FormalPara Sprache

französisch

FormalPara Übersetzung

Lucien Leuwen (1960)

FormalPara Übersetzer/in

W. Widmer

FormalPara Hauptgattung

Epik / Prosa

FormalPara Untergattung

Roman

Der unvollendete Roman erschien in einer alle Manuskripte berücksichtigenden, definitiven Form erst 1947. Die ersten Kapitel waren in der Sammlung Les nouvelles inédites (1855) unter dem Titel „Le chasseur vert“ (Der grüne Jäger) erschienen. Ein Manuskript mit dem Titel Le lieutenant, das Stendhal 1833 von einer Freundin zur Beurteilung erhielt und in dem er in Grundzügen die Handlung des ersten Teils des späteren Lucien Leuwen vorfand, gab ihm den endgültigen Anstoß zur Abfassung des eigenen Romans, der ihn seit 1825 beschäftigte. 1836 bis 1839 entstand dann – nur unterbrochen durch die Arbeit an dem autobiographischen Werk Vie de Henri Brulard (1890) – die zu einem guten Teil autobiographisch gefärbte Geschichte des idealistischen, sensiblen Lucien Leuwen.

Lucien wird seiner republikanischen Gesinnung wegen „an einem der berühmten Junitage“ des Jahres 1832 von der École Polytechnique relegiert und begibt sich wenig später, nachdem sein reicher Vater, ein Repräsentant des großbürgerlichen ‚juste milieu‘, ihm ein Leutnantspatent verschafft hat, in die trostlos langweilige Garnisonsstadt Nancy. Hier entfaltet der Autor eine romanhafte Umsetzung der Theorie des Dandytums, jener Flucht in die Selbstzensur, wie sie für die Restaurationsphase typisch ist. Der tägliche Kontakt mit den selbstzufriedenen, geistig beschränkten Vertretern eines legitimistischen Bürgertums und einer Armee, die sich willig als Machtinstrument der Regierung missbrauchen lässt, vermittelt dem noch Lebensunerfahrenen die exemplarische, den Entwicklungsgang aller Helden Stendhals entscheidend bestimmende Einsicht in die konstitutive Disharmonie von Mensch und Umwelt, die einerseits als Bedrohung der eigenen verletzlichen Persönlichkeit empfunden wird, andererseits aber gerade den sensibel und großherzig Veranlagten zur äußerlichen Anpassung an die Verhaltensnormen der Gesellschaft zwingt.

Lucien wählt – wie andere Helden Stendhals – die schützende Maske der Verstellung und lernt, mit überlegener Verachtung für seine durch Ehrgeiz und kleinliche materielle Interessen korrumpierte Umwelt, aber auch mit wachsender verzweifelter Resignation das Leben eines charmanten, von den Frauen bewunderten, von Kameraden und Vorgesetzten beargwöhnten reichen jungen Mannes zu führen. Auch das einzige echte Gefühl, das ihn an einen anderen Menschen bindet, die Liebe zu der verwitweten Mme Chasteller, die ebenso klug und zartfühlend wie zur Heuchelei unfähig ist, wird durch mannigfache seelische Hemmungen belastet. Lucien war bei seiner Ankunft in Nancy vor ihren Augen vom Pferd gestürzt. Sein dadurch verletztes Selbstgefühl hindert die glückliche Entfaltung der gegenseitigen Liebe nicht weniger als Mme Chastellers Anhänglichkeit an das Haus der 1830 aus der politischen Arena ausgeschiedenen Bourbonen.

Durch eine Intrige – die Vortäuschung einer Entbindung von einem unehelichen Kind – wird die Beziehung jäh gestört. Lucien kehrt Hals über Kopf nach Paris zurück und beginnt dort eine vielversprechende politische Karriere im Innenministerium. Auf einer Wahlkampfreise in die Provinz wird er als Opfer eines Missverständnisses von der aufgebrachten Volksmenge, die ihn als Polizeispitzel verdächtigt, mit Kot beworfen, ein Erlebnis, das ihn die Hässlichkeit der Realität unmittelbar fühlen lässt und so tief verstört, dass er erwägt, nach Amerika zu gehen. Stattdessen bricht er eines Tages nach Nancy auf, um Mme Chasteller wiederzusehen, die seine plötzliche Abreise nicht hatte begreifen können.

Die Ereignisse während des zweiten Aufenthalts in Nancy fehlen im Manuskript. Einigen Notizen zufolge hatte Stendhal die Versöhnung der beiden geplant. Ein Nachtrag berichtet vom plötzlichen Tod des alten Leuwen, der seine Finanzen so ungeordnet hinterlassen hat, dass es zum Bankrott kommt. Lucien nimmt das gleichgültig hin, regelt die Erbangelegenheiten für seine Mutter, verzichtet selbst auf seinen Anteil und lässt sich als Botschaftssekretär nach Capel (vermutlich ist hiermit Rom gemeint) schicken, froh darüber, weit von Paris entfernt zu sein. Mit der Ankunft in Capel bricht der Roman ab.

Die Kritik an der bürgerlichen Mittelmäßigkeit der Restaurationsgesellschaft und ihrer Politik ist hier nicht weniger bitter als in Le rouge et le noir (1830), obwohl Lucien als Sohn eines Millionärs nicht um seine soziale Anerkennung ringen muss. Wie Le rouge et le noir zeichnet sich auch Lucien Leuwen durch einen Stil von spröder Schmucklosigkeit und einen leidenschaftslosen Blick auf die Gesellschaft der Restaurationsepoche aus.