Der Name einer Stra�enbahn in New Orleans gab dem Drama um eine Frau, die sich verliert zwischen Illusion und Realit�t, seinen Titel. Vor 75 Jahren wurde �A Streetcar Named Desire� mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.
Leise �ert�nt aus imagin�rer Ferne die Varsouviana, ein Musikst�ck im Polkarhythmus� (1), w�hrend das Licht auf der B�hne schwindet. Sie �tastet schwankend nach einem Stuhl�, als die Rhythmen in ihrem Kopf immer �st�rker, eindringlicher� werden. Verzweifelt versucht sie, die Musik �abzuwehren, sich ihr zu verschlie�en�; sie �presst die Handfl�chen gegen ihre Ohren (�), sichtlich gequ�lt von der Musik, die nur sie h�rt (�). Die Varsouviana erreicht ein Crescendo�. � Dann der �ferne Hall eines Schusses; die Varsouviana verstummt abrupt�; das �Jazzorchester wird wieder h�rbar, in voller Lautst�rke��
Immer wieder legt sich die Dunkelheit �ber das Licht, die Polkamusik �ber die Jazzrhythmen, gleichsam dem Schatten �ber Blanche Du Bois� Leben; immer wieder wird sie erklingen � die �Varsouviana�; sie verfolgen � die Schuld, die sie, �in ihrer Jugend� auf sich geladen hat. Die Melodie, welche das Orchester im Moon Lake Casino spielte; an jenem Abend, als ihr Ehemann Allan � von ihr getrieben � sich am Seeufer das Leben nahm. �Hilfe hat er bei mir gesucht�, doch �ich habe das nicht begriffen�; vielmehr reagiert sie, �all ihrer Illusionen beraubt�, mit verletztem Stolz, als sie unfreiwillig Zeugin seiner homosexuellen Neigung wird: �Du ekelst mich an!� Lyrisch-poetisch die �Intensit�t ihres inneren Lebens f�hlbar machen�; will Tennessee Williams, der zuvor mit seiner �Glasmenagerie� quasi �ber Nacht ber�hmt geworden ist. Einer wahren �D�monie des Schattenspiels und der Lautkulisse� (2) setzt er seine Protagonistin aus. Das nur subjektiv in der Vorstellung Blanches existierende, jedoch objektiv h�rbare Musikst�ck l�sst den Prozess der seelischen Krise sowie � in seiner paranoiden akustischen Verzerrung � ihre psychische Desintegration transparent werden. Das Empfinden, eine Schuld auf sich geladen zu haben, die sie nicht ertragen kann, solange sie sich selbst �berlassen ist, bildet den Anfang ihres unaufhaltsamen Abstieges.
Elysische Gefilde
�Intimer Umgang mit Fremden�, ist seit Allans Selbstmord �das einzige�, womit sie �die Leere in (ihrem) Herzen ausf�llen� kann. Sie verf�llt dem Alkohol, leugnet aus Scham dessen Konsum unter Berufung auf den s�dlichen Geschlechterkodex; sie verschafft sich das Gef�hl von Reinheit, indem sie mit einer wahren Besessenheit B�der nimmt. Eigenschaften, die sie sich nicht zu bewahren vermag, jedoch einem tiefen Bed�rfnis ihrer Natur entspringen, werden zur Vision: �ein anst�ndiges M�dchen (�), unber�hrt, streng moralisch�. In dieser Selbststilisierung lebend, begegnet sie Mitch, der ebenfalls gegen das Gef�hl der Vereinsamung ank�mpft, vor dem er sich durch eine krankhafte Bindung an seine Mutter zu sch�tzen sucht. Ihm gelingt es, die �Varsouviana� in ihr f�r kurze Zeit zum Verstummen zu bringen. Doch nach seiner verbalen Verletzung: �Sie sind nicht rein genug, um in das Haus meiner Mutter gef�hrt zu werden�, beherrscht die von drau�en hereindringende schwerm�tige Stimme einer mexikanischen Blumenverk�uferin das Interieur � �Flores para los muertos�.
�Man hat mir gesagt, ich soll eine Stra�enbahn namens Sehnsucht nehmen, dann in eine andere namens Friedhof umsteigen und nach sechs Querstra�en aussteigen�; erz�hlt Blanche bei ihrer Ankunft �in den Elysischen Gefilden�. Ein heruntergekommenes Eckhaus im Franz�sischen Viertel von New Orleans; im Parterre eine sch�bige Wohnung � zwei Zimmer, nur getrennt durch einen Vorhang, aus den umliegenden Bars dringt Jazzmusik herein. Hier sucht die ehemalige S�dstaatensch�nheit, nach dem Verlust des Familienanwesens �Belle Reve�, Zuflucht bei ihrer Schwester Stella und deren Ehemann Stanley Kowalski. Ihre Verachtung f�r ihn sowie die eigene �berlegenheit aufgrund Herkunft und Bildung l�sst sie ihn deutlich sp�ren; ebenso ihr Entsetzen �ber Stella, die ihren sozialen Status zugunsten einer Ehe mit einem vulg�ren, gewaltt�tigen Mann aufgegeben und sich dessen Umfeld angepasst hat. Ein Verh�ltnis, das bestimmt wird von Sex: �... ein brutaler Trieb; nicht Sehnsucht, sondern einfach Begierde!�
Sie selber betreibt ein wahres Versteckspiel mit ihrer Vergangenheit und gegenw�rtigen Erscheinung; stets darauf bedacht, nicht im �erbarmungslosen grellen Licht� betrachtet zu werden. � �Ich mag keinen Realismus. Ich will Magie.� In ihrer tristen Umgebung, ausstaffiert mit einem bunten Flitter an Kleidern und Schmuckst�cken, fl�chtet sie sich in Nostalgie und Illusionen; �in einer Art hysterischer Heiterkeit (�) sieht sie sich auf den H�hepunkt einer in Belle Reve stattfindenden Gesellschaft, umgeben von alten Freunden ...�.
Fragile Welt
Williams l�sst das unmittelbare B�hnengeschehen, welches von �einem fr�hen Abend im Mai bis Ende September� dauert, transparent werden f�r Geschehnisse und Erfahrungen, die weit vor dieser Zeit liegen; �(to) see the effect of her past on her present behaviour� (3). Sein St�ck taucht ein in die fragile, in Aufl�sung begriffene Welt von �Belle Reve� in Laurel, Mississippi. Dort, �wo sterbende alte Frauen an ihre toten M�nner dachten�, wo �langsames Hinwelken, Hinsiechen, (�) Verm�chtnisse, Hinterlassenschaften� das Leben bestimmen, setzt die unheilvolle Zerr�ttung von Blanches Natur ein. Mit jedem Ableben eines Familienmitglieds stirbt nicht nur der einstmals so stolze Landsitz der Du Bois�. Sein unaufhaltsamer Verfall greift auch auf sie �ber, entfacht in ihr �Sehnsucht, Lebensgier�. �Belle Reve� ist aber zugleich Symbol einer herrschaftlich gepr�gten, jedoch vom Niedergang gezeichneten Kultur des alten amerikanischen S�dens. �An ihnen m�ssen wir festhalten�, beschw�rt Blanche vergeblich ihre Schwester in dem Bewahren von dessen Werten und Traditionen. Sie selber ist noch gefangen in dieser Welt mit deren eigenen Gesetzen. �Belle Reve� ist ihre Identifikation, ihre Authentifizierung als Person und als Frau; sein Verlust zugleich der ihrer Selbst. �Flucht, Panik� treibt sie fortan �von einem zum andern (�), auf der Suche nach Schutz�.
�Magie will ich den Menschen geben. Ich sage nicht die Wahrheit, nicht was ist, sondern was sein sollte.� Gleichsam dem chinesischen Papierschirm um die nackte Gl�hbirne im Zimmer breitet Blanche einen Schleier �ber das H�ssliche und Brutale. �Es wird Ihnen nicht gelingen�, glaubt sie sich hierdurch vor Stanley gesch�tzt; sie �so zu verletzen�, wie sie selbst Allan verletzt hat. In ihrem m�nnlichen Antagonisten � ein �muskul�ser, kr�ftig gebauter Mann�, in dessen �Bewegungen und Stellungen (�) sich seine animalische Lebensfreude und im Umgang mit Frauen die �berlegende Kraft verr�t� �, zeichnet Williams das personifizierte Triebprinzip des Lebens in geradezu gewaltsamer, primitiver und erbarmungsloser Ausformung. Selber die H�rte der Realit�t erfahren, wird Stanley Blanche zwingen, diese anzuerkennen; �the ravishment of the tender (�) by the savage and brutal forces of modern society� (4).
Zerr�ttung der Z�rtlichen
Provoziert von ihrem affektierten, diffamierenden und pr�den Verhalten, zugleich sein Territorium bedroht f�hlend, rei�t er ihren Schutzschirm der Illusionen nieder. �Alles das existiert nur in Ihrer Einbildung.� R�cksichtslos und erregt � geleitet von �instinktiver Sicherheit auf dem Gebiet der sexuell classification� (2) � konfrontiert er sie mit ihrer promiskuitiven Vergangenheit und vergewaltigt sie. In die geistige Umnachtung getrieben, l�sst Blanche sich von einem Arzt, der ihr in Manier eines Gentleman Caller seinen Arm anbietet, in eine Heilanstalt geleiten: �Wer Sie auch sind, ich habe mich immer auf die G�te von Fremden verlassen.� Derweil im Hause Kowalski unbeeindruckt der rituelle Pokerabend fortgesetzt wird, begleitet von der �ratternden Stra�enbahn, die hier durch das Viertel holpert, eine alte, enge Stra�e hinauf und eine andere alte, enge Stra�e hinunter�, und deren �unentwegte Fahrt� dem amerikanischen Dramatiker �von symbolischer Bedeutung f�r das Leben� (5) erscheint. Sandra Kr�mer M.A.
sandra.kraemer@studium.uni-hamburg.de
Literatur im Internet: www.aerzteblatt.de/pp/lit0523