Diese umfangreiche Aufsatzsammlung über die weltweite Krise der kapitalistischen Demokratie im Sog von Globalisierung und Digitalisierung bestätigt erneut die Aktualität des Klassikers „Strukturwandel der Öffentlichkeit“. Sie ist sehr wichtig für die Forschung über die politische Theorie von Jürgen Habermas, dessen Beitrag den Höhepunkt des vorliegenden Sonderbandes bildet. Nach Jahrzehnten der öffentlichen Distanz knüpft Habermas wieder an sein auflagenstärkstes und meistzitiertes Werk an und legt richtungsweisende „Überlegungen und Hypothesen zu einem erneuten Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (S. 470) vor. Den Herausgebern Martin Seeliger und Sebastian Sevignani gebührt Dank, dass sie ihn dafür gewonnen haben. Seine Kernthese analysiert die krisenhaft zugespitzten „Tendenzen der Entpolitisierung“ (S. 494) als Folge der „Digitalisierung der öffentlichen Kommunikation“ (S. 480) unter den „Imperativen der Kapitalverwertung“ (S. 492). Insbesondere die „algorithmische Steuerung der Kommunikationsflüsse“ (S. 498) in der Ära des „Überwachungskapitalismus“ (Soshana Zuboff) verwandelt unter den „Imperativen der Aufmerksamkeitsökonomie“ den „diskursiven Charakter der staatsbürgerlichen Meinungs- und Willensbildung“ (S. 494). Zwar ermöglicht die „weltweite Vernetzung von Rechnern“ (S. 486) das „emanzipatorische Versprechen“ (S. 488) der sozialen Medien, „alle zu potenziellen Autoren“ (S. 489) zu machen, doch ist „die Lava dieses zugleich antiautoritären und egalitären Potentials“ nunmehr „zur libertären Grimasse weltbeherrschender Digitalkonzerne erstarrt“ (S. 488).

Diese klare Sprache im Spätwerk von Habermas findet Resonanz in einem Buchtitel aus dem Jahr 2019, den Seeliger und Sevignani zitieren: „Enteignet Zuckerberg!“ (S. 37). Wie 1968, als die Analyse der politischen Manipulation der Massenpresse im Frühwerk von Habermas die Parole „Enteignet Springer!“ begründen konnte, so stellt er heute die Kausalität zwischen der verschwörungstheoretischen Entmündigung globalisierungsgeschädigter Bürger*innen in den algorithmisch verstärkten Echokammern, in denen Datenjäger Zuckerberg die „Aufmerksamkeit von Konsumenten“ (S. 494) einfängt, und der Zerstörung der liberalen Demokratie durch den Demagogen Trump heraus.

Die Präzision und universale Geltung der begriffshistorischen Analysen, die Habermas 1962 vornahm, ermöglichen es heute, die „Kommodifizierung des öffentlichen Bewusstseins“ (S. 499) in einem neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit auf die algorithmische Manipulation der global wirksamen sozialen Medien zurückzuführen. Deren totalitäre Subsumtion der Rolle der gemeinwohlorientierten Staatsbürger*innen unter die Rolle der allein ihren Privatinteressen verpflichteten Gesellschaftsbürger*innen (S. 480), die heute diese Märkte der „narzisstische[n] Selbstdarstellung“ (S. 494) weltweit prägt, zerstört die letzten Brandschutzmauern „der von Haus aus krisenanfälligen kapitalistischen Demokratien“ (S. 498).

Kurzum, Habermas zeigt am deutlichsten, warum die eingangs von Seeliger und Sevignani eingeführten analytischen Kategorien Globalisierung, Digitalisierung und Kommodifizierung geeignet sind, den erneuten Strukturwandel der Öffentlichkeit systematisch zu durchdringen. Dementsprechend gliedern primär diese drei Kategorien die 20 Beiträge der 26 anderen Autor*innen. Insgesamt sind 96 Seiten dem Thema Kommodifizierung, 138 dem der Globalisierung und 108 dem der Digitalisierung gewidmet. Angesichts der fruchtbaren Vielfalt von heterogenen Forschungsansätzen hilft es sehr, dass die Herausgeber neben ihren Einzelbeiträgen eine systematische Einführung (34 Seiten) geben und gegen Ende des Bandes die argumentativen Hauptlinien der 20 anderen Beiträge im Überblick (13 Seiten) präsentieren, bevor Habermas abschließend das Fundament für die künftige Forschung über einen erneuten Strukturwandel der Öffentlichkeit legt.

Drei Beiträge von vier Autor*innen fügen sich dieser Systematisierung nicht direkt ein und sind wohl deshalb unter der Überschrift „Öffentliche Sozialwissenschaften“ auf den S. 385–456 separiert worden. Dennoch ergänzen in methodologischer Hinsicht die Thesen von Hans-Jörg Trenz über das „Emanzipationspotential demokratischer Öffentlichkeit“ (S. 385) als „gesellschaftliche Vernunftentfaltung“ (S. 392) den erneuten Rückgriff von Habermas auf Kant (S. 472), der bereits seine Frankfurter Vorlesung im Juni 2019 auszeichnete. Trenz verankert seine Überlegungen zur „Öffentlichkeitstheorie als Erkenntnistheorie moderner Gesellschaft“ in dem zentralen Paragrafen 13, den Habermas nachträglich seiner Habilitationsschrift einfügte. Dieser Paragraf enthält den Schlüssel zum Verständnis des Habermas-Klassikers, da er den rationalen Diskurs der kritischen Öffentlichkeit nicht nur als „Methode der Aufklärung“ (S. 390), sondern auch als Organisationsprinzip des Verfassungsstaates identifiziert. Wenn Trenz betont, dass Habermas (seit 1981) „soziale Beziehungen, die durch Medien wie Macht und Markt gesteuert werden, ebenfalls in die gesellschaftliche Vernunftentfaltung“ (S. 392) einbezieht, dann erinnert dies an den Text von 1962, in dem Habermas mit Kant das rationale Naturrecht des bürgerlichen Staates auf „Naturgesetze“ des gesellschaftlichen Verkehrs stützte, die scheinbar die bürgerliche Politische Ökonomie der Physiokraten entdeckt hatte.

Emblematisch für die Verschränkung der ökonomischen Kategorie der Globalisierung mit der medialen der Digitalisierung ist die heutige exponentielle Steigerung der systemischen Krisenanfälligkeit globaler Finanzmärkte. Die beiden Beiträge von Nancy Fraser und Michael Zürn analysieren die gravierenden Hürden, die einer Realisierung von Weltöffentlichkeit und Global Governance zur Krisenbewältigung entgegenstehen. Umgekehrt zeigen sie auf, dass die Analyse des erneuten Strukturwandels der Öffentlichkeit weit über den akademischen Diskurs hinaus auf die existenzielle Bedrohung der menschlichen Zukunft verweist. Tragischerweise stellen in dieser Hinsicht die „neue[n] Rüstungsspiralen“ (S. 167) nicht einmal mehr das Hauptrisiko dar. Heute wissen wir, dass 1962 die Menschheit in der Kubakrise dem Einsatz von Atomwaffen nur um Haaresbreite entging. Wie Daniel Ellsberg 2017 mit Originaldokumenten detailliert belegte, brauchten wir dazu absolut „dummes Glück“. Daher schätzte Habermas damals die vorsätzliche Entmündigung der politischen Öffentlichkeit im Kontext zwanghafter Konsumorientierung wohl doch nicht „zu skeptisch“ (S. 484) ein.

Zeitgleich mit dem Erscheinen dieses Sonderbandes bestätigte der autoritative Report der Vereinten Nationen die Aktualität von Frasers Diskussion der bevorstehenden Klimakatastrophe aufgrund der globalen „Kohlenstoffemissionen“ (S. 151). Am Beispiel des Konflikts der BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China) mit den Ländern des „Globalen Norden“ (S. 152) zeigt sie beispielhaft die Komplexität globaler öffentlicher Diskurse sogar bei Überlebensfragen der gesamten Menschheit. Während England und andere westliche Industriestaaten bereits zwei Jahrhunderte lang ökologischen Raubbau betrieben hatten, bevor insbesondere China mit seinen zahllosen Kohlekraftwerken die Schädigung der Umwelt begann, hat umgekehrt gerade in den USA „der Aufstieg der BRIC-Staaten“ zu Deindustralisierung, sinkendem Lebensstandard sowie zu einer Aushöhlung der „demokratischen Bürgerrechte“ geführt (S. 152). Vor allem wurde eine freie öffentliche Debatte über die Aufteilung der Kosten zur Begrenzung der Klimakatastrophe immer wieder unterdrückt, sei es durch Trump oder autoritäre „Potentaten“ der BRIC-Staaten wie Putin und Modi (Zürn, S. 167), zu denen wohl auch Xi Jinping und Bolsonaro gehören.

Neben diesen ökonomischen, ökologischen und militärischen Krisentendenzen zeichnet den neuen, nunmehr globalen Strukturwandel der Öffentlichkeit auch die weltweite Krise der liberalen Demokratie aus. Während China seinen neostalinistischen Überwachungskapitalismus auch in refeudalisierter Öffentlichkeit betreibt, ist der algorithmische Arkanbereich insbesondere in den USA gleichermaßen Staats- und Betriebsgeheimnis, wie Timon Beyes ausgehend vom Fall Edward Snowden analysiert. Dieses umfassende „Geheimnisoligopol“ (S. 107) wird, so Howard Caygill, zu einem „Arkanum der Menschenjagd“ (S. 106). Solch neofeudalen Arcana imperii, in entschärfter Form kommodifiziert, wie Felix Maschewski und Anna-Verena Nosthoff mit dem Cambridge-Analytica-Diebstahl der Daten von 87 Millionen Facebook-Kunden*innen (S. 322) beschreiben, dienen der Manipulation der demokratischen Willensbildung durch Ausbeutung der Intimdaten von Wähler*innen. Philipp Staab und Thorsten Thiel ziehen daher das Fazit, dass sich in über Datenjagd gesteuerten Wahlen „eine Vorstellung von Demokratie artikuliert“, in der „das Ablesen singularisierter Präferenzen als demokratisches Prinzip interpretiert wird“ (S. 293). Auf der Basis solch eines Strukturwandels der politischen Öffentlichkeit stellt die Twitter-Sperre von Donald Trump, die Markus Baum und Seeliger analysieren, dann auch keinen Erfolg der liberalen Demokratie, sondern ein reines Geschäftskalkül dar, durch das „die Attraktivität […] für Werbekunden“ (S. 357) im Vorfeld der Amtseinführung des neuen amerikanischen Präsidenten erhöht werden sollte.

Abschließend zum Themenbereich „Digitalisierung“ führen Otfried Jarren und Renate Fischer aus, wie die von journalistischer Verantwortung entbundenen Privateigentümer*innen der sozialen Medien Techniken der Boulevardmedien kopieren, um „rasch große Reichweite“ zu erzielen und durch „sofortige Rückmeldungen“ sowie „‚starke‘ und möglichst personalisierte Folgekommunikation“ die Aufmerksamkeit ihrer Nutzer*innen zu behalten (S. 375). Da heute die sehr große Mehrheit der Wähler*innen die politischen Nachrichten aus den sozialen Medien entnimmt oder durch Suchmaschinen findet, müssen sich sogar die öffentlich-rechtlichen Medien anpassen, um ihre Rundfunkgebühren zu rechtfertigen.

Angesichts dieser gravierenden Verzerrungen in der demokratischen Willensbildung wird die Verteidigung der Verfassungsrechte zur dringlichen Aufgabe. Sie wird ein herausragendes Vermächtnis von Habermas prägen. Nämlich „den vernünftigen Gehalt der Normen und Praktiken, die seit den Verfassungsrevolutionen des späten 18. Jahrhunderts positive Geltung erlangt haben und insofern Teil der historischen Wirklichkeit geworden sind, rational [zu] rekonstruieren“ (S. 471) und dem neuen, globalen Strukturwandel der Öffentlichkeit im demokratischen Diskurs entgegenzuhalten. Einen Ausgangspunkt dafür bildet ein Dokument der Vereinten Nationen, zu dem Habermas wiederholt publiziert hat – die „Universale Erklärung der Menschenrechte“ aus dem Jahr 1948.