2.1 Fehlen eines geeigneten Sammelbegriffes

Für die verschiedenen Verfahren der Alternativmedizin gibt es weder eine geeignete übergreifende Definition noch eine befriedigende Sammelbezeichnung.

In Ermangelung einer positiven Definition lässt sich Alternativmedizin am ehesten über ihre Distanz zur wissenschaftsorientierten Medizin definieren. Die mangelnde Bereitschaft, die eigenen therapeutischen oder diagnostischen Strategien infrage zu stellen und sie einer Überprüfung bezüglich der Wirksamkeit zu unterziehen, ist das gemeinsame Merkmal aller Methoden, die hier unter Alternativmedizin zusammengefasst werden.

Der Begriff Alternativmedizin gibt aber den Sachverhalt nicht gerecht wieder, und er beinhaltet eine innere Widersprüchlichkeit. Natalie Grams [6] hat sich in ihrer lesenswerten Schrift „Was wirklich wirkt“ hiermit ausführlich auseinandergesetzt. Sie hat sehr pointiert formuliert: „Was nicht wirkt, ist keine Medizin und damit auch keine Alternative“. Die Alternativmedizin ist somit nicht als eine „Alternative in der Medizin“ zu verstehen, sondern als „Alternative zur Medizin“, ist selbst damit nicht Medizin. Dies wird im Kap. 9 ausführlich erläutert.

Trotz Kenntnis der Unzulänglichkeit des Begriffes Alternativmedizin wird dieser auch in im Folgenden weiterverwendet, denn es gibt keine bessere, griffige und sachlich richtige übergreifende Bezeichnung für die nicht-wissenschaftliche Medizin. Alternativmedizin ist mit Abstand der am weitesten verbreitete unter all den verschiedenen Begriffen, und keine andere Bezeichnung würde den Sachverhalt richtiger wiedergeben oder besser zusammenfassen. Auch wenn darauf verzichtet wird, dem Begriff Alternativmedizin das Wort „sogenannt“ voranzustellen oder ihn in Anführungszeichen zu setzen, darf daraus nicht geschlossen werden, dass damit der Anspruch auf eine Alternative in der Medizin akzeptiert würde.

Weil es keinen griffigen und sachlich richtigen zusammenfassenden Begriff für medizinische Verfahren unter Verzicht auf Wirksamkeit gibt, wird die Bezeichnung Alternativmedizin auch im Bewusstsein ihrer Unzulänglichkeit beibehalten.

2.2 Eine Vielzahl weiterer, aber meist unzutreffender Bezeichnungen

Für die Therapieverfahren, die außerhalb der konventionellen Medizin, also auch außerhalb der wissenschaftlich orientierten Medizin, Anwendung finden und die hier als Alternativmedizinbezeichnet werden, werden mehrere andere Begriffe benutzt. Sie sind meist sehr missverständlich, weil sie falsche Inhalte oder Botschaften transportieren. Die genannten Begriffe werden deshalb jeweils mit einer kurzen kritischen Stellungnahme versehen.

Erfahrungsmedizin: Mit diesemBegriff soll klargestellt werden, dass die Wirksamkeit ihrer Verfahren nicht wissenschaftlich in Studien belegt wird, sondern ausschließlich auf der persönlichen Erfahrung der Anwendenden beruht.

Selbstverständlich spielt auch in der wissenschaftlichen Medizin die ärztliche Erfahrung eine ganz wesentliche Rolle. Da sich aber persönliche Erfahrungen kaum untersuchen lassen, kann auch beim erfahrensten Arzt nicht auf eine wissenschaftliche Überprüfung für die angewandten Verfahren verzichtet werden. Hierauf wird im Kap. 5, „evidenzbasierte Medizin“, noch ausführlich eingegangen.

Naturheilverfahren: Dieser Begriffsuggeriert, dass ausschließlich von der Natur bereitgestellte Mittel zur Gesundheitsversorgung eingesetzt werden.

Vieles, was unter Naturheilverfahren angeboten wird, hat aber mit Natürlichkeit wenig gemein. Der Begriff wird sogar ohne Reflexion auf hochtechnisierte Verfahren übertragen. Die Verwendung des Begriffes Natur dient vor allem dazu, Vertrauen herzustellen, manchmal aber auch dazu, besondere Rechte einzufordern, zum Beispiel im Zusammenhang mit der Arzneimittelzulassung.

Biologische Medizin: Mit demBegriff biologische Medizin wird suggeriert, dass auf ewig gültige Grundprinzipien der Natur zurückgegriffen wird. Man möchte sich von chemischen und physikalischen Verfahren, die sich mit Vorgängen wie Wiegen und Messen befassen, distanzieren.

Die Anhänger der biologischen Medizin verzichten aber in vielen Fällen nicht auf aufwendige und sehr künstliche Techniken, die mit biologischen Vorgängen nichts zu tun haben.

Sanfte Medizin: Auch beidiesem Begriff handelt es sich um eine Wortkombination, die besondere Vorgehensweisen suggeriert.

Bei jeder Anwendung eines Heilverfahrens, auch in der wissenschaftlichen Medizin, wird so sanft vorgegangen, wie es medizinisch vertretbar ist. Auch wenn auf Wissenschaftlichkeit verzichtet wird, werden die verschiedenen zur Anwendung kommenden Verfahren dadurch nicht „sanfter“. „Sanft“ lässt sich nicht definieren und nicht messen. Es handelt sich lediglich um ein Spiel mit Assoziationen.

Humanistische Medizin: Mit diesemBegriff soll auf eine besondere Menschlichkeit hingewiesen werden.

Mit ihm wird die Vereinnahmung von bestimmten Vorgehensweisen zur Abgrenzung von wissenschaftsorientierten Verfahren besonders deutlich. Niemand würde sich gegen das Attribut „humanistisch“ im Zusammenhang mit Medizin aussprechen. Dies gilt ausdrücklich auch für die wissenschaftliche Medizin.

Komplementärmedizin: Dieser Begriffwird für Verfahren verwendet, die alternativmedizinische Inhalte einsetzen, die aber als Ergänzung zur konventionellen Medizin vorgeschlagen werden.

Hiermit könnte die Auffassung geäußert werden, dass für eine Ergänzung zur wirksamen Therapie auch solche Verfahren eingesetzt werden können, die selbst nicht wirksam sind. Die entscheidende Frage nach Wirkung oder Wirksamkeit muss aber für eine Ergänzung in gleicher Weise gelten.

Ganzheitsmedizin: Mit diesemBegriff soll der Anspruch der Alternativmedizin auf eine Betrachtung des Patienten als Ganzes betont werden. Hiermit soll transportiert werden, dass die wissenschaftliche Medizin unter der Faszination des technisch Machbaren zu einer Vernachlässigung von psychischen und sozialen Komponenten im Kranksein des Patienten geführt hat.

Es ist weder richtig, dass die wissenschaftliche Medizin die Gesamtheit des Körpers vernachlässigt, noch umgekehrt, dass alternativmedizinische Verfahren auf eine Fokussierung auf bestimmte Körperteile verzichten. Weder die Ohrakupunktur noch die Irisdiagnostik oder die Fußreflexzonenmassage lassen sich mit einer Ganzheitlichkeit assoziieren. Wenn mit dem Begriff auf die Einheit von Körper und Seele abgestellt werden soll, dann lässt sich fragen, warum nicht wirksame Verfahren für die Berücksichtigung dieses Anliegens geeigneter sein sollen als wirksame.

Holistische Medizin: Durch dieBenutzung des aus dem Griechischen stammenden Fremdwortes „holistisch“ für „ganzheitlich“ klingt es noch etwas gelehrter, inhaltlich wird dadurch aber nichts anderes ausgedrückt.

Traditionelle Medizin: Mit diesemBegriff werden Verfahren zusammengefasst, die aus der Frühzeit der Medizin und insbesondere aus asiatischen Kulturkreisen entstammen. Damit soll demonstriert werden, dass sie sich über Jahrhunderte bewährt haben und daraus eine Legitimation beanspruchen können.

Hohes Alter oder Herkunft aus bestimmten Kulturkreisen stellen aber in sich kein Qualitätsmerkmal dar.

Integrative Medizin: Mit diesemBegriff wird der Anspruch erhoben, das Beste aus der Welt der Alternativmedizin mit der konventionellen Medizin zu verbinden.

Die trennenden Unterschiede sind aber so fundamental, dass der Anspruch nicht eingelöst werden kann.

2.3 Andere verbreitete Bezeichnungen für Alternativmedizin

Paramedizin: Dieser vermeintlich neutrale Begriff wird gern vonseiten der wissenschaftlichen Medizin verwendet, um die mit den verschiedenen Begriffen transportierten Ansprüche der Alternativmedizin zu umgehen [7]. Er kann aber auch als „Scheinmedizin“ verstanden werden und stellt damit eine Provokation dar, die möglichst vermieden werden sollte, um einen sachlichen Diskurs nicht zu behindern.

Complementär-Alternative Medizin (CAM): Dieser Begriff sagt nicht mehr aus als Alternativmedizin allgemein. Nicht selten betonen Alternativmediziner, dass ihre Verfahren als Ergänzung zur wissenschaftlichen Medizin eingesetzt werden können. Die Verfahren selbst bleiben dabei aber Alternativmedizin. Wegen der griffigen und auch international gebräuchlichen Abkürzung wird „CAM“ häufig in wissenschaftlichen Publikationen bei der Auseinandersetzung mit der Alternativmedizin benutzt [4].

Glaubensmedizin: Der Begriff „Glaubensmedizin“ schließt eine inhaltliche Aussage ein. Hiermit wird aber zu sehr auf den Glauben als wesentlichen Bestandteil der kontextabhängigen Wirkungen fokussiert. Glaubensmedizin wird von Anhängern der Alternativmedizin leicht als ein Versuch der Diskreditierung missverstanden. Er wird in diesem Buch nur in konkret beabsichtigten Zusammenhängen verwendet.

Insgesamt sollte die Verwendung abwertender Begriffe als Abgrenzung von der wissenschaftlichen Medizin unterbleiben. Eine gut recherchierte und umfangreiche Monografie über Alternativmedizin von Edzard Ernst büßt an Seriosität ein, weil sie mit dem provozierenden Titel „Scheinmedizinischer Unfug (SCHMU)“ versehen wurde [8].

2.4 Auch der Begriff Alternativmedizin ist inhaltlich nicht korrekt

Keiner der genannten Begriffe gibt die zugrunde liegenden Inhalte adäquat wieder. Dies gilt auch für den Begriff Alternativmedizin, mit dem ein Anspruch erhoben wird, der inhaltlich nicht gerechtfertigt ist. Wenn eine Therapie nicht wirksam ist, stellt sie keine Alternative zur Medizin dar, und wenn eine Therapie wirksam ist, gehört sie nicht zu alternativmedizinischen Verfahren [8]. Das einzig Alternative zu Medizin besteht darin, dass die jeweils verwendeten Verfahren nicht auf das Vorliegen einer Wirksamkeit überprüft wurden bzw. dass durch entsprechende Untersuchungen Wirksamkeit nicht nachgewiesen werden konnte.

Wenn eine Therapie nicht wirksam ist, stellt sie keine Alternative zur Medizin dar, und wenn eine Therapie wirksam ist, gehört sie nicht zu alternativmedizinischen Verfahren. Alternativmedizin stellt somit einen Widerspruch in sich dar.

Wegen des Fehlens einer besseren Bezeichnung wird der Begriff Alternativmedizin im Folgenden weiterverwendet. Er soll ohne inhaltliche Aussage lediglich die Methoden zusammenfassen, bei denen die beobachteten Wirkungen als kontextabhängig zu verstehen sind, da die zur Anwendung kommenden Verfahren keine nachweisbare Wirksamkeit haben.