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Kultur „David Copperfield“

Das ist der bunteste Dickens, den es je gab

Redakteur Feuilleton
David Copperfield – Einmal Reichtum und zurück

Davids Mutter verstirbt jung, aber als er zu seiner wohlhabenden Tante und ihrem kauzigen Mitbewohner Mr. Dick (Hugh Laurie) zieht, scheint sein Leben wieder bergauf zu gehen. Das Leben von David Copperfield hält noch weitere Überraschungen bereit.

Quelle: eOne

Autoplay
Mit geradezu schulmäßiger Regelmäßigkeit wird „David Copperfield“ verfilmt. Aber so noch nie. Armando Iannucci nimmt dem viktorianischen Klassiker alle Schwerkraft. Und macht die Diversitätsbeauftragten des britischen Kinos richtig glücklich.

Vielleicht kann man sich das mit der Identität wie einen Drachen vorstellen. Von der Jahreszeit her passt das ja. Wie jenen Drachen, den Mister Pick in Armando Iannuccis Verfilmung von Charles Dickens‘ „David Copperfield“ aufsteigen lässt. England ist schön, der Himmel blau, alle tragen cremefarbene Kleider, jede Hautfarbe ist vertreten.

Und dann schwebt, ganz weiß, beklebt mit Worten, mit Gedanken, mit Bildern, der Drache hoch in die linde Luft. Bringt Mister Pick, der ein bisschen kopflos ist, von der Welt und von dem, was er alles über Karl I. und dessen Enthauptung weiß, zu sich. Und David Copperfield irgendwie auch.

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Wäre ja schön, wenn‘s so einfach wäre. Zwei Stunden lang tut Iannuccis Adaption, die sich von jeder anderen der fast schon ritualhaft alle fünf bis zehn Jahre von der BBC erstellten Copperfieldereien unterscheidet, ein bisschen so.

Handelt von beinahe nichts anderem. Davon, dass es möglich ist, der zu werden, der man ist, obwohl eigentlich alle sich verschworen zu haben scheinen, das genau zu verhindern. Davon, was man dafür braucht. Ein gutes Herz, gute Freunde, Fantasie, Glück und eine Sprache.

Was man nicht unbedingt braucht, ist Charles Dickens. Manchmal kommt einem das, was Iannucci, dieser cineastische Illusionist, da treibt, wie das Bekleben eines Drachen mit Schnipseln aus den sechshundert Seiten des autobiografischen Klassikers vor. Dass der am Ende fliegt, ist das nicht ganz geringe Wunder dieses Films.

DAVID COPPERFIELD - EINMAL REICHTUM UND ZURÜCK Kinofilm
Nicht die zauberhafte Nanny, die magische Tante: Tilda Swinton ist Betsey Trotwood
Quelle: 2020 eOne Germany

Aber vielleicht erzählen wir mal kurz – Vorsicht: Euphemismusversuch – die Geschichte des Halbwaisen David Copperfield. Die Zahl derjenigen zumindest diesseits des Kanals, die Dickens noch gelesen haben, nimmt ja stetig ab.

David wächst so lange umsorgt in einer idyllischen Kindheit auf, bis sich die Mutter in die Hände des Mr. Murdstone begibt. Der vertreibt ihn, schickt ihn weg von seinen Freunden, den einfachen Fischern im Haus am Strand, das ein auf den Kopf gestelltes Boot ist.

Der Junge kommt im Londoner Lumpenproletariat unter, beim bis über die Krempe seines hohen Hutes verschuldeten Mr. Micawber. Wird versklavt in Murdstones als Internat getarnter Flaschenabfüllfabrik, seine Mutter stirbt, er verliebt sich sterblich, er wird Prokurator, er ist beinahe ganz oben, wird vernichtet vom fiesen Uriah Heep, er flieht aufs Land zur Tante, die dauernd Esel von ihrer umfangreichen Wiese vertreibt und deren Drachen bauenden, verhuschten Cousin Mr. Pick.

Viktorianisches Elendsgemälde

Uff. Das musste jetzt schnell gehen. Dass muss es auch bei Armando Iannucci. Bis jetzt – in den besagten BBC-Serien – durfte sich David Copperfield fürs Erwachsenwerden ja ein paar Stunden Zeit lassen, während derer in aller Ruhe das viktorianische Elendsgemälde nachgezeichnet werden konnte, das Dickens an die Wände seines Lebenslabyrinths gemalt hat.

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Iannucci hängt höchstens ein paar Skizzen davon auf. Als Warnschilder, dass sich – was immer Copperfield geschieht und Iannucci erzählt – auf einem finsteren gesellschaftlichen Parkett abspielt.

Iannucci verwandelt die Legende des Glückskinds gegen alle Widrigkeiten und Wahrscheinlichkeiten in ein Skurrilitäten-Kabinett aus dem Geist des Wirklichkeitsverdrehers Wes Anderson. Die Farben sind grell. Immer wieder greift die Magie ein ins Spiel.

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Quelle: 2020 eOne Germany

Nach einer kurzen Begrüßung auf dem Theater dreht sich Copperfield, der Schriftsteller geworden ist, um, klettert rückwärts in seine eigenen Geschichte, tupft der Mutter bei seiner Geburt die Stirn.

Dann, als er glücklich ist im Fischerhaus, greift ihn sich Murdstones gigantischer Arm von oben. Als er sich in ein Blondchen mit Locken und Hund auf dem Arm verliebt, sieht man blonde Locken plötzlich überall und über allem. Niemand in dieser Geschichte kann sich vor einem Trick sicher sein.

Bevor nun der Eindruck entsteht, Iannucci habe sich mit dem Geschnippsel aus Dickens bloß einen postmodernen Witz erlaubt: Dieser „David Copperfield“ hätte Dickens Spaß gemacht. Er steckt voller Scherz, Satire, Ironie und tieferer Bedeutung. Er ist ein ernstes Spiel.

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Nun muss noch einmal die Identität bemüht werden. David nämlich muss es ertragen, während dieser zwei Stunden Davy, Trotts, Toats, genannt zu werden. Bis er genug hat. Dann schreit es „I am David Copperfield“ aus ihm heraus. Am Ende ist er es tatsächlich. David Copperfield – die Ahnung hatten wir ja schon länger – ist ein Urahn von Holden Caulfield.

Womit Identität allerdings – jedenfalls in diesem bunten Spektakel – so gar nichts zu tun hat, ist die Hautfarbe. Dieser „David Copperfield“ ist ein paradiesisches Durcheinander der Abstammungen, Herkünfte und Hautfarben. Das geht schon damit los, dass David von Dev gespielt wird, von Dev Patel – und dass der als Metaebene noch Ahnungen der großen indischen Pubertätslegende „Slumdog Millionaire“ mitbringt, war mit Sicherheit Absicht.

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Der König im Skurrilitätenkabinett: Hugh Laurie ist Mr. Pick
Quelle: 2020 eOne Germany
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Am Anfang ertappt man sich noch beim Irritiertsein, beim Nachdenken darüber, ob das denn überhaupt möglich ist – asiatischer Vater mit schwarzer Tochter, weißer Sohn mit schwarzer Mutter. Irgendwann, es dauert nicht lange, ist einem das vollkommen egal. Weil anscheinend alle einen Höllenspaß hatten in diesem großen viktorianischen Zirkus.

Diversitätsbeauftragte des britischen Kinos jedenfalls hat Armando Iannuci zu glücklichen Menschen gemacht. Uns eigentlich auch.

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