In dem ZDF-Fernsehfilm „Stumme Schreie“ (Ziegler Film), entstanden nach dem Sachbuch „Deutschland misshandelt seine Kinder“ des renommierten Rechtsmediziners und Thriller-Autors Michael Tsokos, k�mmern sich eine junge �rztin und ihr Chef um Gewaltopfer – ausschlie�lich misshandelte Kinder. Autor Thorsten N�ter hat aus den Fakten eine Geschichte entwickelt, die sich zun�chst der Analyse widmet, bevor er eine „L�sung“ durchspielt, bei der die Heldin die Sache selbst in die Hand nimmt. Der Zuschauer erf�hrt, wie kompliziert die Sachverhalte, wie vielf�ltig die Abw�gungen und wie kontr�r mitunter die Positionen von Rechtsmedizinern, der Polizei und dem Jugendamt sind, die in den Entscheidungen �ber das Kindswohl involviert sein k�nnen. Der Film ist sehr informativ, aber auch dramaturgisch gut konzipiert; Erkl�r-S�tze werden weitgehend vermieden. Ein packendes Sozialdrama, das an die Nieren geht – realit�tsnah & physisch gespielt, einfallsreich & sinnlich inszeniert.
Foto: ZDF / Britta Krehl"Das ist nicht das Bild eines einmaligen Ausrasters, das ist ein Kalender der Gewalt." Die Dokumentation der Verletzungen. Paul wurde misshandelt. Familie ist nicht immer der warme, kuschelige Ort, der dem Kind Schutz bietet. Belitski & Maurer.
Eine junge Assistenz�rztin und ihr Chef k�mmern sich um misshandelte Kinder
Ob das wohl der richtige Job f�r eine junge, empfindsame Frau ist? Jana Friedrich (Natalia Belitski) ist jedenfalls geschockt. W�hrend ihrer Facharztausbildung bekommt sie eine Stelle im Berliner Institut f�r Rechtsmedizin. Allerdings landen auf ihrem Tisch keine Leichen, denn das Institut k�mmert sich auch um Gewaltopfer, und ihr Chef und Mentor Professor Bremer (Juergen Maurer) hat den Eindruck, dass sie als Mitarbeiterin in der Gewaltschutzambulanz besser aufgehoben ist. Denn Jana wei�, worum es hier geht. Auch ihre Mutter wurde Opfer h�uslicher Gewalt. Das birgt allerdings die Gefahr, dass sie die tragischen Schicksale emotional zu nah an sich herankommen l�sst – umso mehr, als sie es bei ihrer Arbeit ausschlie�lich mit misshandelten Kindern zu tun bekommt. Und so sieht sie denn auch im Falle der zerr�tteten Familie um die junge Dreifachmutter Nicole Binder (Hanna Hilsdorf) und ihren neuen Partner Ronnie (Julius Nitschkoff) nicht die Paragraphen und Gesetze, die die Familie sch�tzen, sondern vor allem die beiden Vorschulkids Jason (Till Patz) und Desiree (Carla Demmin), die nach dem Sch�tteltrauma-Tod des j�ngsten Kindes in diesen prek�ren Verh�ltnissen nicht mehr sicher sind. Da eine staatsanwaltliche Beweisf�hrung schwer wird, hat sich die LKA-Beamtin Sirin Acar (Sesede Terziyan) mal wieder umsonst ins Zeug gelegt. Dagegen h�lt sich das Jugendamt auffallend zur�ck, setzt auf Einsicht und „Erziehung“ der Eltern. Allerdings beurteilen die Betreuer die Situation bei den Binders sehr unterschiedlich. Gilda (Amanda da Gloria) glaubt vor allem an die Besserung der Familiensituation, w�hrend Andr� (Timur Bartels) die heile Familie als eine Inszenierung durchschaut. Mit seiner Hilfe hofft Jana, dem Schrecken ein Ende zu machen. Und dann rastet Ronny aus.
Foto: ZDF / Britta KrehlDie junge Dreifachmutter Nicole Binder (Hanna Hilsdorf) ist �berfordert mit der famili�ren Situation. Wenig Liebe f�r Jason (Till Patz) und Desiree (Carla Demmin)
Sterne-Vergabe: „Stumme Schreie“ ist normalerweise ein F�nf-Sterne-Film. In Zeiten aber, in denen gutes Fernsehen mehr und mehr in Genre-Form erz�hlt und einer makellosen Bildersprache verpackt wird, in denen Dramen zugunsten gut gemachter (Krimi-)Unterhaltung ausgemustert werden, gibt es ausnahmsweise mal einen Themen-Bonus in Form eines halben ttv-Sterns zus�tzlich!
Rechtsmediziner, Polizei, Jugendamt – die Rechtslage ist mehr als kompliziert
Rechtsmediziner einmal nicht als Leichenaufschneider, die dem Tod messerscharf ins Auge sehen und den krimiinfizierten Zuschauer in wohliges Schaudern versetzen. „Stumme Schreie“ geht zwar wie die Sat-1-Thriller-Reihe „Ein Fall f�r Dr. Abel“ auf die Buchvorlagen des renommierten Berliner Rechtsmediziners Michael Tsokos zur�ck, entstanden ist der ZDF-Fernsehfilm allerdings nicht nach einem seiner Thriller, sondern nach dem Sachbuch „Deutschland misshandelt seine Kinder“. Mehr als 200.000 Schutzbefohlene sind es jedes Jahr, die sich in ihrer Familie Schl�gen, Tritten oder Verbrennungen ausgesetzt sehen. Drehbuchautor Thorsten N�ter hat aus den Fakten eine Geschichte entwickelt, die sich die erste H�lfte der Analyse widmet, bevor er in der zweiten H�lfte einen „L�sungsvorschlag“ durchspielt, bei dem die junge Heldin die Sache selbst in die Hand nimmt. Ob n�chtern-sachlicher oder subjektiv-emotionaler Zugang zum Thema – man erf�hrt als Zuschauer, wie kompliziert die Sachverhalte, wie vielf�ltig die Abw�gungen und wie kontr�r mitunter die Positionen von Rechtsmedizinern, der Polizei und dem Jugendamt sind, die in den Entscheidungen �ber das Kindswohl involviert sein k�nnen. „Uns war es wichtig, keine oberfl�chliche Schwarzwei�-Zeichnung abzugeben, sondern die unterschiedlichen Zug�nge, auch von Haus�rzten, vom Jugendamt etc. ernst zu nehmen, um mit einem differenzierten Bild f�r die Komplexit�t der Problematik zu sensibilisieren“, so Regisseur Johannes Fabrick.
Foto: ZDF / Britta KrehlProjektionen der eigenen Biografie. Jana: "Der Junge wird vom Vater verpr�gelt." Bremer: "Wieso vom Vater?" Jana: "Sehen Sie doch die beiden." Die Assistenz�rztin (Natalia Belitski) und ihr Chef (Juergen Maurer). Mutter (Katharina Heyer) und Sohn
Familie ist nicht immer der warme, kuschelige Ort, der dem Kind Schutz bietet
Auch dramaturgisch gehen Fabrick & N�ter klug vor. Eine junge �rztin in der Fachausbildung zur Identifikationsfigur zu machen ist clever – denn sie kann sich anfangs viel vom „Meister“ im Erkennen von Missbrauchsopfern abgucken, aber eben auch sagen lassen, ohne dass es so aussieht, als sei allein der Zuschauer Adressat solcher Erkl�rungen. Aber auch die sukzessive, fein akzentuierte „Informationspolitik“ von Prof. Bremer zieht den Zuschauer effektiv in die Handlung und sie zeigt der Heldin, dass sie noch viel lernen muss. Beim ersten gemeinsamen „Fall“ eines gr�n und blau geschlagenen Jungen, der auch noch unter einer schweren Handverbrennung laboriert, kommt Jana zu dem Schluss. „Der wird vom Vater verpr�gelt.“ F�r ihren Chef ist die Sache nicht so eindeutig: „Wieso vom Vater?“ Sieht es in dem Moment so aus, als sei diese Situation eine Anspielung auf das v�terliche Kindheitstrauma der Heldin, so stellt sich erst einige Szenen sp�ter heraus, dass der Professor l�ngst Indizien gefunden hat f�r ein ganz anderes Misshandlungsszenario. Er wei�, wie Verletzungen zustande kommen k�nnen und wie nicht. Vor der Aufl�sung kann er seiner Assistentin noch etwas von seinen desillusionierten �berzeugungen mit auf den Weg geben: Familie ist nicht immer der warme, kuschelige Ort, der dem Kind Schutz bietet. Und dass auch gebildeten Eltern mehr als nur die Hand ausrutschen kann, das thematisiert N�ter, bevor er die Handlung immer deutlicher auf die parallel eingef�hrte Unterschicht-„Familie“ um den unkontrollierten Haudrauf Ronny, die v�llig �berforderte junge Mutter Nicole und die drei vernachl�ssigten Kids fokussiert.��
Foto: ZDF / Britta KrehlLieber einen gewaltt�tigen Freund haben als v�llig auf sich allein gestellt sein. Dysfunktionale Beziehung: Nicole (Hanna Hilsdorf) und Ronnie (Julius Nitschkoff)
Viele Fakten flie�en in den Film ein. Widerspr�che der Missbrauchs-Kommunikation
Die zunehmend emotionale Erz�hlweise mit dem illegalen Alleingang der Heldin l�sst keinen Zweifel daran, dass es den Machern darum ging, mit „Stumme Schreie“ ein gro�es Publikum f�r das schwere Thema zu gewinnen, um so auf breiter Ebene daf�r zu sensibilisieren, „was wir den Schw�chsten in unserer Gesellschaft antun“ und wie es um die „Humanit�t unserer Gesellschaft“ bestellt ist, wie es ZDF-Redakteurin Gabriele Heuser formuliert. Und so war es – obwohl der Spielfilm von der sehenswerten Dokumentation „Tatort Kinderzimmer“ begleitet wird – durchaus richtig, Fakten und reichlich Erfahrungswissen aus dem Sachbuch in Handlung und Dialoge einflie�en zu lassen. Auch auf die Gefahr hin, dass sich der eine oder andere Erkl�r-Dialog einschleicht. Fast ist der Kritiker geneigt zu sagen: Eine angemessene Behandlung des Themas Kindesmissbrauch ist in diesem Fall relevanter als eine �berm��ige dramaturgische Raffinesse. Dabei gelingt es N�ter – wie bereits erw�hnt – ohnehin sehr gut, viele Info-Dialoge f�r den Zuschauer auch �ber die Handlung abzusichern. Allein die Frau vom LKA schie�t mehrfach �ber das Ziel hinaus. V�llig �berfl�ssig ist ein Satz wie „Wieder mal ein Beweis daf�r, wie das System scheitern kann, wenn es darum geht, Kinder zu sch�tzen.“ Hingegen sind Grundsatzinformationen durchaus zielf�hrend, um die Problematik und die Widerspr�che der Missbrauchs-Kommunikation in Familien zu veranschaulichen. Wie kann man Eltern, die ihre Anw�lte vorschicken, austricksen? Wie erreicht man, dass Eltern unter Missbrauchsverdacht kooperieren? Warum kann es manchmal besser sein, sich als Arzt auf seine Schweigepflicht zu berufen? Ein Hausarzt gibt eine klare, aber deprimierende Antwort: Es helfe nicht, das Jugendamt zu informieren. Die Eltern f�hlten sich verraten, w�rden ihre Kinder weiter schlagen, anschlie�end aber nicht mehr �rztlich versorgen lassen.
Foto: ZDF / Britta Krehl"Ich habe schon viel mit Kindern gedreht und wei� um die Fragilit�t der Situation am Set, noch dazu bei diesem Thema. Also haben wir schon viel in die Vorbereitung investiert, damit die Kinder vertrauen und sich sicher f�hlen k�nnen." (Johannes Fabrick). Meistern ihre schwere Aufgabe richtig gut: Till Patz und Carla Demmin
Eine Mutter und die freien Betreuer vom Jugendamt reden sich die Situation sch�n
Professor Bremer, der Experte f�r Kindesmissbrauch, sieht das freilich etwas anders: Eine „gute Freundin beim LKA“ zu haben kann da nicht schaden; schlie�lich d�rfen �rzte normalerweise keine Anzeige bei der Polizei machen. Auch, dass die unterfinanzierten Jugend�mter freie Tr�ger einsetzen, deren Mitarbeiter zwar das Beste f�r die Familien wollen, aber nicht darin geschult sind, Misshandlungen zu erkennen, ist ein wichtiger Aspekt, der in die Handlung eingearbeitet wurde. Der Zuschauer, der mehr wei�, weil er auch die lieblose Realit�t gezeigt bekommt, wird Augenzeuge solcher „Show-Einlagen“: Die Mutter der vom Jugendamt begleiteten Familie redet sich die Situation sch�n und die Betreuer sehen nur das, was sie sehen wollen. Die Motive der beiden externen Jugendamtsmitarbeitern wird explizit angesprochen. N�ter arbeitet im Drehbuch nicht nur in diesem Punkt mit These-Antithese-Strukturen. Andr� hat st�rker die Kids im Auge und erkennt das L�genspiel der Erwachsenen, Gilda, sicherlich selbst noch keine Mutter, hegt offensichtlich – ohne es zu reflektieren – besondere Sympathien f�r die etwa gleichaltrige Nicole Binder. Sie stellt klar: „Wir sind keine Polizisten. Wir verfolgen die Leute nicht, wir helfen ihnen.“ Und weiter zu ihrem Kollegen: „Willst du ihr wirklich die Kinder wegnehmen? Willst du morgen die Nachricht erhalten, dass sie aus dem Fenster gesprungen ist, weil sie nicht mehr weiterwei�?“ Es gibt einige kurze Streitgespr�che, in Eile, zwischen T�r und Angel, immer auch bewegungstechnisch abwechslungsreich, in denen die grundverschiedenen Haltungen zum Ausdruck kommen.
Foto: ZDF / Britta Krehl"Sie m�ssen sich von der Vorstellung l�sen, dass Eltern ihren Kindern so etwas gerne antun." Kleinkind mit Sch�tteltrauma. Hanna Hilsdorf, Julius Nitschkoff, Demmin
Jana & ihr Chef, Infos & Filmsprache = das Miteinander von Verstand & Emotion
Dass „Stumme Schreie“ ein packender Fernsehfilm geworden ist, der einem trotz – wenn auch verzweifelter! – Heldinnen-Dramaturgie m�chtig an die Nieren geht, und der trotz seiner Informationsf�lle nur ganz selten didaktisch wirkt, hat er also auch der umsichtigen Regie von Johannes Fabrick zu verdanken. Der �sterreicher ist ein Regisseur der Zwischent�ne, ein Meister in der Darstellung wahrhaftiger Gef�hle. Dem sterilen Klinik-Ambiente im ersten Teil des Films trotzen er, Kameramann Helmut Prinat und Cutter Simon Blasi einiges an Atmosph�re ab: Mit attraktiven Bildausschnitten, wechselnden Einstellungsgr��en, mit Unsch�rfen, Spiegelungen und elegantem Montagefluss schaffen sie als Gegensatz zu den verbalen Informationen eine Art Gef�hlsraum. Dieses Miteinander von Verstand und Emotion entspricht auch den gegens�tzlichen Hauptfiguren, deren Darstellern Natalia Belitski und Juergen Maurer es auch gelingt, ihren S�tzen durch eine sehr spezifische Sprechweise und ein markantes Tempo „der Sache“ immer etwas Sinnliches mitzugeben. In der beengten Wohnung der „Problemfamilie“ r�ckt eine physische (Hand-)Kamera den Darstellern noch st�rker auf die Pelle. In diesen Szenen herrscht h�ufig ein herzlos-aggressiver Umgangston vor, der sich in einer ebenso sachlichen wie kraftvollen Kameraarbeit spiegelt. Von Anfang an zwischen diesen beiden Schaupl�tzen hin & her zu springen, sorgt f�r eine Menge Dynamik und daf�r, dass dieser Film trotz der zahlreichen Dialoge sich ebenso stark �ber die Bilder vermittelt.
Foto: ZDF / Britta KrehlIn der zweiten H�lfte des Films nimmt Jana (Natalia Belitski) die Sache selbst in die Hand. Das funktioniert, weil N�ter kein simples Heldinnen-Drama aus der Geschichte macht. Die subjektive L�sung ist in dem Fall ein stimmiges dramaturgisches Mittel.
Rainer Tittelbach arbeitet als TV-Kritiker & Medienjournalist. Er war 25 Jahre Grimme-Juror, ist FSF-Pr�fer und betreibt seit 2009 tittelbach.tv. Mehr
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