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War damals in der DDR wirklich alles schlechter?

Jeder hatte einen Job, Wohnungen waren billig, alle waren gleich reich, Autos aber schwer zu bekommen – das sind gängige Ansichten über die Deutsche Demokratische Republik. Was davon stimmt? Tatsache ist: Der Staat wollte alles regeln, und nicht nur die Planwirtschaft machte den Menschen das Leben schwer.

"Es gab in der DDR Kinderbetreuung für alle“

Als Ursel Olupitan ihre Tochter Susan auf die Welt brachte, war sie alleinstehend. Der Vater ihres Kindes war in Nigeria. Die beiden hatten sich während des Studiums in Leipzig kennengelernt, wo er Gaststudent für ein Semester war. Doch dann musste er wieder zurück in sein Heimatland, weil dort ein Bürgerkrieg ausgebrochen war.

Ursel Olupitan arbeitete in der Chemiefabrik Buna. Sechs Wochen vor der Geburt ihrer Tochter und sechs Wochen danach gab es bezahlten Mutterschutz. Anschließend ging die junge Mutter gleich wieder an die Arbeit, die kleine Susan kam in eine Kinderkrippe. „Es war überhaupt kein Problem, einen Platz zu bekommen“, erzählt Olupitan. Der Krippenplatz sei „absolut nicht teuer“ gewesen.


Heute können junge Mütter in vielen Städten nur davon träumen, so schnell einen Betreuungsplatz für ihren Nachwuchs zu bekommen. Die Wartelisten sind oft lang. Wollen die Mütter trotzdem arbeiten gehen, müssen sie häufig teure private Kinderbetreuung bezahlen.

Allerdings gab es auch eine Kehrseite der Medaille. Die DDR-Machthaber nutzten das breite Netz an Kinderkrippen, Kindergärten und Tagesstätten, um den Kindern früh „sozialistische Werte“ einzuimpfen.

Mütter konnten auch nicht wählen, ob sie zu Hause bleiben oder arbeiten wollten, sagt Olupitan: „Es gab damals gar nicht die Möglichkeit, nur Hausfrau zu sein – schon allein aus finanziellen Gründen nicht.“ Und Zuschüsse vom Staat wie das heutige Kinder- und Elterngeld gab es auch nicht.

"Die Wohnungsmieten waren damals niedrig“

Es war 1974, als Familie Merx nach Halle-Neustadt zog. In ihrer Plattenbauwohnung gab es ein Schlafzimmer für die Eltern, ein Kinderzimmer für den Sohn und ein Wohnzimmer. „Unsere Wohnung war sehr modern, und ich fand Halle-Neustadt wunderschön“, erzählt Monika Merx. Schließlich gab es überall in der neuen Siedlung Zentralheizung und warmes Wasser – für damalige Verhältnisse war das etwas Besonderes. Die Miete für die „Vollkomfortwohnung“ betrug 94,80 Mark einschließlich Heizkosten. Im Durchschnitt kostete in der DDR ein Quadratmeter pro Monat eine Mark, und die Mieten blieben über Jahrzehnte hinweg gleich.

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Allerdings gab es viel zu wenige Wohnungen. Deshalb teilte sie die Stadtverwaltung zu. Besonders wichtig war dabei die Familiensituation: Studenten bekamen fast nie eine eigene Wohnung, sie lebten in der Regel in Wohnheimen. Erst mit der Hochzeit bekam ein Paar Anspruch auf eine eigene, kleine Wohnung. Teilweise mussten die Menschen lange auf eine größere oder moderne Wohnung warten. Denn gebaut wurde vor allem dort, wo große Betriebe lagen. Die eigentlich schönen Altbauwohnungen in vielen Städten kamen derweil völlig herunter.

"In den Restaurants war fast immer das Essen aus“

Wer jemals in einem Restaurant in der DDR aß, kennt folgenden Gesprächsablauf: „Ich hätte gern das Schnitzel mit Kartoffeln.“ „Das ist aus.“ „Dann nehme ich das Gulasch mit Nudeln.“ „Das ist auch aus.“ „Ja was haben Sie denn noch?“ „Nur die Bockwurst mit Brot!“

In der DDR hießen die Restaurants Versorgungseinrichtungen. Was dort auf der Speisekarte stand, hing nicht davon ab, was die Kunden am liebsten bestellten. Die Zutaten wurden vielmehr vom Ministerium für Handel und Versorgung zugeteilt. So kam es, dass mal besonders viel Rotkohl auf der Karte stand und man an anderen Tagen hauptsächlich Eiergerichte bestellen konnte. Die Preise für die Menüs waren genau vorgeschrieben, erzählt Daniela Ringpfeil, die vor der Wende mit ihrem Mann Gören eine Gaststätte im Ort Grüngräbchen in Sachsen führte: „Es gab Vorgaben, wie viel Prozent Fleisch in einem Gericht enthalten sein musste, wie viel Gemüse und wie viel Kartoffeln. Anhand dieser Anteile mussten wir dann die Preise der Menüs genau ausrechnen. Und wenn wir Hochzeitsfeiern in der Gaststätte hatten, haben wir manchmal Ausgefallenes wie Ananas, Champignons oder Mandarinen besorgt.“ Dafür mussten die Ringpfeils dann teilweise stundenlang durchs Land fahren.

"Man durfte sich seinen Beruf nicht aussuchen“

Egal was jemand von Beruf werden möchte, ob Pilot, Kraftfahrzeugmechaniker oder Arzt: Nur mit guten Noten bekommt man heute in Deutschland den Studienplatz oder die Lehrstelle, die man sich wünscht. In der DDR war das anders. Dort waren gute Noten zwar auch gefragt. Aber viele Studenten konnten sich ihr Studienfach nicht aussuchen, sondern wurden zugeteilt: Wurden zum Beispiel gerade viele Physik- oder Mathematiklehrer gebraucht, gab es dafür besonders viele Studienplätze. Die Wahl des Studienplatzes hing weniger von den Interessen und Talenten der Schüler ab, sondern vom Bedarf der Firmen.

Abitur konnten von vornherein nur Schüler machen, deren Familien nicht als kritisch gegenüber der SED-Diktatur eingestuft wurden. Für viele Kinder blieb deshalb ihr Traumberuf unerreichbar. Ein Beispiel ist die Familie Harmuth aus Leipzig. Vater Hannes hatte eine Buchbinderei. „Ich galt als Kapitalist, also als Systemgegner, nur weil ich ein eigenes Unternehmen hatte“, erzählt er. Die meisten Firmen gehörten zu der Zeit dem Staat.

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Die Familie hatte damals drei kleine Kinder. Zwei von ihnen, Philipp und Ulla, durften kein Abitur machen. „Die Lehrer sagten damals zu den beiden: Die Weltanschauung deines Vaters ist nicht dazu geeignet, dass du die höhere Schule besuchst“, erzählt Hannes Harmuth. Weil sie ihren Kindern eine bessere Zukunft wünschten, schrieben die Eltern 1985 an die Regierung: „Wir beantragen, zum nächstmöglichen Termin die DDR verlassen zu dürfen.“ Bis es so weit war, vergingen viereinhalb Jahre. Heute wohnt die Familie in Aachen, Philipp und Ulla haben studiert, der jüngere Bruder Albrecht besitzt eine Kfz-Werkstatt.

"In der DDR hatte jeder einen Job“

Jeder DDR-Bürger hatte das Recht auf einen Arbeitsplatz. Das war sogar im Gesetz festgeschrieben. Der Staat erreichte dieses Ziel, indem er selbst viele Arbeitsplätze schuf. Der größte Teil der Menschen arbeitete in den sogenannten Volkseigenen Betrieben (VEB) und Genossenschaften. Der DDR gehörten damit fast alle Wohnungen, Lebensmittelläden, Autohersteller, Banken und Energieunternehmen. Private Betriebe existierten kaum.

Viele Menschen waren glücklich, einen sicheren Job zu haben. Das Problem war aber, dass die DDR mit diesem System nicht produktiv war. Um ein Fahrrad zu bauen, wurden zum Beispiel 20 Menschen beschäftigt, obwohl zehn Arbeiter dafür gereicht hätten. Mehr Angestellte kosten eine Firma aber auch mehr Geld – deshalb waren nach 1990 viele Firmen nicht wettbewerbsfähig und mussten aufgeben. Die Mitarbeiter wurden arbeitslos.

So wie Norbert Köhler aus Rostock. Er verlor 1992 seinen Job bei der Schulspeisung. Damals war er 35 Jahre alt. „Wir sind die Verlierergeneration“, findet Köhler. Bis heute hat er nie wieder einen richtigen Job gefunden, obwohl er Lastwagenfahrer ist und sich gleich nach der Kündigung wieder beworben hatte. Viele gut ausgebildete Menschen suchten ebenfalls einen neuen Job. Zwei Millionen Bürger der ehemaligen DDR zogen in die alte Bundesrepublik, um einen neuen Arbeitsplatz zu finden.

"Auf Autos musste man viele Jahre warten“

Ein typisches Auto in der DDR, der Trabant, den alle Trabi nannten, kostete in der DDR etwa 10.000 Mark. Das klingt zunächst nicht einmal nach sehr viel Geld. Trotzdem hatte längst nicht jeder einen Wagen. Kurz vor der Wende besaßen 55 Prozent der DDR-Bürger ein Auto, im Westen waren es 61 Prozent. Denn gemessen an den bescheidenen Gehältern waren die Autos sehr wohl teuer. Außerdem konnte man damals nicht einfach zum Händler gehen und ein Auto kaufen. Stattdessen bestellte man es – und musste dann bis zu 15 Jahre darauf warten. Man konnte auch versuchen, ein Auto gebraucht zu kaufen. Dann war es aber etwa dreimal so teuer.

Kurt Päßler aus der sächsischen Stadt Oelsnitz wartete auf seinen ersten Trabi 14 Jahre. Die Farbe des Autos konnte man sich nicht frei auswählen, erzählt er: „Man kam zum Abholtermin und nahm den Wagen mit, der auf dem Hof stand.“ Päßlers Trabi kostete 13.500 Mark. Er arbeitete damals als Verkäufer in einem Lebensmittelladen und hatte ein Monatseinkommen von 700 Mark. „Das Auto war damals sehr teuer für mich, aber ich hatte ja genug Zeit, das Geld zu sparen.“

Der heute 68-Jährige bekam sein Auto im März 1989, also nur wenige Monate, bevor die Mauer fiel. Danach waren die Ost-Autos auf einmal viel billiger zu haben, erzählt er. „Die Leute haben ihre Trabanten damals verschenkt oder zu Schleuderpreisen verkauft. Die wollte keiner mehr haben.“ Er selbst blieb der Marke allerdings treu. Er machte aus seinem Trabi ein pinkfarbenes Cabrio. Heute fährt er damit noch regelmäßig zu Trabi-Oldtimertreffen.

"In der DDR waren alle Menschen gleich reich“

Nicht jeder verdiente in der DDR dasselbe. Aber die Unterschiede zwischen den Einkommen waren viel geringer als heute. Eine Verkäuferin verdiente pro Monat 600 bis 800 Ostmark, ein Ingenieur höchstens 1200 Mark. Das Kuriose: Manche Handwerker hatten ein höheres Einkommen als Bürger, die studiert hatten. Das halten Experten für einen der Gründe, warum das Wirtschaftssystem der DDR nicht überlebte. „Es war ein schwerwiegender Fehler, die Intellektuellen nicht besser zu entlohnen“, sagt Edgar Most, früher Vizechef der DDR-Staatsbank. So lohnte es sich für die Menschen nicht, zu studieren oder sich am Arbeitsplätzen besonders anzustrengen.

Most selbst hatte es durchaus besser als der Durchschnitt. Er verdiente 2800 Mark und bekam zusätzlich 1500 Mark Aufwandsentschädigung. Von diesem Geld sollte er zum Beispiel Dienstreisen bezahlen, „aber wir machten ja kaum Reisen damals.“ Dazu kam, dass durch seine privilegierte Stellung im Beruf immer wieder kleine und große Vorteile genießen konnte. „Wir hatten zum Beispiel keine Probleme, einen Telefonanschluss zu bekommen. Und wenn an unserem Auto der Auspuff kaputtging, mussten wir nicht wie andere Bürger lange auf ein Ersatzteil warten.“

Heute sind die Einkommensunterschiede der Deutschen untereinander viel größer. Firmenchefs verdienen oft ein Vielfaches ihrer Angestellten. Most findet, dass das oft nicht mehr verhältnismäßig ist: In der DDR gab es „viel weniger Neid in der Gesellschaft“. Der Zusammenhalt, zum Beispiel unter Nachbarn, sei größer gewesen. „Heute beginnt die Neidgesellschaft schon im Kindesalter. Wer in der Schule billigere Klamotten trägt, wird oft bemitleidet oder sogar ausgelacht.“ Allerdings: Die Gleichheit in der DDR wurde damit erkauft, dass fast alle deutlich ärmer waren: Der Lebensstandard war viel niedriger als heute.

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