Seltene Erkrankungen: H�ufig ohne Diagnose
ArchivDeutsches �rzteblatt4/2024Seltene Erkrankungen: H�ufig ohne Diagnose

POLITIK

Seltene Erkrankungen: H�ufig ohne Diagnose

Martin, Mirjam

Als E-Mail versenden...
Auf facebook teilen...
Twittern...
Drucken...
LNSLNS

Oftmals werden Seltene Erkrankungen lange Zeit nicht erkannt. Zentren sollten die Situation f�r Betroffene verbessern. Doch weiterhin sind Diagnosefindung und Therapie nicht leicht.

Foto: Aan/stock.adobe.com
Foto: Aan/stock.adobe.com

Hei� wie Feuer und schmerzend wie 1 000 Nadelstiche: So beschreibt Conny Landgraf seine wiederkehrenden Beschwerden. Seit mehr als 30 Jahren lebt der heute 38-J�hrige mit chronischen Schmerzen. Hinzu kommen Schmerzattacken, die in der Regel eine bis vier Stunden anhalten und insbesondere bei Anstrengungen oder Wetterumschw�ngen stattfinden. Dabei handelt es sich um Fabry-Krisen. Morbus Fabry ist eine seltene lysosomale Erbkrankheit durch einen Mangel am Enzym α-Galactosidase A. Dadurch akkumulieren Glykosphingolipide in verschiedenen K�rperregionen und k�nnen zu Organsch�den an Niere, Herz und Hirn f�hrend (Kasten).

Bei Landgraf wurde die Diagnose Morbus Fabry in seinem 15. Lebensjahr gestellt. Erste Symptome hatte er allerdings bereits mit neun Jahren. �Meine Mutter ist mit mir von Kinderarzt zu Kinderarzt gegangen. Manchmal haben die �rzte mich als Simulant dargestellt oder gesagt, ich h�tte Wachstumsschmerzen, weil es sehr schwierig ist, die Schmerzen einer Erkrankung zuzuordnen�, berichtet Landgraf �ber die Jahre der Ungewissheit. Mit einer Wartezeit von sechs Jahren von Symptombeginn zur Diagnose liegt Landgraf nur knapp �ber dem Durchschnitt: Bei Menschen mit Seltenen Erkrankungen dauert es im Schnitt f�nf Jahre, bis die Erkrankung nach Symptombeginn diagnostiziert wird (1).

Diagnosezeit verk�rzen

Die Situation zu verbessern, ist Ziel des Nationalen Aktionsb�ndnis f�r Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE). Das B�ndnis hat sich 2010 gegr�ndet und drei Jahre sp�ter einen Aktionsplan ver�ffentlicht. Dieser beinhaltet unter anderem die Bildung von Zentren f�r Seltene Erkrankungen (ZSE). Mittlerweile gibt es dem se-atlas.de zufolge 36 solche ZSEs an den Universit�tskliniken. Diese sind nach einem Stufenmodell aufgebaut: Typ-A-Zentren sind ambulante und station�re Anlaufstellen f�r Menschen mit unklarer Diagnose, Typ-B-Zentren sind f�r die Versorgung von bestimmten Krankheiten zust�ndig und ebenfalls sowohl ambulant als auch station�r t�tig. Typ-C-Zentren sollen die ambulante interprofessionelle Versorgung einer bestimmten Krankheit sicherstellen.

Zwar habe sich die Qualit�t der Diagnostik in den vergangenen zehn Jahren verbessert, dennoch beklagen Akteurinnen und Akteure weiterhin lange Zeitr�ume bis zur Diagnosestellung (2). Von �langen Odysseen der Betroffenen durch das Gesundheitssystem� oder davon, �dass Patientinnen und Patienten mit unklarer Symptomatik mitunter nicht ernst genommen w�rden�, ist in einem 2023 ver�ffentlichten Gutachten des Fraunhofer Institut f�r System und Innovationsforschung die Rede. Allerdings scheinen die ZSE den diagnostischen Prozess insgesamt verk�rzt zu haben: So dauert der Prozess bei Patientinnen und Patienten ohne gesicherte Diagnose nach Anbindung an ein ZSE nur ein halbes Jahr (3). Es nimmt jedoch bereits viel Zeit in Anspruch, bis sich Menschen mit dem Verdacht auf eine Seltene Erkrankung �berhaupt an ein Zentrum wenden oder dorthin �berwiesen werden.

Zudem kann es auch sechs bis zw�lf Monate dauern, bis Menschen mit dem Verdacht auf eine Seltene Erkrankung einen Termin in einem Zentrum bekommen, wei� Prof. Dr. med. J�rg D�tsch, Sprecher des ZSE der Uniklinik K�ln. Auch verschiedene ZSEs erkl�ren auf Nachfrage des Deutschen �rzteblatts, dass die Wartezeit bis zu einem Termin mehrere Monate betragen kann.

Die Sprecherin eines ZSEs dr�ckte zudem die Sorge aus, dass sich bei Angabe einer kurzen Wartezeit m�glicherweise zu viele Patientinnen und Patienten bei dem jeweiligen Zentrum melden k�nnten. Und tats�chlich geben auch einige Betroffene in einer Befragung an, dass die gestiegene Aufmerksamkeit f�r die ZSE zu einer h�heren Nachfrage f�hre, jedoch auf unver�nderte Personalressourcen treffe. Das habe die Wartezeiten weiter verl�ngert, hei�t es im Gutachten des Fraunhofer Institut f�r System und Innovationsforschung (2). Allerdings kritisiert das Gutachten gleichzeitig, dass die vorhandenen Einrichtungen bisher noch zu wenig bekannt seien und die Vernetzung zwischen Prim�rversorgern und Zentren verbessert werden m�sse.

Symptomursache oft psychisch

D�tsch und sein Team in K�ln sehen im �bergeordneten A-Zentrum pro Woche etwa zehn bis zw�lf Patientinnen und Patienten mit dem Verdacht auf eine Seltene Erkrankung. Dies seien aber nicht alle, die am ZSE angebunden seien: �Viele Seltene Erkrankungen werden schon in der Kindheit diagnostiziert, meist melden sich diese Patientinnen und Patienten direkt in der Kinderklinik�, sagt D�tsch, der die Klinik und Poliklinik f�r Kinder- und Jugendmedizin der Uniklinik K�ln leitet.

Verbesserungsbedarf f�r die Zentrenarbeit sieht D�tsch in der Anbindung von Patientinnen und Patienten, bei denen keine Diagnose gestellt werden kann. �Wir wissen, dass viele Menschen, die eine lange Leidensgeschichte hinter sich haben, nicht immer eine Seltene Erkrankung haben.� So k�nnten diese beispielsweise eine gar nicht so seltene, aber daf�r schwer zu diagnostizierende Erkrankung haben. Zus�tzlich h�tten viele Patientinnen und Patienten keine organische Erkrankung: �Bis zu 50 Prozent der Menschen, die sich an die Zentren f�r Seltene Erkrankungen wenden, haben keine seltene, sondern eine psychische oder psychosomatische Erkrankung, die einen hohen Leidensdruck ausl�st.� Bislang sei nicht ausreichend geregelt, wie es mit den Patientinnen und Patienten weitergehe, wenn im ZSE keine Diagnose gestellt werden k�nne. Und das ist nicht selten der Fall. In einer Untersuchung mit mehr als 5 600 Patientinnen und Patienten �ber einen Zeitraum von vier Jahren konnte nur unter einem Drittel der F�lle eine definitive Diagnose gestellt werden (4). Helfen k�nnte bei dieser Problematik die Einbeziehung psychiatrischer oder psychosomatischer Expertise. Das legt eine Studie der Universit�tsklinik W�rzburg mit mehr als 1 300 Teilnehmenden nahe: Wurde ein Facharzt f�r Psychiatrie oder Psychosomatik in die Diagnosefindung einbezogen, hatten 42 Prozent der Patientinnen und Patienten nach zw�lf Monaten eine Diagnose, die ihre Symptomatik erkl�rt hat (5). Bei reiner somatischer Expertise waren es weniger als 20 Prozent. Grund f�r die Differenz waren in der Studie vor allem h�ufigere Diagnosen an somatischen, nicht seltenen sowie mentalen Krankheiten. Zus�tzlich steigerte sich durch die Einbeziehung von psychiatrischer Expertise die Patientenzufriedenheit.


�Wir wissen, dass viele Menschen, die eine lange Leidensgeschichte hinter sich haben, nicht immer eine Seltene Erkrankung haben.�

J�rg D�tsch, Centrum f�r Seltene Erkrankungen K�ln


Eine solche Zusammenarbeit ist unter anderem im aktuell an f�nf ZSEs anlaufenden Projekt B(e)Namse vorgesehen. In den Fallkonferenzen f�r Kinder mit Seltenen Erkrankungen sollen zuk�nftig Expertinnen und Experten aus Medizin, Psychologie und dem Case Management zusammenarbeiten. Zus�tzlich soll die Telemedizin sowie die Transition von der Kinder- zur Erwachsenenmedizin die Versorgungsqualit�t verbessern.

Hoffnung elektronische Patientenakte

Eine weitere Chance, die Zeit bis zur Diagnosestellung zu verk�rzen, sieht Dr. rer. nat. Miriam Schlangen von NAMSE in der elektronischen Patientenakte (ePa). �Die Hoffnung ist, dass bei bestimmten Symptomkonstellationen ein Hinweis in der elektronischen Patientenakte aufspringt, dass es sich um eine Seltene Erkrankung handeln k�nnte und den Hinweis gibt, den jeweiligen Patienten an einem ZSE vorzustellen.� Zus�tzlich k�nnte die ePa als eine Art Notfallkarte dienen, auf der die Erkrankung inklusive m�glicher Unvertr�glichkeiten verzeichnet ist, so Schlangen.

Forschungsm�glichkeiten und Anreize verbessert

Neben der Schwierigkeit der Diagnosefindung ist es auch nicht einfach, die Forschung f�r neue Therapiem�glichkeiten voranzutreiben. �F�r die klinische Forschung an Medikamenten ist man auf das Interesse der Pharmaindustrien angewiesen. Die Forschung ist allerdings teuer und die Gewinnmarge ist naturgem�� erst mal gering�, erkl�rt Schlangen. Allerdings erhalten Forschungen an Seltenen Erkrankungen Verg�nstigungen in der Arzneimittelentwicklung. Wird ein Medikament schlie�lich als Orphan medical product zugelassen, erh�lt es zum Beispiel f�r zun�chst zehn Jahre eine Marktexklusivit�t.

Trotz bestehender Schwierigkeiten hat sich die Forschung in den vergangenen 20 Jahren enorm weiterentwickelt. �Die M�glichkeit, sich das ganze Genom angucken und dort Abweichungen finden zu k�nnen, ist ein gro�er Durchbruch in der Diagnostik f�r Seltene Erkrankungen gewesen�, sagt Schlangen. Die nationale Strategie f�r Genommedizin genomDe hat das Ziel, die Genomsequenzierung in die Regelversorgung zu �berf�hren. Daf�r soll im April dieses Jahres ein Modellvorhaben starten (siehe nachfolgender Artikel).

Als Landgraf die Diagnose Morbus Fabry 2001 erhielt, gab es diese M�glichkeiten noch nicht. Allerdings hatte auch er bereits fr�h in seiner Erkrankung die Gelegenheit, an einer klinischen Studie teilzunehmen. �Ich war einer der ersten Jugendlichen auf der Welt, der diese Enzymersatztherapie erhalten hat. Daher hatte ich das gro�e Gl�ck, dass noch nicht so viele Ablagerungen vorhanden waren und ich durch die Erkrankung bisher keinerlei Organsch�den davongetragen habe�, berichtet Landgraf. Alle zwei Wochen bekommt er zu Hause eine Infusion mit der Enzymersatztherapie Agalsidase alfa (Replagal). Nicht alle Personen mit einer Seltenen Erkrankung haben das Gl�ck, schon fr�h in Forschungsvorhaben eingebunden zu werden.

Register k�nnen helfen, die Forschungslage zu verbessern. Ein Beispiel daf�r ist das Krebsdispositionssyndrom-Register, mithilfe dessen Empfehlungen f�r Fr�herkennungsma�nahmen getroffen werden und je nach Risiko intensiviert oder gelockert werden k�nnen. Zus�tzlich k�nnte die im vergangenen Jahr eingef�hrte Kodierungsm�glichkeit helfen, die Forschung und Auffindbarkeit einer Seltenen Erkrankung zu verbessern. �Bis jetzt konnten Seltene Erkrankungen nicht passgenau abgebildet werden, das ist nat�rlich auch schlecht f�r die Forschung�, so Schlangen von NAMSE. Seit vergangenem Jahr ist die Codierung mittels sogenannter ALPHA-ID-SE im station�ren Bereich verpflichtend. �Das ist ein gro�er Erfolg�, so Namsen. �Der zweite Schritt soll sein, die verpflichtende Kodierung auch in die ambulante Versorgung zu bringen.�

Hilfsmittelbedarf gro�

Neben dem Forschungsbereich sieht Schlangen wichtigen Bedarf, die Versorgung mit Hilfsmitteln sowie die Teilhabe, Rehabilitation und die psychotherapeutische Betreuung zu verbessern. �Die Anerkennung eines Pflege- oder Behindertengrades ist oftmals sehr schwierig.� Teilweise br�uchten Kinder, die eine SE haben, eine 24-Stunden-Pflege, allerdings gebe es kaum Pflegedienste, die auf Kinder spezialisiert seien. �Nicht selten h�ren beide Eltern auf zu arbeiten, um ihre kranken Kinder zu pflegen�, berichtet Schlangen.

Landgraf hat das Gl�ck, trotz seiner Erkrankung selbstst�ndig zu sein und seine Arbeit als technischer Zeichner aus�ben zu k�nnen. �Ich habe einen sehr sozialen Arbeitgeber und sehr hilfsbereite Kollegen�, so Landgraf. Teilweise kommt es vor, dass Landgraf aufgrund seiner Schmerzen nach Hause gehen muss. Denn trotz der fr�hzeitigen und nun mehr als 20 Jahren andauernden Therapie nehmen diese zu. �Ich kann mittlerweile eher sagen, was mir wehtut als was mir nicht mehr wehtut.� Kopf und R�cken seien bislang von Schmerzen verschont geblieben. Neben Muskel-, Knochen-, und Gelenkschmerzen berichtet Landgraf von Tinnitus, Konzentrationsschwierigkeiten und Ersch�pfungssymptomen.

Morbus Fabry

  • Definition: Lysosomale Speicherkrankheit aufgrund eines Mangels am Enzym α-Galaktosidase A
  • Fr�he Symptome:
    • Schmerzen an H�nden und F��en
    • Hypohidrose => Leistungsminderung
    • Gastrointestinale Symptome
    • Angiokeratome
  • Im Verlauf
    • Organsch�den: insbesondere Nierenbeteiligung mit Podozyturie und Proteinurie, aber auch kardiovaskul�re und zerebrovaskul�re Symptome
  • Diagnose:
    • Bestimmung der α-GalA-Aktivit�t
    • Genetische Testung
  • Therapie:
    • Intraven�s: Agalsidase alfa (Replagal), Agalsidase beta (Fabrazyme), Pegunigalsidase alfa (Elfabrio)
    • Oral: Migalastat (Galafold)
  • �tiologie: X-chromosomale Vererbung, daher bei Frauen oft mildere Symptome
  • Inzidenz 1:40 000 (m�nnlich); 1:20 000 (weiblich)
1.
Schlangen M, Katharina H: Seltene Erkrankungen in Deutschland � Entwicklungen in der Versorgungssituation. Journal of Health Monitoring 2023; 8(4)
2.
Aichinger H, Brkic N, Schneider D et al.: Die gesundheitliche Situation von Menschen mit Seltenen Erkrankungen in Deutschland. Ein Gutachten des Fraunhofer Institut f�r System und Innovationsforschung ISI durchgef�hrt im Auftrag des Bundesministerium f�r Gesundheit 2023
3.
Glauch M, B�umer T, Hoffmann G, et al.: Verbesserung der Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen durch Umsetzung von im nationalen Aktionsplan (NAMSE) konsentierten Ma�nahmen.
4.
Rillig F, Gr�ters A, Schramm C, et al.: Interdisziplin�re Diagnostik bei seltenen Erkrankungen. Dtsch Arztebl Int 2022; 119: 469�75; DOI: 10.3238/arztebl.m2022.0219 CrossRef MEDLINE PubMed Central
5.
5https://www.thelancet.com/journals/eclinm/article/PIIS2589�5370(23)00437�6/fulltext#%20
1.Schlangen M, Katharina H: Seltene Erkrankungen in Deutschland � Entwicklungen in der Versorgungssituation. Journal of Health Monitoring 2023; 8(4)
2.Aichinger H, Brkic N, Schneider D et al.: Die gesundheitliche Situation von Menschen mit Seltenen Erkrankungen in Deutschland. Ein Gutachten des Fraunhofer Institut f�r System und Innovationsforschung ISI durchgef�hrt im Auftrag des Bundesministerium f�r Gesundheit 2023
3.Glauch M, B�umer T, Hoffmann G, et al.: Verbesserung der Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen durch Umsetzung von im nationalen Aktionsplan (NAMSE) konsentierten Ma�nahmen.
4.Rillig F, Gr�ters A, Schramm C, et al.: Interdisziplin�re Diagnostik bei seltenen Erkrankungen. Dtsch Arztebl Int 2022; 119: 469�75; DOI: 10.3238/arztebl.m2022.0219 CrossRef MEDLINE PubMed Central
5.5https://www.thelancet.com/journals/eclinm/article/PIIS2589�5370(23)00437�6/fulltext#%20

Fachgebiet

Zum Artikel

Der klinische Schnappschuss

Alle Leserbriefe zum Thema

Kennen Sie unsere Fachgebiet-Newsletter?

  • Dermatologie
  • Diabetologie
  • Gastroenterologie
  • Gyn�kologie
  • Kardiologie
  • Neurologie
  • Onkologie
  • Ophthalmologie
  • P�diatrie
  • Pneumologie
  • Rheumatologie + Orthop�die
  • Urologie

Stellenangebote