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Philosophie

Der philosophische Aufsatz erschien 1937 in der Zeitschrift für Sozialforschung. 1930 übernahm Horkheimer die Leitung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, zu dessen Mitgliedern u. a. Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Erich Fromm und Friedrich Pollock zählten. Die Arbeit des Instituts, das 1933 zunächst nach Genf verlegt werden musste, zielte auf die Reformulierung des kritischen Potenzials der Marx'schen Theorie, um diese von sozialdemokratischen und stalinistischen Verkürzungen zu befreien und für neue Wissenschaften wie Psychologie und Soziologie zu öffnen. Der Terminus „kritische Theorie“, in diesem Aufsatz erstmals programmatisch fundiert, wurde schließlich zum Sammelbegriff für die verschiedenen Ansätze des Instituts, eine auf Veränderung zielende, emanzipatorische Theorie der spätkapitalistischen Gesellschaft und ihrer Ideologieformen zu entwickeln, mithin Wissenschaftstheorie als Gesellschaftstheorie zu konzipieren.

Herkömmliche, „traditionelle“ Theorie, wie sie seit Descartes die moderne Wissenschaft bestimmt, kennzeichnet Horkheimer als System hypothetischer Sätze, deren Verknüpfung den Gesetzen der formalen Logik folgt. Gleichgültig, ob diese Sätze nun deduktiv wie bei Descartes, induktiv aus empirischen Beobachtungen oder phänomenologisch wie in der Philosophie Husserls gewonnen werden, in jedem Fall gilt ein Forschungsobjekt als erklärt, wenn es den Bestimmungen der Theorie subsumiert werden kann. Der ideologische Gehalt dieser Konzeption von Wissenschaft liegt in ihren Ausgrenzungen begründet. Wissenschaft erscheint als wertfrei, die Anwendung der Erkenntnisse liegt außerhalb der Konzeption des Forschers, der in seiner Arbeit allein der Logik der Sache folgt und dabei nicht nur seine subjektive Individualität aus dem Forschungsprozess eliminiert, sondern auch seinen Gegenstand als natürlich gegebenen zu präparieren sucht. Für Horkheimer lassen sich aber Inhalt und Ziele wissenschaftlicher Tätigkeit nicht losgelöst vom gesellschaftlichen Zusammenhang betrachten. Die Rede von der Autonomie des Forschers verschleiert nicht nur dessen Einbindung in arbeitsteilige Verhältnisse, sondern auch die gesellschaftliche Präformierung seiner Wahrnehmung und seines Interesses: „Der Schein der Selbständigkeit von Arbeitsprozessen, deren Verlauf sich aus dem inneren Wesen ihres Gegenstandes herleiten soll, entspricht der Täuschung von der Freiheit der Wirtschaftssubjekte in der bürgerlichen Gesellschaft.“

Indem Horkheimer die ideologischen Gehalte bürgerlichen Denkens in Beziehung setzt zu der in der bürgerlichen Gesellschaft herrschenden Produktionsform, der Warenproduktion, nimmt er Gedankengänge von Georg Lukács auf, der in Geschichte und Klassenbewußtsein (1923) diesen Zusammenhang erstmals in systematischer Weise erörtert hatte. Je stärker die Gesellschaft sich arbeitsteilig zergliedert, je mehr sie durch das rationale Kalkül der Warenproduktion bestimmt wird, desto einschneidender fragmentarisiert, verdinglicht sich das Bewusstsein ihrer Mitglieder. Das Ganze der Gesellschaft wird nicht mehr einsichtig, die Verhältnisse erscheinen als natürliche.

Das kritische Moment der Theorievorstellung Horkheimers besteht darin, auf der Basis der Marx'schen Analyse der kapitalistischen Gesellschaft deren Totalität wieder habhaft zu werden und wissenschaftliche Tätigkeit nicht dem zweckrationalen Kalkül technokratischer Logik zu unterwerfen, sondern ein „Interesse an vernünftigen Zuständen“ zu entwickeln. Vernunft aber, und in der emphatischen Betonung dieses Begriffs führt die Kritische Theorie das Erbe des deutschen Idealismus fort, setzt einen „Zustand ohne Ausbeutung und Unterdrückung, in dem tatsächlich ein umgreifendes Subjekt, das heißt die selbstbewusste Menschheit existiert und in dem von einheitlicher Theoriebildung, von einem die Individuen übergreifenden Denken gesprochen werden kann“ voraus. Für Horkheimer ist nicht mehr das Proletariat die allein maßgebliche revolutionäre Kraft der Gegenwart; in seinem Aufsatz betont Horkheimer diesen, für die weiteren Arbeiten zur Kritischen Theorie zentralen Standpunkt erstmals explizit: „Aber auch die Situation des Proletariats bildet in dieser Gesellschaft keine Garantie der richtigen Erkenntnis.“ Letztlich vermag angesichts der Vereinnahmung der Arbeiterklasse durch den Faschismus nur der kritische Wissenschaftler, und implizit meint Horkheimer damit den Philosophen, den gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang zu sprengen und die „Idee der zukünftigen Gesellschaft als die Gemeinschaft freier Menschen“ gegen jene blinde Entwicklung der Produktivkräfte zu halten, die schließlich „die Menschheit einer neuen Barbarei zutreibt“.

Kritische Theorie fordert vom Wissenschaftler ein „bewußt kritisches Verhalten“ gegenüber den auf Ausbeutung beruhenden Produktionsformen der Gesellschaft. Sie findet ihre Bedeutung nur im Bezug auf die jeweilige gesellschaftliche Situation und unterliegt daher einem evolutionären Prozess, ohne dass davon ihre Grundlagen berührt werden, da in der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft die grundlegende ökonomische Struktur, „das Klassenverhältnis in seiner einfachsten Gestalt, und damit auch die Idee seiner Aufhebung identisch bleibt“. Bemüht die traditionelle Theorie sich um ein zeitlos gültiges System logisch verknüpfter Sätze, deren Korrektur mit Irrtümern und Mängeln früherer Annahmen begründet wird, so verändern sich die Aussagen der Kritischen Theorie mit ihrem Gegenstand. Ziel ist, das sich entfaltende Bild der ganzen Gesellschaft zu entwerfen, über die es nur „eine Wahrheit“ gibt, die wiederum nicht formal zu definieren ist, sondern in die wesentlich Kategorien individueller Befindlichkeit eingehen, die „positiven Prädikate der Ehrlichkeit und der inneren Konsequenz, der Vernünftigkeit, das Streben nach Frieden, Freiheit und Glück“.

Der Aufsatz fand, als er 1937 erschien, aufgrund der Exilsituation kaum Beachtung; erst mit dem Neuaufbau des Instituts in der Bundesrepublik und im Zusammenhang der Einflüsse, die die Frankfurter Schule auf die westdeutsche Studentenbewegung ausübte, wurde die zentrale Stellung dieses Aufsatzes erkannt, in dem Grundzüge der philosophisch-soziologischen Arbeiten vor allem von Horkheimer und Adorno erstmals formuliert sind – primär jene grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem technokratischen Theorieverständnis der Moderne, die schließlich in der von Horkheimer und Adorno gemeinsam verfassten Dialektik der Aufklärung (1947) und in Horkheimers Aufsätzen Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (1947) ihre exemplarischen Ausformulierungen fand.