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Kultur So wird der „Polizeiruf 110“

Der Kommissar mit den lackierten Zehennägeln

Redakteur Feuilleton
Kommissar und Insolvenzverwalter: Vincent Ross (André Kaczmarczyk, r.) befragt Udo Schick (Bernhard Schir) Kommissar und Insolvenzverwalter: Vincent Ross (André Kaczmarczyk, r.) befragt Udo Schick (Bernhard Schir)
Kommissar und Insolvenzverwalter: Vincent Ross (André Kaczmarczyk, r.) befragt Udo Schick (Bernhard Schir)
Quelle: rbb/Volker Roloff
„Der Gott des Bankrotts“ heißt der neue „Polizeiruf“ aus dem deutsch-polnischen Grenzgebiet. Sonntagabendfilmverächter müssen trotzdem kein antikapitalistisches Moralschauspiel fürchten. Was genau zwei Gründe hat.

Man kann sich Geistliche auch als Schuldnerberater, als Insolvenzverwalter vorstellen. Menschen kommen zu ihnen, die sich selbst oder die Zeitläufte aus der Bahn geworfen haben. Die verzweifelt sind. Denen alles über den Kopf wächst. Die alles tun würden, um ihr Leben zurückzugewinnen. Oder zumindest das ihrer Kinder nicht zu zerstört zu haben. Die eine Absolution brauchen. Einen Ausweg.

Die besonders harten Fälle, so stellen wir uns das als Ex-Katholiken jedenfalls gerne vor, schickten Gottes Schuldnerberater aus dem Beichtstuhl direkt auf den Jakobsweg. Das Ziel war dabei immer klar. Santiago de Compostela. Und die Selbstfindung. Und die Befreiung von allen Sünden. Der Start nicht. Der konnte mehr oder weniger überall in Europa sein. Der konnte auch in Frankfurt an der Oder sein.

So liegt denn eines vermutlich heißen Sommertags irgendwo im Brandenburgischen ein Toter in einer malerischen Sandkuhle. Er wurde erschossen. Er hat ein seltsam jenseitiges Lächeln auf dem Gesicht. Der Pathologe führt es auf die Schwerkraft zurück. Der Kommissar, der sich neben die Leiche legt, hat da eine ganz andere Idee. Keine fünfhundert Meter geht der Jakobsweg vorbei.

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Der Kommissar trägt einen Ring an einer Kette um den Hals. Der Anzug ist schwarz. Die Hose ist zu kurz. Die Shirts haben Sternenmuster und liegen ziemlich eng an. Kajal umschattet seine Augen. Er hat unbedingt etwas Pastorales – dass er seine Zehennägel schick lackiert, erfährt man irgendwann auch noch, stört den Eindruck aber nicht.

Wenn man sich einen Schuldnerberater wünschen dürfte, wie Vincent Ross müsste er sein. Vincent Ross ist das Empathiemonster unter den Kommissaren des Sonntagabendkriminalfilms. Dazu gehört nicht viel. Dass er es mit einer solchen, ironisch grundierten Verve tut, das Einfühlen ins Gegenüber, ist trotzdem selbst für Empathieskeptiker, die schiere Erholung.

Eine besonders weise Entscheidung des Sonntagabendkriminalfilmgotts hat André Kaczmarczyk als Vincent Ross ans Lagerfeuer der Öffentlich-Rechtlichen befördert. Der kann auf dem Theater auch ganz anders, der kann veitstanzen, der kann auch böse, der kann sehr gut Massenmörder.

Kriminalhauptkommissar Vincent Ross (André Kaczmarczyk, l.) läuft Kollege Rogov (Frank Leo Schröder) zu
Kriminalhauptkommissar Vincent Ross (André Kaczmarczyk, l.) läuft Kollege Rogov (Frank Leo Schröder) zu
Quelle: rbb/Volker Roloff

Im deutsch-polnischen Grenzkommissariat, dass er nach dem Abgang seines machistisch-monomanischen Kollegen Raczek (Lukas Gregorowicz) jetzt erst einmal allein übernommen hat, ist er der genderfluide Menschenversteher, dessen Absonderlichkeiten kurioserweise alle mögen.

Einmal in seinem ersten Solo-Fall, „Der Gott des Bankrotts“ heißt er, sitzt Vincent neben Rogov, dem Kollegen, der ihm neben der Leiche am Jakobsweg zugelaufen ist wie ein räudiger Dackel.

Rogov (Frank Leo Schröder) ist übereifrig, keiner kann ihn leiden. Er war mal Kommissar, jetzt klärt er Fälle von entlaufenen Dackeln in Lebus, was man sich als trostloses brandenburgisches Kaff vorstellen muss. Rogovs Karriere ist bankrott. Vincent gibt ihm, was Insolvenzverwalter ungern tun, eine zweite Chance.

Alles muss sich ändern

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Rogov stopft sich Döner rein. Vincent hat er einen mitgebracht, er ist dankbar, dass ihm einer eine zweite Chance gibt. Man sieht, wie Vincent schon vom Anblick des Fleischspießbrötchens übel wird. Wahrscheinlich ist er Veganer. Und dann fragt ihn Rogov, wie jemand wie er, also Ross, überhaupt zur Polizei kam. „Weil sich einfach alles ändern muss“, sagt er. Und Rogov wünscht ihm viel Spaß dabei.

Jetzt müssen wir aber allmählich zum Fall kommen. Wenn der gemeine Sonntagabendkriminalfilm „Der Gott des Bankrotts“ heißt, fangen Sonntagabendkriminalfilmverächter gleich an, sich wegen der zu erwartenden Klischeedichte die Hände zu reiben. Und twittern los, bevor es überhaupt angefangen hat, dass die Fingerkuppen glühen.

Das können sie sich diesmal schenken. Der Hintergrund des Mords, den das brandenburgisch-polnische „Polizeiruf“-Kommissariat aufzuklären hat, sind zwar Schulden, Gier und Erpressbarkeit. Aber der Fall – Mike Bäumls Drehbuch ist ein Konzentrat wahrer Insolvenzen – hält sich von schablonierten Erklärbärdialogen, vom wohlfeilen Moralisieren und von billiger Kapitalismuskritik fern. Ist ein intensiv gespieltes Seelenspiel.

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Der lächelnde Tote vom Jakobsweg war verzweifelt. Und er war pleite. Sein Involvenzverwalter hatte ihm das Leben zur Hölle gemacht. Udo Schick heißt er. Bernhard Schir spielt ihn mit einer aasigen Zerrissenheit, die eigentlich nur er hinkriegt. Schick lebt zusammen mit Jonathan Hüter.

Der ist praktischerweise Schuldnerberater. Er ist auch ein Empathiemonster. Er redet und redet und redet, heißt es gleich mehrmals. Er kaut einen durch, heißt es gleich mehrmals. Und dann spuckt er einen wieder aus. Und schaut, so kalt es geht, auf das, was von der Pleite übrig blieb. Godehart Giese, den man als Schauspieler nun wirklich eigentlich nicht mehr empfehlen muss, empfiehlt sich mit diesem „Polizeiruf“ für alle zwiegespaltenenen Monster der künftigen deutschen True-Crime-Serienindustrie.

Schuldnerberater Jonathan Hüter (Godehard Giese, r.) und Klient Yegor Melnik (Sebastian Anton)
Schuldnerberater Jonathan Hüter (Godehard Giese, r.) und Klient Yegor Melnik (Sebastian Anton)
Quelle: rbb/Volker Roloff

Es geht sehr langsam zu. Regisseur Felix Karolus hält beim Gang ins Innere der Verzweifelten, die alles tun, alles opfern, um für ihre Nachkommen aus der Schuldenfalle zu kommen, beinhart das Pilgertempo durch. Sebastian Pilles Musik erzählt sanft die eigentliche Geschichte.

Der Jakobsweg, das wissen alle spätestens nachdem sie Hape Kerkelings „Ich bin dann mal weg“ gelesen haben, dient ja nicht nur der persönlichen Schuldenbereinigung. Sondern vor allem der Selbstfindung. Auf dem Weg ist der brandenburgische „Polizeiruf“ jetzt doch schon einen gewaltigen Schritt vorwärtsgekommen.

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