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Michael Endes Roman „Momo" wird 50

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AUTOR/IN
Katharina Borchardt

Momo wird 50! Das Märchen von dem Mädchen, das sich den Zeitdieben entgegenstellt, erschien 1973 und wurde im Jahr darauf mit dem Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnet.

Von Afrikaans bis Vietnamesisch – in über vierzig Sprachen wurde der Roman übersetzt. Wie ist es, Michael Endes Erfolgsroman heute noch einmal zu lesen? Ist er in die Jahre gekommen?

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Momo wird 50. Michael Endes berühmter Roman über die kleine Momo, die in einem alten Amphitheater lebt und die genug Zeit hat, allen Menschen sehr gut zuzuhören. Wenn sie dabei ist, kommen Kindern und Erwachsenen die allerbesten Ideen.

Sie war klein und ziemlich mager, sodass man beim besten Willen nicht erkennen konnte, ob sie erst 8 oder schon 12 Jahre alt war. Sie hatte einen wilden, pechschwarzen Lockenkopf, der so aussah, als ob er noch nie mit einem Kamm oder einer Schere in Berührung gekommen wäre.

„Momo“ ist ein Märchen-Roman. So lautet der Untertitel. Er erschien am 1. September 1973.

Als hätte es diese Geschichte immer schon gegeben

Eine wirkliche Geschichte muss ja einen solchen Grad von Selbstverständlichkeit kriegen, dass man meint, diese Geschichte habe es immer schon gegeben. Sie darf nicht konstruiert wirken. […] Ja, ich schreibe alle meine Bücher mehrmals. Bei der „Momo“ zum Beispiel hat es vom ersten Entwurf bis zum fertigen Buch sechs Jahre gedauert, bei der „Unendlichen Geschichte“ immerhin zwei Jahre…

…sagte Michael Ende in einem Radiointerview. Die 80er Jahre – noch ein völlig anderer Radioduktus als heute. Damals war er Mitte 50. Ursprünglich hatte er Dramatiker werden wollen. Vielleicht lebt seine Momo auch deshalb in einem alten Amphitheater. Doch waren seine Romane weitaus erfolgreicher als seine Dramen.

Ein Leser-Liebling bis heute ist Momos Freund Beppo Straßenkehrer. Oft hat er Angst vor sehr langen Straßen. Ein Gefühl, das jeder kennt.

Er dachte einige Zeit nach. Dann sprach er weiter: „Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur an den nächsten.“ Wieder hielt er inne und überlegte, ehe er hinzufügte: „Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut.“

Dieser künstlerische Umsetzungsprozess, um den es mir zu tun ist, nämlich aus der Wirklichkeit selbst wieder nun etwas abzulesen und es zu steigern bis zum Bild hin bis zum, wenn Sie so wollen, Traumbild bis zum Archetypus hin. Das war für mich eigentlich von vornherein klar, dass darin überhaupt der eigentliche künstlerische und poetische Vorgang liegt. In der schieren, nackten Abbildung irgendeiner Realität liegt für mich gar keine... Das hat dann mit Kunst nichts zu tun. Das kann auch seine Nützlichkeit, seinen Wert haben. Aber es ist kein poetischer Vorgang darin.

Aus lebendigen Blütenblättern werden tote Zigarren

Endes modernes Märchen hat seinen Zauber tatsächlich nicht verloren. Immer noch wunderschön die Idee von den Grauen Herren, diesen Zeitdieben, die den Menschen ihre lotusartigen Stundenblumen rauben, die Blütenblätter trocknen und dann das tote Material als Zigarre rauchen. Oder von der Schildkröte Kassiopeia, die mit Momo via Leuchtschrift kommuniziert.

Gleichzeitig spürt man in der Rückschau die 70er ein bisschen durch. Ein Roman mit nicht nur anthroposophischer, sondern auch Zen-buddhistischer Tönung. Konsumkritik. Umweltbewusstsein. Heute noch genauso aktuell. Ganz nebenher aber auch Kritik an Heimen, so genannten „Kinder-Depots“, was an Ulrike Meinhoffs damaligen Recherchen zum Umgang mit Heimkindern erinnert. Vor allem aber die Kritik an Hetze, Stress und Dauermaloche. Aber, wendet Phantasiegenie Ende ernster ein, als man es von ihm erwarten würde:

Dieses Buch behandelt nicht ein Freizeitproblem. […] Es soll hier nicht für mehr Freizeit geworben werden, denn es zeigt sich ja, dass die Menschen, wenn sie mal innerlich grau und tot geworden sind, auch mit der Freizeit gar nichts anzufangen wissen, nicht? Im Gegenteil. Die Freizeit macht sie dann erst recht verzweifelt. Es dreht sich darum, dass der Mensch durch diese Art des Denkens, das die Grauen Herren vertreten, sich selbst entfremdet wird. Er wird sich und der Welt gegenüber immer fremder, während die Art, die Momo vertritt, den Menschen immer wieder zu sich selbst bringt. Das ist das eigentliche Thema dieses Buches.

Surrealistische Szenen – inspiriert von Michael Endes Vater

Entfremdung – ein Dauerbrenner in der Kapitalismuskritik. Bei Ende aber bedeutet Entfremdung auch Phantasiemangel, fehlender Zugang zu anderen Denk- und Erlebniswelten. Denn erst in den Traumbildern seiner Phantasie kommt der Mensch bei Ende ganz zu sich. Ist heute nicht weniger wahr als damals.

Die Pforten zur Phantasie öffnete ihm sicherlich sein Vater Edgar, der Künstler war und surrealistische Traumszenen malte. Unter den Nazis galt er als entartet. Mit seinen Bildern wuchs Michael Ende in den 1930er und 40er Jahren auf. Und er brachte diese bis heute stark wirkende Bildwelt in seine Romane ein, etwa wenn Momo und Kassiopeia auf dem Weg zu Meister Hora sind, dem Herrn über die Zeit.

Ja, sie waren endlich in den Stadtteil gelangt, in dem jenes Licht herrschte, das nicht Morgen- noch Abenddämmerung war und wo alle Schatten in verschiedene Richtungen fielen. Blendend weiß und unnahbar standen die Häuser mit den schwarzen Fenstern. Und dort war auch wieder jenes seltsame Denkmal, das nichts darstellte als ein riesengroßes Ei auf einem schwarzen Steinquader. Momo schöpfte Mut, denn nun konnte es nicht mehr allzu lange dauern, bis sie bei Meister Hora sein würden. „Bitte“, sagte sie zur Kassiopeia, „können wir nicht ein bisschen schneller gehen?“ „Je langsamer, desto schneller“, war die Antwort der Schildkröte.

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