Fast war die Pressekonferenz an diesem frühen Donnerstagabend vorüber. Fast, da stellte um 18.53 Uhr der italienische Journalist Riccardo Ehrman seine Frage: „Herr Schabowski, Sie haben von Fehler gesprochen. Glauben Sie nicht, dass es war ein großer Fehler, diesen Reisegesetzentwurf, das Sie haben jetzt vorgestellt vor wenigen Tagen?“, fragte der Chefkorrespondent der italienischen Nachrichtenagentur Ansa in gebrochenem Deutsch.
Nervös blätterte der sonst immer wortgewandte Günter Schabowski an diesem 9. November 1989 in dem Stapel Unterlagen, die er mitgebracht und vor sich hingelegt hatte. Dann antwortete er: „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“ Ein Journalist rief: „Gilt das auch für Berlin-West?“ Wieder wusste der Sprecher des SED-Politbüros nicht, was er antworten sollte, und schaute in seine Papiere: „Also, doch, doch...“ und las dann ab: „Die ständige Ausreise kann über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise zu Berlin-West erfolgen.“
Verunsichert beendete er die Pressekonferenz, denn er hatte dem US-Sender NBC ein persönliches Interview versprochen. Es war 19.01 Uhr. Die meisten Journalisten im Saal des Pressezentrums der DDR-Regierung in Berlin-Mitte waren unschlüssig. Was hatten sie gerade erlebt? Und was bedeutete die neue Reiseregelung tatsächlich?
Am schnellsten fing sich der Vertreter der britischen Nachrichtenagentur Reuters. Nur eine Minute nach dem Ende der Pressekonferenz gab der deutsche Dienst seines Unternehmens bereits eine Eilmeldung heraus: „Ausreise über alle DDR-Grenzübergänge ab sofort möglich – Schabowski“ lautete der Text schlicht.
Aber genau das hatte die SED nicht beabsichtigt. Eigentlich war vorgesehen, die neue Reiseregelung mitten der Nacht zu veröffentlichen, damit kein Ansturm auf die Grenzübergangsstellen einsetzte. Doch Schabowskis Worte „sofort, unverzüglich“ hatten dieses Kalkül obsolet gemacht, weil die Reuters-Meldung von westlichen Medien aufgegriffen und weiter verbreitet: faktisch eine Falschmeldung, aber ausnahmsweise eine mit positiven Folgen.
Bald nämlich drängten sich Zehntausende Ost-Berliner und DDR-Bürger aus der Nähe der innerdeutschen Grenze an die nächstgelegenen Kontrollstellen und verlangten, ohne Pass und Visum in den Westen gelassen zu werden. Kurz vor Mitternacht mussten die Grenzer nachgeben und die Schranken öffnen: Die Mauer fiel, gut vier Stunden nach Schabowski Gestammel. Es war faktisch das Ende der SED-Diktatur; keine elf Monate später war Deutschland wiedervereinigt.
Als einziger führender SED-Funktionär überhaupt bekannte sich Günter Schabowski später zu seiner (Mit-)Verantwortung für das Mauer- und Stasi-Regime. Von ehemaligen Freunden und Verbündeten wie Krenz oder dem letzten SED-Ministerpräsidenten Hans Modrow wurde er deshalb geschnitten und verachtet, mitunter auch als „Verräter“ geschmäht.
Geboren Anfang Januar 1929 in einfachen Verhältnissen in Pommern, hatte Schabowski fast seine gesamte Karriere in Berlin gemacht. Nach dem Abitur 1946 – um einem Kriegseinsatz war er, obwohl „Jungschaftsführer“ in der Hitler-Jugend, herumgekommen – wählte er den Journalismus als Beruf. Allerdings im sowjetisch besetzten Teil Berlins.
Bei der Zeitung der SED-Einheitsgewerkschaft „Tribüne“ stieg Schabowski rasch zum stellvertretenden Chefredakteur auf. In Leipzig und der Parteihochschule der KPdSU in Moskau qualifizierte er sich als Funktionärsnachwuchs und wurde 1968 stellvertretender Chefredakteur des „Neuen Deutschlands“. Fast acht Jahre lang, von Anfang 1978 bis Ende 1985, leitete er später das SED-Zentralorgan. Damit gehörte Schabowski zum engsten Zirkel der Macht um Erich Honecker. Schon 1981 wurde er Kandidat, drei Jahre später Vollmitglied des SED-Politbüros, 1985 auch Chef der wichtigen Ost-Berliner Parteiorganisation.
Doch obwohl er wesentlich den bestehenden Strukturen seinen Aufstieg verdankte, erkannte Schabowski die fatale Schwäche des Regimes. Daher bemühte er sich, Reformen anzustoßen, was jedoch mit den vom Stalinismus geprägten Funktionären wie Honecker und Erich Mielke faktisch unmöglich war. Daher tat sich Schabowski mit dem etwas jüngeren SED-Kronprinz Krenz zusammen, um Honecker abzulösen.
Nach dessen Sturz Mitte Oktober 1989 war Schabowski faktisch der zweite Mann der SED und der offizielle Sprecher des Politbüros – eine ganz neue Einrichtung. In dieser Funktion hielt er die Pressekonferenz ab, auf der ihm das so folgenreiche Missverständnis unterlief.
Am 21. Januar 1990 verstieß die inzwischen zu SED/PDS umbenannte Staatspartei Schabowski. Ihren führenden Kräften um Modrow und Gregor Gysi ging es nur mehr darum, ihre Partei zu retten. Doch Schabowski hatte sich inzwischen geistig von Kadavergehorsam und Parteidisziplin gelöst. So musste der ehemalige Spitzenmann der SED seinen Lebensunterhalt selbst verdienen. Er tat das wieder als Journalist, bei einer Wochenzeitung im Nordosten Hessens.
Seit 1995 hatte sich Günter Schabowski wegen der Morde an der Berliner Mauer zu verantworten. Im Gegensatz zu den Mitangeklagten räumte er seine Mitverantwortung ein; das Gericht verurteilt ihn wegen Totschlags zu drei Jahren Haft, von denen Schabowski nur gut ein Jahr absitzen musste, und zwar im offenen Vollzug. Angesichts seiner Reue war das wohl angemessen.
Kritisch verfolgte er die Entwicklung der SED-PDS-Linkspartei und warnte vor der Rückkehr sozialistischer Ideen, doch damit hatte er keinen Erfolg: Erst in Sachsen-Anhalt, dann in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin kamen die „Genossen“ zurück in Regierungsverantwortung. Am 1. November 2015 starb Günter Schabowski im Alter von fast 86 Jahren in einem Berliner Pflegeheim.
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