„Es ist nicht leicht, eine Hinrichtung zu organisieren“, notierte der Tscheka-Kommissar Jakow Jurowski in seinem Bericht, in dem er die Ermordung der Zarenfamilie in der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1918 im Keller des Ipatjew-Hauses in Jekaterinburg zusammenfasste. Waffen mussten organsisiert, zuverlässige Helfer besorgt, die Örtlichkeiten vorbereitet werden. Vor allem aber galt es, die Leichen verschwinden zu lassen, dass sie nicht mehr als Märtyrer eingesetzt werden konnten oder als Belege für den Terror der Bolschewiki. Das erklärt die morbide Odyssee der Toten, die erst 1998 mit einem feierlichen Akt in St. Petersburg zu Ende ging.
Jurowski hatte an vieles gedacht, nicht aber an die Inkompetenz oder Skrupel seiner Männer. Als am 17. Juli gegen 01:30 Uhr der Fiat-Lastwagen vor dem Haus eintraf, war das das Zeichen, die Exekution von Nikolaus Romanow, seiner Frau Alexandra, der Töchter Olga, Tatjana, Maria, Anastasia und Alexeis sowie ihres Arztes und drei Bediensteter in Gang zu setzen. Da seine zum Teil betrunkenen Männer aber völlig undiszipliniert vorgingen, brauchten sie fast 20 Minuten, bis sie die letzten Zarenkinder und Anastasias ermordet hatten, mit dem Bajonett, denn die 17 Pfund Schmuck, die in der Kleidung eingenäht worden waren, hatten die Kugeln abgelenkt. Als letzter wurde Anastasias Hund Jemmy getötet.
Es war „ein entsetzliches Durcheinander an Leichen, vor Schreck erstarrte Augen, blutdurchtränkte Kleidung. Der Boden war von Blut und Hirnmasse glitschig und rutschig wie eine Eislaufbahn“, zitiert der Historiker Simon Sebag Montfiore aus einem Bericht. Um 03.00 Uhr startete der Lkw zum Bergwerksschacht „Vier Brüder“. Dort traf Jurowski auf ein betrunkenes Kommando, das der Jekaterinburger Bolschewisten-Funktionär Pjotr Jermakow mit dem Aussicht zusammengetrommelt hatte, ihm würde die Ehre der Exekution zuteil.
Als die Männer das Gegenteil erkannten, hätte beinahe eine Schießerei begonnen. Die nächste drohte, nachdem die Toten entkleidet und die eingenähten Edelsteine und Schmuckstücke entdeckt worden waren. „Die Augen der Männer begannen geradezu zu strahlen“, schrieb Jurowski, der mit gezogener Pistole durchsetzen musste, dass die Stücke nach Moskau geschickt wurden. Als die Toten in den Schacht geworfen wurden, stellte er zu seiner Überraschung fest, dass er nicht sehr tief war.
Dass musste er auch gegenüber dem Anführer der Bolschewiki Jekaterinburgs, Filip Goloschtschekin eingestehen. Also fuhr er zurück und ließ die Leichen bergen und an einen neuen Ort bringen. Dort wurden sie mit Schwefelsäure und Benzin übergossen und verscharrt; so gut, dass sie von den weißen Truppen, die wenige Tage später Jekaterinburg einnahmen, nicht entdeckt wurden.
1977, 59 Jahre später, stellte der KGB-Chef und spätere Staats- und Parteichef Juri Andropow den Antrag beim Politbüro der KPdSU, das Ipatjew-Haus in Jekaterinburg abzureißen, um es der „Aufmerksamkeit ... antisowjetischen Kreise im Westen“ zu entziehen. Ein anderer russischer Staatschef, Boris Jelzin, damals Erster Sekretär der KP von Swerdlowsk, wie Jekaterinburg inzwischen hieß, führte den Befehl aus.
1979 sollen zwei Amateurhistoriker bei Swerdlowsk Schädel und Knochen gefunden haben, doch war eine solche Entdeckung in den letzten Jahren der Ära Leonid Brechnews nicht opportun. Erst nach nach dem Untergang der kommunistischen Herrschaft wurden im Sommer 1991 die sterblichen Überreste von einer offiziellen Kommission der Russischen Föderation exhumiert.
Philip Mountbatten, Prinzgemahl der englischen Königin, dessen Mutter die Tochter von Alexandras Schwester Viktoria war, stellte seine DNA zur Verfügung, mit der die Zarin eindeutig identifiziert werden konnte. Mit weiteren genetischen Analysen konnten sterbliche Überreste auch dem Zaren und seinen Kindern zugewiesen werden. Damit endete die lange Tradition in der russischen Geschichte, in der sich mysteriöse Figuren als Wiedergänger toter Herrscher ausgaben. Auch Anna Anderson, die als überlebt habende Zarentochter Anastasia lange für Aufsehen sorgte, wurde posthum als Hochstaplerin enttarnt.
Am 17. Juli 1998, dem 80. Jahrestag ihrer Ermordung, wohnte Boris Jelzin der Trauerzeremonie für die Getöteten in der Peter-und Paul-Kathedrale und ihrer Beisetzung in der Familiengruft in St. Petersburg bei. „Das Massaker von Jekatarinburg ist eine der schändlichsten Episoden unserer Geschichte“, sagte der russische Präsident. Zwei Jahre später folgte die Heiligsprechung durch die orthodoxe Kirche Russlands.
Dieser Artikel wurde erstmals im August 2021 veröffentlicht.
Sie wollen Geschichte auch hören? „Attentäter“ ist die erste Staffel des WELT-History-Podcasts.
Sie finden „Weltgeschichte“ auch auf Facebook. Wir freuen uns über ein Like.