Der Bundespräsident - Reden und Interviews - "Es lohnt sich, wählen zu gehen"

"Es lohnt sich, wählen zu gehen"

Schwerpunktthema: Zeitungsbeitrag

11. Mai 2024

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat gemeinsam mit Sergio Mattarella, Präsident der Italienischen Republik, und Alexander Van der Bellen, Bundespräsident der Republik Österreich, einen Beitrag zur Europawahl verfasst, der in Deutschland am 11. Mai im Tagesspiegel erschienen ist.

Auf dem Bild sind von links nach rechts die Poträtfotos des italienischen Staatspräsidenten Sergio Mattarella, von Bundespräsident Steinmeier und dem österreichischen Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen zu sehen

2024 wird in Ländern, die mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung ausmachen, gewählt. Für die Demokratie in Europa und in vielen Teilen der Welt wird es ein wichtiges Jahr. In nicht allzu ferner Zukunft könnten wir es sogar als entscheidendes Jahr betrachten, in dem die Weichen für die folgenden Jahrzehnte gestellt wurden.

Über 400 Millionen europäische Bürgerinnen und Bürger können ihre Vertreterinnen und Vertreter im Europäischen Parlament bestimmen, denen sie die Gestaltung unseres künftigen Europas anvertrauen. Wir müssen gemeinsam darüber nachdenken, welche Zukunftsperspektiven wir sichern und wie wir die uns bevorstehenden gewaltigen Herausforderungen angehen wollen.

Als Staatsoberhäupter rufen wir unsere Bürgerinnen und Bürger auf, sich an dieser Entscheidung zu beteiligen und wählen zu gehen!

Wir sehen weltweit, dass die Grundwerte des Pluralismus, der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit – unsere Werte – in Frage gestellt, wenn nicht gar offen bedroht werden. Es geht um nicht weniger als die Grundfesten unserer demokratischen Ordnung. Eine Ordnung, in der informierte Bürgerinnen und Bürger von den Regierungen erwarten, dass sie Verantwortung übernehmen, in der starke Institutionen die Rechte aller – insbesondere der Minderheiten – garantieren und in der Politik ein Prozess der Suche nach Lösungen durch eine lebhafte, aber zivilisierte Debatte ist.

Unsere drei Länder wissen, dass die Demokratie, auch nachdem sie einmal erlangt wurde, nicht selbstverständlich ist. Wir wissen, dass Freiheit und Demokratie verteidigt und gefestigt werden müssen, dass eine Konfrontation überzogener Nationalismen zu Krieg führt. Die Geschichte lehrt, dass dort, wo es an Demokratie mangelt, Menschlichkeit und politische Vernunft erstickt werden.

Als Präsidenten liberaler Demokratien fühlen wir uns geehrt, unsere vielfältigen Gesellschaften mit ihren zahlreichen Meinungen und Kulturen zu vertreten. Als Präsidenten wissen wir, dass diese Gesellschaften zu vertreten bedeutet, viele Stimmen zu hören und viele Meinungen zusammenzubringen. Daher ist es unerlässlich, die demokratischen Institutionen und Werte, die Freiheitsgarantien, die Unabhängigkeit der Medien, die Rolle der demokratischen politischen Opposition, die Gewaltenteilung und die Bedeutung von Grenzen der Machtausübung zu verteidigen.

Unsere freiheitliche demokratische Ordnung ist eng mit der europäischen Einigung verbunden: Durch unsere Verankerung in einer europäischen Werte- und Rechtsgemeinschaft haben wir der Welt gezeigt, wie ein Zusammenleben auf der Grundlage der demokratischen Ordnung und des Friedens gelingen kann.

Es überrascht nicht, dass jene, die die grundlegenden demokratischen Prinzipien in Frage stellen, auch das europäische Projekt in Frage stellen. Sie vergessen, dass die europäischen Demokratien in einer Welt, in der die Zahl autoritärer Systeme steigt, wahrhaft geeint sein müssen. Nur in einer starken Europäischen Union werden wir genügend Gewicht haben, um unsere Freiheit und unsere Demokratie in einer zunehmend unsicheren Welt zu verteidigen und uns für eine globale Ordnung einzusetzen, die von Freiheit, der Würde jedes Menschen sowie der Achtung jedes Staates und des Völkerrechts geprägt ist.

Das geeinte Europa ist ohne Demokratie undenkbar, und die europäische Demokratie braucht Demokraten in ganz Europa: Bürgerinnen und Bürger, die die demokratische Freiheit als ihr eigenstes Interesse verstehen.

Wählen zu gehen ist ein einfaches, aber mächtiges Mittel, um dieses Modell zu bestärken und zu konsolidieren.

Es ist ermutigend, dass viele unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger hart daran arbeiten, das demokratische Gefüge, welches uns im Alltag verbindet, zu stärken und zu verteidigen. Sie stellen ihre Zeit und Kraft freiwillig zur Verfügung, um den Schwächeren zu helfen und übernehmen Verantwortung in Vereinen, Gemeinden und Politik.

Unsere Demokratien sind stark, weil sie von engagierten Bürgerinnen und Bürgern getragen werden. So unterscheiden sie sich radikal von Regimen, die ihre Bürgerinnen und Bürger unterdrücken, Angst in ihren Gesellschaften schüren und ihre Nachbarn bedrohen.

Die kommende Wahl zum Europäischen Parlament bietet die Gelegenheit, Vertreterinnen und Vertreter zu wählen, die sich für konstruktive Lösungen einsetzen und gleichzeitig die Komplexität des demokratischen Systems akzeptieren. Wir nutzen diese Chance, wenn wir dieses Grundrecht ausüben.

Durch die Teilnahme an der Wahl werden die liberalen Institutionen, der Rechtsstaat, unsere Grundwerte, unsere gemeinsame Freiheit verteidigt.

Wir sind wahrhaft "in Vielfalt geeint", in unseren Ländern und in unserer Europäischen Union.

Dies hat uns ermöglicht, in einem Europa zu leben, das friedlicher und wohlhabender denn je ist. Es ist ein großes Erbe, das wir durch die Ausübung des demokratischen Wahlrechts verteidigen und weiterentwickeln können.