„Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt“ mit Nina Hoss auf Mubi: Schlaflos in Bukarest

„Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt“ mit Nina Hoss auf Mubi: Schlaflos in Bukarest

2021 gewann der rumänische Regisseur Radu Jude den Goldenen Bären auf der Berlinale. In seinem neuen Film spielt Nina Hoss eine Ururenkelin Goethes. Die Streaming-Kritik.

Neu auf Mubi: „Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt“ mit einer grandiosen Nina Hoss
Neu auf Mubi: „Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt“ mit einer grandiosen Nina HossProof Film

Frühmorgens klingelt der Handywecker. Angela (Ilinca Manolache) quält sich aus dem Bett. In betont unglamourösen, grobkörnigen Schwarzweißbildern wirft sich die Protagonistin in den lärmenden Straßenverkehr von Bukarest. Gelegentlich nimmt sie grellbunte Social-Media-Videos auf. Sie legt dabei einen Filter über ihr Gesicht, der sie aussehen lässt, als sei sie der Zwilling des frauenfeindlichen Influencers Andrew Tate. Dennoch werden in diesen Miniclips zuweilen ihr wasserstoffblondes Haar und ihr schillerndes Paillettenkleid sichtbar. Angelas Styling würde gut in einen Nachtclub passen – doch sie ist als unterbezahlte Produktionsassistentin unterwegs.

Im Auftrag eines multinational agierenden Unternehmens aus Österreich soll Angela Personen für einen Werbefilm über Arbeitssicherheit casten. Menschen, die Opfer von Arbeitsunfällen wurden, sollen darin erklären, wie wichtig es sei, auf sich achtzugeben. Dass Angela im Rahmen dieser vermeintlich hehren Sicherheitsmission 16 Stunden pro Tag arbeiten und, wie sie sagt, „um ihren Lohn betteln“ muss, gehört zu den zahlreichen Absurditäten, auf die der Autorenfilmer Radu Jude in „Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt“ mit bitterbösem Humor hinweist.

Angela dreht die Popmusik im Autoradio auf maximale Lautstärke. Ihr Vorgesetzter rät ihr, sich einen starken Kaffee oder einen Energydrink zu genehmigen, wenn sie ihm erzählt, dass sie Angst habe, am Steuer einzuschlafen. Die Menschen, die als Testimonials für mehr Sicherheit am Arbeitsplatz dienen sollen, werden mit dringend benötigtem Geld gelockt. Immer wieder blicken wir bei Angelas Kurzbesuchen in die von materieller Armut geprägten Wohnsituationen der Leute. Der Strom wurde ihnen abgestellt, Krankheiten sorgen für massive Einschränkungen. Falls es doch mal zu harmonisch wirkt, weil eine Person gerade einen Angelausflug macht, muss für die Castingaufnahme ein künstlicher Depri-Bildhintergrund gezaubert werden – es soll ja schließlich alles authentisch sein!

„Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt“ auf Mubi: Nina Hoss im Luxushotel

Wie schon in seinem preisgekrönten Vorgänger „Bad Luck Banging or Loony Porn“, in dem eine Lehrerin mit der Bigotterie ihres Umfeldes konfrontiert wird, fordert uns Jude auch in diesem 164-Minüter unentwegt heraus. Die Ironie ist beißend, die Kritik an der Ausbeutung lässt sich bei allem Aberwitz der gezeigten Momente niemals weglachen. Hinzu kommt ein intertextuelles Spiel: Ausschnitte aus dem Film „Angela merge mai departe“ (1982) von Lucian Bratu um eine taffe Taxifahrerin (verkörpert von Dorina Lazăr) werden in das Geschehen hineinmontiert – bis sich die Gegenüberstellung auflöst und die Heldin von damals als gealterte Figur in die Handlung eingreift.

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Und dann ist da noch Nina Hoss als Marketingchefin Doris Goethe. Zunächst taucht sie in Videocalls auf, um leere Worthülsen wie „Keep up the good work!“ auszurufen. Später ist sie vor Ort, auf der Durchreise für eine Nacht im Luxushotel, ehe sie weiter nach Singapur muss. Virtuos vermittelt Hoss die Kälte und Ignoranz, mit der Doris ihrem Job nachgeht. Sie lässt ihre Rolle nicht zur Karikatur werden – das wäre zu einfach. Doris zeigt Interesse an Angela und an der rumänischen Kultur, aber in einem möglichst unverfänglichen Maße, das es ihr erlaubt, ihr Handeln nicht infrage stellen zu müssen.

Ihr berühmter Ururgroßvater Johann Wolfgang von Goethe habe kurz vor seinem Tod nicht, wie fälschlicherweise überliefert, „Mehr Licht!“ gesagt, sondern „Mehr nicht!“, behauptet Doris. Was die völlig ausgepowerte Angela mit dieser bestürzenden Anekdote anfangen soll, muss sie allerdings selbst herausfinden. Doris ist alsbald nicht mehr zu sprechen. Ihre Arbeit ist getan. Mit einer langen Plansequenz, in der das Werbevideo entsteht, lässt Jude seinen Film ausklingen – und uns, wie es sein sollte, irritiert zurück.

Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt. Spielfilm, 164 Minuten, Mubi, ab 3. Mai