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Literatur Dickens-Remake

David Copperfield lebt jetzt bei den Hillbillies

Freier Korrespondent
Autorin Barbara Kingsolver Autorin Barbara Kingsolver
Bekam für ihr Buch den Pulitzer-Preis: Barbara Kingsolver
Quelle: Evan Kafka
Bei Filmen heißt so etwas „Remake“: Die amerikanische Autorin Barbara Kingsolver hat „David Copperfield“ von Charles Dickens noch einmal neu geschrieben. Wie man eine viktorianische Story in die Heimat der Trump-Wähler verlegt. Und wer jetzt der Gegenspieler ist.

Das Filmgeschäft kennt den Begriff des Remakes: Ein Klassiker, den es, häufig in einer Schwarz-Weiß-Version, schon gibt, wird, meist unter weitgehender Beibehaltung des ursprünglichen Drehbuchs, in Farbe und mit neuer Besetzung noch einmal gedreht. Auf dem Feld der Literatur sind Remakes weniger häufig, obwohl es auch hier Beispiele gibt. Die Amerikanerin Barbara Kingsolver hat 2022 einen besonders ambitionierten Versuch vorgelegt: Sie hat Charles Dickens’ beinahe autobiografischen Roman „David Copperfield“ aus dem Großbritannien der viktorianischen Ära in die Vereinigten Staaten der 1990er Jahre übertragen, genauer gesagt: in die Appalachen, wo bitterarme Weiße schottisch-irischer Herkunft leben, die bis gerade gestern im Kohlebergbau tätig waren.

Die Leute in den Appalachen werden im Amerika oft verächtlich „Hillbillies“ oder „white trash“ genannt; ungefähr zu der Zeit, als Trump Präsident wurde, waren viele von ihnen tablettenabhängig, die Reicheren unter ihnen bilden bis heute den harten Kern der Trump-Anhängerschaft.

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Barbara Kingsolver folgt der Vorlage sehr genau, wer das Original von Dickens auch nur vage im Kopf hat, kann einen Bleistift zur Hand nehmen und an den Rand des Buches schreiben, wer hier wem entspricht. Der Held kommt vaterlos als Sohn einer rauschgiftsüchtigen Mutter zur Welt; seinen Spitznamen verdankt er halb seinem roten Haar und halb der Tatsache, dass er eigentlich „Damon“ heißt.

Viel zu jung tritt ein brutaler und selbstgerechter Stiefvater in sein Leben; bei Dickens ist er „Murdstone“ bei Kingsolver einfach „Stoner“. Der Junge wird — ganz viktorianisch — von der Behörde vernachlässigt, die sich eigentlich um das Kindeswohl zu kümmern hätte; das schreckliche Internat, in dem er dann landet und das bei Dickens Salem House heißt, hat sich bei Barbara Kingsolver in eine Farm verwandelt, deren tyrannischer Besitzer wehrlose Waisenkinder dazu verurteilt, Tabakpflanzen zu rupfen.

Uriah Heep, Copperfields satanischer Gegenspieler, trägt hier den Spitznamen U-Haul, ein hübscher Einfall. („U-Haul“ ist eine amerikanische Firma, die Umzugslaster vermietet.) Dora Spenlow, die Kindfrau, in die sich David Copperfield hilflos verliebt, heißt hier einfach „Dori“ und verfällt gemeinsam mit dem Helden der Drogensucht. Die Frau, die den Helden zu guter Letzt aus dem Elend rettet, heißt nicht mehr Agnes, sondern Angus, ist aber genauso lebenspraktisch und herzensgut.

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Das Remake der Barbara Kingsolver zeigt, dass sie ihr Handwerk versteht: Die Charaktere sind glaubwürdig, die Prosa ist an manchen Stellen (vor allem bei Naturschilderungen) beinahe lyrisch. Immer wieder fallen ihr großartige Metaphern ein (Ein Beispiel nur, eines von vielen: Ein Mädchen, ein heißer Feger, sitzt auf seinem Stuhl so, „wie Eiskrem schmilzt“. Toll!). Und doch ist das Ganze, wie man im Englischen sagen würde, off; etwas stimmt nicht.

Liegt es an dem rotzigen Jargon, den Barbara Kingsolver ihren Helden schreiben lässt und der an manchen Stellen, vor allem in den Dialogen, furchtbar ausgedacht wirkt? Liegt es an der fragwürdigen Ideologie, die nicht nur zwischen den Zeilen gepredigt wird? Barbara Kingsolver hält die „Hillbillies“ für unschuldige Opfer, und zwar für Opfer der reichen Stadtbewohner, die sich gegen sie verschworen hätten; an einer Stelle setzt sie die Bewohner der Appalachen allen Ernstes mit den amerikanischen Schwarzen und den Cherokee gleich.

Aber die Schwarzen wurden in Amerika von grölenden Mobs gelyncht, und die Cherokee wurden von der amerikanischen Armee aus ihrem Stammesgebiet vertrieben; nichts Vergleichbares ist den schottisch-irischen Weißen je geschehen.

Vielleicht ist das Problem ja ein grundsätzliches Missverständnis. In einem Nachwort bedankt sich Barbara Kingsolver bei Dickens dafür, dass er gegen die Verkrüppelung von Kindern durch Armut gekämpft habe. Davon handelt „David Copperfield“ aber bei genauem Lesen keineswegs: Der Held ist vielmehr ein jugendlicher St. Georg, der gegen Drachen kämpfen muss. „David Copperfield“ ist, und genau daher kommt seine Wirkung, mythisch. Bei Barbara Kingsolvers Remake handelt es sich lediglich um eine – allerdings ausgezeichnet gemachte – Sozialreportage.

Barbara Kingsolver: Demon Copperhead. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. dtv, 864 Seiten, 26 Euro

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