Interpretation Die Beiden von Hugo von Hofmannsthal

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Hofmannsthal: Die Beiden

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Interpretation: Die Beiden

Das ist eine alte Geschichte: Eine Frau und ein Mann machen beide einen selbstsicheren Eindruck, doch wenn sie zusammen sind, dann geht das gro�e Zittern los. Man wei� nichts zu sagen und selbst so harmlose Dinge wie das �berreichen eines Bechers scheitern. Aber ist das �berreichen eines Bechers in diesem Gedicht wirklich harmlos? Gehen wir doch mal n�her ran an �Die Beiden�:

Wie �blich n�here ich mich dem Gedicht aus der Richtung der Formalien. Die Strophenanordung erinnert an ein Sonett, das bekanntlich aus zwei Vier- und zwei Dreizeilern besteht. Aber weder die Reimstruktur noch das Versma� halten sich an die klassischen Gepflogenheiten.

Die erste Strophe weist Paarreime auf (aabb), w�hrend im Sonett sonst in den Quartetten meist umarmende (wie in Strophe 2 � cddc) oder auch kreuzreimende Verse genutzt werden. Das Versma� ist ein vierhebiger Jambus, also viermal Senkung, Hebung im Wechsel, w�hrend das klassische Sonettmetrum ein f�nfhebiger Jambus ist.

Letztlich gleicht die inhaltliche Struktur � Frau, Mann, Beide � derjenigen eines rhetorisch gebauten Sonetts � These, Antithese, Synthese �, aber da die beiden anscheinend nicht zusammenkommen, ist es nur folgerichtig, dass auch das Sonett nicht wirklich �sitzt�.

Die Erz�hlhaltung des Gedichts schwankt zwischen N�he und Ferne. Einerseits wird sehr detailliert und intim ein Geschehen beschrieben, das nur wenige Sekunden dauert, andrerseits wird das Geschehen in der Vergangenheitsform und aus der Beobachterperspektive geschildert, wobei �sie� und �er� namenlose, alterslose Figuren sind. Nur einmal (in Vers 11) zieht die Stimme des Gedichts eine Schlussfolgerung aus dem Beobachteten �ber das Innenleben der beiden. Auch diese Erz�hlhaltung spiegelt also die Unm�glichkeit der N�he wider.

Sie trug den Becher in der Hand
� Ihr Kinn und Mund glich seinem Rand �,
So leicht und sicher war ihr Gang,
Kein Tropfen aus dem Becher sprang.

Die erste Strophe ist allein der Frau gewidmet. Formal auff�llig ist, dass alle Vers-Enden mit einer Hebung (m�nnliche Kadenz) abschlie�en und auf den gleichen Vokal (�a�) reimen. Zudem gibt es keine Enjambements. Jeder Vers wirkt in sich abgeschlossen.

Wenn ich den formalen Charakter der Verse in menschliche Eigenschaften �bersetzen wollte, w�rde ich sagen, wir haben es hier mit einer einfachen, eher introvertierten, in sich ruhenden Frau zu tun.

Un�bersehbar ist in der ersten Strophe die Verbindung der Frau mit dem Becher. In Vers zwei werden Kinn und Mund mit dem oval geformten Becherrand verglichen (ein nicht unbedingt gegl�ckter Vergleich, weil man an einen t�richt weit aufstehenden Mund denken k�nnte). Aber wichtiger ist, welcher Art Objekt so ein Becher darstellt. Er ist einerseits passiv, dienend, ein zu f�llendes Objekt und eher der Haushaltssph�re zugeordnet, andrerseits durch seinen Inhalt auch ein Lebensspender, was durch den Schlussreim �sprang� zum Ausdruck kommt. Die Tropfen w�rden nicht passiv fallen, sondern aktiv springen.

Indem die Frau mit dem Becher verbunden wird, schreibt der Dichter ihr nicht genau dessen Eigenschaften zu, denn ein Becher ist ein lebloses Objekt, aber er stellt eine assoziative N�he zwischen Objekt und Frau her.

Interessant f�r die Charakterisierung der Frau ist zudem die Lautstruktur bei den betonten Silben der ersten Strophe. In den ersten beiden Versen bildet das �u� in �trug� und �Mund� ein dunkles Gegengewicht zum hellen �a� des Reims. Die Verse werden sozusagen geerdet. Vers drei und vier hingegen machen einen helleren, lebendigeren Eindruck. Das �u� wird vermieden, der Laut �a� variiert (�au� und �ai� in �leicht�, die Aussprache z�hlt!) und mit anderen eher hellen Lauten gemischt. Einzig der �Tropfen� f�llt als etwas dunklerer Laut auf, was eine Verbindung zum Schlussreim des Gedichts schafft.

Es zeigt sich somit in der Lautstruktur der ersten Strophe eine Verbindung von Solidit�t und Lebendigkeit, die gut zur inhaltlichen Charakterisierung der Frau passt.

So leicht und fest war seine Hand:
Er ritt auf einem jungen Pferde,
Und mit nachl�ssiger Geb�rde
Erzwang er, dass es zitternd stand.

Die �m�nnliche� zweite Strophe ist formal wesentlich dynamischer gebaut. Es gibt einen Wechsel von m�nnlicher zu weiblicher Kadenz und beim Reimvokal in den Innenversen. Der umarmende Reim enth�lt ein Spannungselement, weil zwei Zeilen �berbr�ckt werden m�ssen, bevor es zum Reim kommt. Zudem tritt das erste Enjambement beim �bergang von Vers drei zu vier auf, wobei dieser Zeilensprung auf eine starke Z�sur nach �Erzwang er� prallt.

Allein schon vom Formalen gesehen gibt es Verbindungen zwischen dem Mann und der Frau, etwa der Hand-Reim und der Zeilenstil der ersten beiden Verse, aber eben auch die gezeigten Unterschiede. Diese deuten, wenn man die Verbindung von Strophenaufbau und menschlichem Charakter weiterspinnt, auf eine Pers�nlichkeit hin, die etwas extrovertierter, unausgeglichener ist.

Inhaltlich fallen als erstes der zum dritten Vers parallel gebaute Einstieg und die erneute Verwendung von �Hand� als Reimwort auf. Statt �leicht und sicher� hei�t es nun �leicht und fest�. Es ist �u�erlich eine Gemeinsamkeit der beiden gegeben. Doch wird dem Mann statt des Bechers ein junges Pferd zugeordnet.

Auch ein Pferd als Reittier hat einen dienenden Charakter, aber es ist ein Mittel der Mobilit�t und wichtiger noch: Es ist lebendig, muss beherrscht werden, zumal wenn es noch jung ist, also noch Flausen im Kopf hat. Der Mann wird zwar vorgestellt als jemand, der das Tier beherrscht, indem er es zum Stehen bringt, aber zwei Dinge zeigen, dass die Kontrolle nicht vollkommen ist.

Und mit ganz l�ssiger Geb�rde
Erzwang er, dass es
ruhig stand.

Ich habe die entscheidenden Stellen mal abge�ndert, so dass jemand gezeigt wird, der wirklich souver�n mit einem Pferd umgeht. In der Originalversion muss bei �nachl�ssiger� von der nat�rlichen Betonung abgewichen werden, um das jambische Hebungsschema einzuhalten, eine Tonbeugung. Die Betonung verschiebt sich von �nach� auf die zweite Silbe. Hinzu kommt, dass auch die eher schw�chere letzte Silbe des Wortes auf einem Hebungspunkt liegt und daher etwas mehr betont werden muss, als ihr eigentlich zusteht. Die ganze L�ssigkeit erh�lt also einen etwas gezwungenen Charakter.

Dass das Pferd �zitternd� und nicht ruhig steht, kann Ersch�pfung andeuten, aber auch innere Anspannung und Kraft. Im Zusammenhang mit dem vorher gesagten und der letzten Strophe deutet sich die Nervosit�t des Reiters an.

Die Lautstruktur der Hebungssilben profitiert schon von der Abkehr des ausschlie�lichen �a�-Reims, wodurch die zweite Strophe lautlich lebendiger wirkt. Allerdings, da das �u� bis auf einen Kurzauftritt im zweiten Vers fehlt, mangelt es an einem Gegenpol zu den vielen hellen Lauten. Interessant ist, dass im letzten Vers nicht nur mit �Erzwang� der zweite Reim der ersten Strophe nachhallt, auch sind drei der vier Hebungssilben �a�-basiert. Dadurch wirkt �zitternd� umso auff�lliger. Die Lebendigkeit und Helle tendiert am Schluss somit zur Unausgeglichenheit.

Jedoch, wenn er aus ihrer Hand
Den leichten Becher nehmen sollte,
So war es beiden allzu schwer:
Denn beide bebten sie so sehr,
Dass keine Hand die andre fand
Und dunkler Wein am Boden rollte.

Schon die unorthodoxe Reimstruktur (abccab) der dritten Strophe ist ein Hinweis auf mangelnde Harmonie, zumal nun zum ersten Mal das etwas dunklere �o� im Reim auftritt. Und wieder wird ein Vers, der mit einem Enjambement verbunden ist, durch eine Z�sur auseinander gerissen: �Jedoch, ��.

Dieses �Jedoch� wirkt wie eine Ank�ndigungsfanfare: Jetzt kommt�s! Interessant dabei ist, dass das �o� in der Hebungssilbe eine Verbindung schafft von der ersten Strophe in �Tropfen� �ber �Jedoch� bis zum Reim, der das Scheitern der Becher�bergabe beschreibt (sollte � rollte), wobei am Schluss der Reim durch eine Assonanz (Boden � rollte) verst�rkt wird. Alle anderen Hebungssilben enthalten kein �o�.

Kurzer grunds�tzlicher Einschub: Man k�nnte fragen, ob es nicht ein bisschen �bertrieben ist, wenn man hier �ber den Vokal Verbindungen sieht, wo doch die verwendeten W�rter ein �o� enthalten m�ssen. Es mag sein, dass der Zufall beim ersten Niederschreiben eine Rolle spielt. Aber wenn ein Dichter von dem Kaliber wie Hugo von Hofmannsthal an einem Gedicht arbeitet, dann kann man erwarten, dass er solche Verbindungen entdeckt und sie entweder weiter herausarbeitet, indem er etwa an anderer Stelle ein �o� in einer Hebungssilbe durch eine Wort�nderung tilgt oder dass er die Verbindung verwischt, wenn sie nicht von ihm erw�nscht ist.

Dass er sehr bewusst das �o� verteilt hat, l�sst sich an einer Nebens�chlichkeit in der letzten Strophe zeigen. Es gibt hier auch zum ersten Mal das �o� in Senkungssilben. In Vers drei und vier wird zweimal �so� verwendet. Da Vers zwei bereits mit �sollte� abschlie�t, w�re dieses dreifache so-so-so eigentlich eine stilistische Schw�che. Von Hofmannsthal h�tte den dritten Vers auch �Da war es �� beginnen k�nnen, um die H�ufung zu vermeiden. Hat er aber nicht. Stattdessen �stottert� er lieber im O-Modus, um das Scheitern der Becher�bergabe lautlich zu illustrieren.

Inhaltlich f�llt bei der Begegnung der beiden auf, dass niemand spricht, niemand l�chelt. Zumindest ist es nicht in der Beschreibung der Schlussszene enthalten. Es bleibt also dem Leser �berlassen, sich vorzustellen, was gesagt, ob gel�chelt wird, oder ob die Sache wirklich so stumm und spannungsgeladen abl�uft, wie sie ansonsten geschildert wird. Aus der bisherigen Charakterisierung w�rde ich schlie�en, dass die Frau den Becher zwar stumm, aber mit einem angedeuteten L�cheln �bereicht, w�hrend der Mann versucht eine souver�ne Haltung zu bewahren, die Nervosit�t der beiden jedoch un�bersehbar ist.

Weiterhin sind zwei �bernahmen aus den Vorstrophen auff�llig. Einmal �leicht�, das bisher jeweils zur Charakterisierung von Mann und Frau verwendet und nun auf den Becher angewendet wird, wobei hier gleich im folgenden Reim das kontrastierende �schwer� den Anfang vom Ende einleitet.

Noch auff�lliger ist die �Hand�, da sie immer im Reim steht. Ganz zu Anfang habe ich die Sonettstruktur erw�hnt. Im italienischen Vorbild ist es �blich, in den Vierzeilern abba und noch mal abba zu reimen. Ein Zeichen von Schw�che w�re es jedoch, auch ein Wort noch mal zu verwenden. Hugo von Hofmannsthal geht dar�ber sogar noch hinaus und setzt �Hand� auch im zweiten Teil in den Reim, wo dieses Reimwort nach Sonettma�st�ben eigentlich nichts mehr zu suchen hat, da in den dreizeiligen Strophen nicht mehr die a- und b-Reime verwendet werden. Warum macht er das?

Es ist banal, aber H�nde sind nun mal des Menschen wichtigstes Handlungsinstrument. So werden sie ja auch im Gedicht vorgestellt, ein Becher wird getragen, ein Pferd gez�gelt. Doch dar�ber hinaus sind sie auch f�r den K�rperkontakt zust�ndig. Das reicht vom fl�chtigen H�ndesch�tteln �ber Streicheleinheiten bis zur intensiven Erkundung des anderen K�rpers.

Und da hier anscheinend ein erster Kontakt hergestellt werden soll, sind die H�nde entscheidend, aber auch entscheidend f�r das Scheitern. Was genau passiert, muss man sich wieder selbst vorstellen. Es kann sein, dass der Becher dem Versuch, die Ber�hrung der H�nde �ngstlich zu vermeiden, zum Opfer f�llt, aber ebenso kann die zuf�llige Ber�hrung zum Fiasko gef�hrt haben.

Unterst�tzt wird das Nichtzueinanderfinden der H�nde durch die weite Entfernung der Reimw�rter von Vers eins und Vers f�nf. Zudem zieht der Binnenreim in Vers f�nf den Reim an sich, so dass die Zeile eigentlich sehr harmonisch klingt, aber daf�r die Hand aus Vers eins reimlich �in der Luft h�ngen bleibt�.

Ein weiterer Kunstgriff, um die innere Anspannung der beiden zu zeigen, ist die zweifache Alliteration (gleicher Anfangslaut in Hebungssilben) in Vers vier (beide � bebten und sie � sehr). Die Harmonie wird durch die Lautung ausgedr�ckt sehnlichst gew�nscht, aber scheitert eben, weil �Hand� nicht zu �Hand� findet.

Schlie�lich rollt �dunkler Wein am Boden�. Die Fl�ssigkeit versickert nicht, zerflie�t nicht, sie rollt. Von daher ist der Gedankensprung vom dunklen, also roten Wein, zum dickeren Blut naheliegend. Wenn man diese Assoziation weiterdenkt und noch mal rekapituliert, welche Eigenschaften mit dem Becher verbunden sind (passiv, ein zu f�llendes Objekt, aber auch Lebensspender), dann h�tten wir hier nicht die harmlose �berreichung eines Bechers, sondern die allerzarteste Andeutung eines allerersten Geschlechtsaktes, Nervosit�t inklusive.

Hugo von Hofmannsthal stellt diesen Akt jedoch durch ein Scheitern dar. Dies kann man als erstes so interpretieren, dass dieser H�hepunkt romantischer Liebesgeschichten vielleicht doch nicht so gro�artig ist, wie er suggeriert wird. Von da aus l�sst sich der Bogen weiter spannen zu der Frage, wie nah k�nnen sich zwei Menschen tats�chlich kommen? Bleiben am Ende nicht doch immer ein Mann und eine Frau als zwei getrennte Individuen �brig?

Was als m�glicherweise sogar belustigende Erz�hlung einer Fehlleistung beginnt, wirft letztlich eine grunds�tzliche Frage des Menschseins auf. Die Becher�bergabe ist folglich in diesem Gedicht philosophischer als man auf den ersten Blick denkt.

Autor: Hans-Peter Kraus (Kontakt)
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