im Haus, an denen die Eindringlinge sich zu schaffen machen. Eine Art dramaturgische Klammer bildet die schlafende Frau, die zu Beginn und am Ende der Szene zu sehen ist. Die Einbrecher sind dabei nur schemenhaft oder indirekt über die Werkzeuge, die in von außen in den Innenraum eindringen, zu sehen. Ein Wechsel von einem Einbruchsversuch zum nächsten mittels Montage wäre schneller und produktionstechnisch sehr viel unaufwendiger. Auch erhält die Plansequenz die Einheit von Zeit und Raum und suggeriert damit stärker den Eindruck des Umzingeltseins. Überall suchen die Eindringlinge nach Schwachstellen. Ob der Aufwand dieser komplexen Kamerafahrt künstlerisch gerechtfertigt ist, oder es auch darum ging, die noch relativ neuen Möglichkeiten virtueller Kamera zur Schau zu stellen (und damit im Sinne Bordwells excess betreiben würde), sei einmal dahingestellt. Visuell eindrucksvoll ist diese Kameraführung vor allem dadurch, dass sich die Kamera in Mikrostrukturen bewegen kann, etwa in ein Schlüsseloch oder auch durch den Griff einer Kaffeekanne. Damit löst der Film einmal mehr die schon von Dziga Vertov in seinem Manifest Kinoglaz beschworen Ubiquität des Kamerauges ein, die hier mit neuen Technologien umgesetzt wird.

In Limitless (USA 2011, Regie: Neil Burger) schießt eine virtuelle Kamera mitten durch die Straßen von New York. Es entsteht dabei eine eigentümliche Sogwirkung, die mit einer analogen Kamera evtl. annähernd mit einer Mischung aus Fahrt vorwärts und Zoom in den Telebereich erzeugt werden könnte, d.h. die Kamera bewegt sich nach vorne und zoomt noch zusätzlich „rein“. Bei einer analogen Kamera ist dann die Dauer des Zooms eingeschränkt, weil irgendwann der extremste Telebereich, den das Objektiv zu bieten hat, erreicht ist. In dieser Plansequenz handelt es sich aber um einen endlos scheinenden Zoom, was die Suggestion einer Kamerafahrt noch verstärkt. Diese geradezu hypnotische, artifzielle Bewegung korrespondiert mit dem nächtlichen Treiben mit vielen Menschen und Lichtern in der Metropole New York City.


Quellen:

  1. (vgl. Fuxjäger 2007, S. 25)
  2. Lexikon der Filmbegriffe: http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=5817, letzter Aufruf 02.11.2020
  3. siehe auch: http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=198
  4. vgl. https://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=259, letzter Aufruf 02.02.2021
  5. Lexikon der Filmbegriffe: http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=5817, letzter Aufruf 02.11.2020
  6. Bazin, Andre (2004) [1951/1952/1955]: „Die Entwicklung der Filmsprache“, In: Was ist Film?, Berlin: Alexander Verlag, S. 90-109.
  7. Kersting, Rudolf (1989): Wie die Sinne auf Montage gehen – Zur ästhetischen Theorie des Kinos/Films, FrankfurtaM.: Stroemfelder/RoterStern, S. 359: „Betrachten wir abschließend noch eine bestimmte Fähigkeit, die Bazin der ›inneren‹ Montage, aufgrund ihrer vermeintlichen Wahrheitsfunktion, zuschreibt […]“ (Hervorh. von Rudolf Kersting)
  8. Bazin, Andre (2004) [1951/1952/1955]: „Die Entwicklung der Filmsprache“, In: Was ist Film?, Berlin: Alexander Verlag, S. 102.
  9. Bazin, Andre (2004) [1951/1952/1955]: „Die Entwicklung der Filmsprache“, In: Was ist Film?, Berlin: Alexander Verlag, S. 90-109.
  10. Wobei diese, rein technisch gesehen, durch eine Trickaufnahme (Mehrfachbelichtung) realisiert wurde, d.h. Bildvordergrund und Bildhintergrund wurden in zwei Einstellungen gedreht und jeweils der andere Teil des Filmstreifens verdeckt, so dass der Filmstreifen zwei Mal an verschiedenen Bereichen belichtet wurde (vgl. Bordwell, David (1995): CITIZEN KANE und die Künstlichkeit des klassischen Studio-Systems, in: Adam, Ken (Hrsg.): Der schöne Schein der Künstlichkeit, Frankfurt a. Main: Verlag der Autoren, S. 117-149.). Ob und inwieweit dies Einfluss auf Bazins Konzept der Inneren Montage im Allgemeinen und der Betonung des Realismus der Inneren Montage gegenüber der Montage im Besonderen hat, ist diskussionswürdig.
  11. Fuxjäger, Anton (2007):Film- und Fersehanalyse – Einführung in die grundlegende Terminologie, https://fedora.phaidra.univie.ac.at/fedora/get/o:105927/bdef:Content/get, letzter Aufruf 27.11.2020.
  12. https://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=2120, letzter Aufruf 28.11.2020
  13. https://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=9573, letzter Aufruf 28.11.2020
  14. Tarkowskij, Andrej (2000): Die versiegelte Zeit – Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films. Frankfurt a.M.: Ullstein, S. 121.
  15. (W.I. Pudowkin [1928] (1961): Filmtechnik – Filmanuskript und Filmregie, Zürich: Verlag der Arche, S.9)