FormalPara Sprache

englisch

FormalPara Übersetzung

Kunde von Nirgendwo oder ein Zeitalter der Ruhe (1991)

FormalPara Übersetzer/in

C. Janetzki

FormalPara Hauptgattung

Epik / Prosa

FormalPara Untergattung

Roman

Der sozialutopische Roman erschien 1890. Morris war seit den frühen 1880er Jahren mit der liberalen Politik zunehmend unzufrieden, und 1883 bekannte er sich, angeregt von den Schriften John Ruskins und Thomas Carlyles, offen zum Sozialismus. Ein Jahr darauf gründete er zusammen mit Gleichgesinnten die Socialist League. Seine politischen Anliegen standen in Wechselwirkung mit einer enorm produktiven künstlerischen und kunstgewerblichen Tätigkeit im Umkreis der Präraffaeliten und des ‚Arts and Crafts Movement‘ und dem Engagement in der ‚Society for the Protection of Ancient Buildings‘. Der Grund für seine wachsende Radikalisierung war neben einer allgemeinen Desillusionierung gegen Ende der viktorianischen Epoche die Ablehnung einer primär funktionalistisch orientierten sozialistischen Arbeiterbewegung mit ihrer wachsenden Zahl von Anhängern, die einen staatlich gelenkten, rein ökonomischen Sozialismus befürworteten. Ausdruck solcher Ansichten war auch die populäre Utopie des Amerikaners Edward Bellamy Looking Backward (1888), die den unmittelbaren Anlass für Morris' Schrift bot. Morris hielt die grundsätzliche Reduktion von Arbeit durch Technologie und Mechanisierung für einen fundamentalen Fehler, der einer Selbstverwirklichung durch nicht-entfremdete Tätigkeit entgegenwirkt.

In seiner Utopie setzt Morris diese Auffassungen literarisch um. Die Handlung spielt im London des Jahres 2000. Der Erzähler William Guest wacht nach einer abendlichen Debatte unter Freunden in der Zukunft auf und sieht die erhoffte sozialistische Revolution verwirklicht. Er findet sich in einer von industrieller Hässlichkeit, sozialer Ungerechtigkeit und ökonomischer Ausbeutung befreiten Welt wieder, in der die Menschen nicht nur politisch emanzipiert, sondern auch kreativ tätig sind. Die Mitglieder der neuen Gesellschaft leben in Glück und Harmonie, von Krankheiten, Neid und Habgier wissen sie nichts mehr. Ein alter Mann schildert dem Besucher einige der vorausgegangenen Klassenkämpfe und erklärt die politische Konzeption der Gesellschaft. Diese vereint traditionelle Handwerkskünste mit einer modernen, technisch und politisch erneuerten Gesellschaft. Der Entwurf wendet sich somit nicht nur gegen politische Unterdrückung und ökonomische Ausbeutung, sondern auch gegen die entfremdete, mechanisierte Arbeit des Industriezeitalters. Die freiwillige Betätigung als Handwerker, Wissenschaftler und Künstler, die jedem Bürger des Nirgendwo offensteht, bringt die schönsten Artefakte hervor. Der Verzicht auf maschinelle Massenproduktion hat die Landschaft von Smog und Ruß wie auch von hässlichen Fabrikanlagen befreit und eine ländliche Idylle wiedererstehen lassen. Doch wer für die Regulierung der Arbeit, die Verteilung der Waren und die gesellschaftliche Ordnung zuständig ist, erfährt der Leser nicht genau, obwohl die kleinen Kooperativen, Läden und Werkstätten in den Händen von Bürgern auf eine basisdemokratische Organisation hindeuten. Obgleich der Erzähler sich in eine der selbstbewussten jungen Frauen verliebt, wird ihm zu verstehen gegeben, dass er zu sehr vom Unglück der alten Zeit belastet sei, um zu bleiben. Daraufhin begibt er sich ans Themseufer, wo er angekommen war, und erwacht wieder in der alten Welt, jedoch voller Hoffnung, Anhänger für seinen Zukunftsplan zu gewinnen.

Der genretypische Besucher aus einer anderen Welt hat hier explizit einen Status als Gast („guest“), der seine Beobachtungen stets an die Gegenwart des ausgehenden 19. Jh.s rückkoppelt. Dass das Gesellschaftsideal nicht mehr als fiktional mögliche Welt gezeigt wird, sondern nur mehr als Traumvision erlebt werden kann, zeigt, dass die Utopie durch konkreten gesellschaftlichen Wandel und durch Verwissenschaftlichung von Historizität und Evolution bereits brüchig geworden ist. News from Nowhere war eine der letzten positiven Utopien; Morris trug seinerseits zur Weiterentwicklung der philosophisch-politischen Basis des Genres bei, indem er die statische Raumutopie nach dem Muster von Thomas Morus' Utopia (1516) in einen zeitlichen Zukunftsentwurf überführte. Die Bezeichnung ‚Romanze‘ (An Epoch of Rest, Being Some Chapters from a Utopian Romance) im Untertitel verweist darauf, dass sich der Autor nicht zur vollständigen Darstellung eines Gesellschaftsentwurfs verpflichtet fühlte. Das korporative Ideal freier ländlicher Gemeinschaften von künstlerisch tätigen Menschen bietet bewusst unzureichende ökonomische und systemische Informationen. Morris wollte mit seiner Schrift an ästhetische und moralische Werte appellieren, die nicht automatisch aus einer utilitaristischen Gleichheit resultieren. Die neogotische Handwerkskunst, retrospektive Ästhetik und korporative Arbeitsorganisation schienen schon den Zeitgenossen nostalgisch, sentimental und ohne Anknüpfungspunkte für die entstehende Massengesellschaft. Heutigen Lesern muss jedoch die ökologische Komponente des Zukunftsentwurfs visionär erscheinen.