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Pop Lou Reed

Ein Todeszwerg, ein Perverser, ein großer Künstler

Männerfreundschaft: Lou Reed (r.) und Andy Warhol Männerfreundschaft: Lou Reed (r.) und Andy Warhol
Männerfreundschaft: Lou Reed (r.) und Andy Warhol
Quelle: Redferns
Am 27. Oktober 2013 ist Lou Reed gestorben. An seiner ruinierten Leber. Er war der Sänger von Andy Warhol und von Velvet Underground. Aber vor allem war er alles, was er für uns sein sollte.

Wer war Lou Reed? Auf die Frage gibt es ziemlich viele Antworten, aber keine davon kann endgültig sein. Auch jetzt nicht, erst recht jetzt nicht, wo er tot ist; gestorben 71-jährig am Sonntag in seinem Haus in Amagansett auf Long Island, an den Folgen einer Lebererkrankung, wie sein behandelnder Arzt Charles Miller der „New York Times“ bestätigte.

Wer war Lou Reed? Man kann am Ende anfangen, beim womöglich letzten Text, den Lou Reed geschrieben hat. Jedenfalls ist es einstweilen der letzterschienene, der Form nach ein journalistischer: Reed hat im Juli für die Musikwebseite „The Talkhouse“ das aktuelle, von der Popkritik verrissene Album des HipHop-Künstlers Kanye West besprochen. Lou Reed hat „Yeezus“ gelobt, sehr sogar.

In der Kernpassage dieses Textes spricht Reed jedoch über sein eigenes Verständnis von Musik und Schönheit, er erkennt in West einen Verbündeten im Geiste, wieder etwas, das Reed möglicherweise auch als das große Missverständnis sein eigenes Werk betreffend ansah: dass Musik „herausfordernd“ gemeint sein könne, absichtlich provozierend.

Lou Reed hat sich und sein Werk nie erklärt

„Ich habe Musik nie als Herausforderung betrachtet – man glaubt immer, dass das Publikum mindestens so klug ist wie man selbst. Man macht die Musik, weil man sie so mag; man denkt, was man tut, ist schön. Und wenn man selbst glaubt, dass es schön ist, dann denkt das ja vielleicht auch das Publikum.“

Wer war Lou Reed? Wenn man ihn persönlich traf, zum Interview als Journalist, war er unausstehlich. Eigentlich jede Frage fand er banal; dass das, worüber er stattdessen lieber sprechen wollte, Tontechnik oder Gitarrenbau etwa, unfassbar banal erscheinen konnte, störte ihn nicht. Die Archive sind voll mit gescheiterten Lou-Reed-Interviews.

Die bedauerliche Konsequenz ist, dass Reed sich und sein musikalisches wie lieddichterisches Werk eigentlich nie umfassend öffentlich erklärt hat. Die erfreuliche Konsequenz ist, dass auf ihn ein paar der wüstesten Liebesbeschimpfungen verfasst wurden, die je einem Musiker gewidmet wurden.

Verkommen, aber mit Würde

Besonders toll sind die von Lester Bangs, dem frühverstorbenen, wohl größten Rockmusikschreiber überhaupt und dem einzigen, der es mit Reed aufnehmen konnte, unbedingt aufnehmen wollte, auch in Sachen mieser Laune: „Let Us Now Praise Famous Death Dwarves (or how I slugged it out with Lou Reed and stayed awake“ hieß Bangs’ epochale Titelgeschichte des Rockmagazins „Creem“ im März 1975. „Death dwarves“, Todeszwerge, das war eine Anspielung auf einen von Reeds Säulenheiligen, auf William S. Burroughs und dessen Roman „Nova Express“.

Bangs schrieb: „Lou Reed ist ein komplett verkommener Perverser und ein erbärmlicher Todeszwerg und alles andere, was man möchte, dass er sein soll. Lou Reed ist der Typ, der Heroin, Speed, Homosexualität, Sadomasochismus, Mord, Misogynie, trotteliger Passivität und Selbsttötung Würde geschenkt hat, Poesie und Rock’n’Roll.“ Brutaler lässt es sich nicht ausdrücken. Aber die entscheidende Aussage darin ist wohl die auf den ersten Blick unspektakulärste: Reed konnte alles sein, was man wollte, das er sein sollte.

Wer war Lou Reed? Geboren wurde er als Lewis Allan Reed am 2. März 1942 in Brooklyn, aufgewachsen aber ist er vor den Toren New Yorks auf Long Island. Nach dem Studium zog er nach Manhattan und verdingte sich dort kurzzeitig als Lohnsongschreiber, im Zuge dieser Tätigkeit lernte er den Experimentalmusiker John Cale kennen. Mit ihm bildete er den Kern jener Band, die nach diversen Umbenennungen und Umbesetzungen ab 1965 als The Velvet Underground zu einer der einflussreichsten Gruppen der Musikgeschichte wurde, insbesondere durch das Debütalbum „The Velvet Underground & Nico“ von 1967, dem mit dem Bananen-Artwork von Andy Warhol.

„Ich habe Lou Reed erfunden“

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An Velvet Underground war eigentlich alles revolutionär: wie sie in ihren Liedern frühen Rock mit den Drones der Avantgardemusik jener Zeit verband; die Texte Reeds, die von dunklen Sehnsüchten und Süchten handelten, die noch nie zuvor in Songs so thematisiert worden waren, aber zutiefst unterkühlt, cool also vorgetragen wurden; die künstlerische Assoziation der Band mit Warhols Factory; ihr ganzes abweisendes Auftreten, bis hin zur uniformen schwarzen Kleidung.

Der Rest ist heute längst zum Klischee geronnen, zur Folklore des Rock’n’Roll – die zunächst kommerzielle Erfolglosigkeit der vier Alben, an denen Reed beteiligt war, das baldige Auseinanderbrechen der Band, ihre unvergleichliche Bedeutung für alles, was man einst Sub- oder Gegenkultur nannte, von Punk bis Indierock. Was auf immer bleiben wird, sind Reeds Velvet-Underground-Songs, „Heroin“, „I’m Waiting For The Man“, „All Tomorrow’s Parties“, „Venus In Furs“, „Sunday Morning“ (letzterer ausnahmsweise mit John Cale verfasst).

Wer war Lou Reed? Er war, was immer er sein wollte. 1976 hat er gesagt: „Ich kann mich selbst am besten mimen. Und wenn alle anderen ihr Geld damit verdienen, dass sie mich nachäffen, dann sollte ich vielleicht auch dabei mitmachen. Warum nicht? Ich habe Lou Reed erfunden. Ich habe nicht das Geringste gemein mit diesem Typen, aber ich kann ihn gut spielen, wirklich gut.“ War also alles nur ein Rollenspiel, und war das auch musikalisch zu verstehen? Oder war das wieder nur eine der vielen Interviewlügen von Lou Reed?

Er war der Widerspruch in Person

Zumindest hatte er zu dem Zeitpunkt ebenso bereits den Glamrock wie den Beginn dessen logischen Antipoden Punk mitinspiriert. Und er hatte da gerade innerhalb von nur knapp drei Jahren die vier herausragenden Alben aufgenommen, die die musikalischen Extreme seiner Solokarriere bereits definierten: das von David Bowie und Mick Ronson produzierte Hitalbum „Transformer“ (1972) mit „Walk On The Wild Side“, „Perfect Day“ und „Satellite Of Love“ darauf; außerdem die Junkie-Oper „Berlin“ (1973), die unhörbare Gitarrenlärmorgie „Metal Machine Music“ (1975) und die fast schon zärtlich lyrische Platte „Coney Island Baby“ (ebenfalls 1975).

Was danach kam, waren musikalische Variationen, thematische Vertiefungen, keine Revolutionen mehr. Reed war als Instrumentalist beschränkt, sein Gitarrenspiel war alles andere als virtuos, er interessierte sich halt vor allem für den Klang von Gitarren; und als Sänger brummte er und spuckte seine Lyrik eher aus. So blieb er indes in jeder (auch musikalischen) Verkleidung erkennbar, sein Ton, sein Stil, sein Wille zum Außenseiterdasein, zum Widerspruch. Reed war ja der Widerspruch in Person, wider alles und alle, wider sogar sich selbst. Was immer „selbst“ auch bei ihm bedeutet haben mag am Ende.

Wer war Lou Reed? Er war auch Dichter, Schauspieler, Fotograf, Theaterkomponist. Doch das waren nur künstlerische Nebenrollen. Nimm einen einfachen Beat, schlag einen einfachen Akkord auf der Gitarre an, und dann erzähl von den hellsten Momenten und den dunkelsten Ecken der Existenz und der Welt, in die hinein sie geworfen: Rockmusik war die Kunstform, die Lou Reed für die perfekte hielt, für sich – das immerhin meinte man ihm glauben zu können, wenn man mit ihm sprach. Und einen größeren Künstler als ihn hatte die Rockmusik kaum.

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