Gončarov, Ivan Aleksandrovič, Roman, Oblomow, Vierter Teil, Achtes Kapitel - Zeno.org
Achtes Kapitel

[1003] Stolz kam ein paar Jahre lang nicht nach Petersburg. Er sah sich nur einmal f�r kurze Zeit nach Oljgas Gut und nach Oblomowka um. Ilja Iljitsch bekam einen Brief, in dem Andrej ihm zuredete, selbst nach Oblomowka zu kommen und das geordnete Gut pers�nlich zu �bernehmen. Er selbst fuhr mit Oljga Sjergejewna aus zwei Gr�nden an das s�dliche Krimufer: seiner Gesch�fte in Odessa wegen und um die durch die Niederkunft zerr�ttete Gesundheit seiner Frau zu kr�ftigen.

Sie lie�en sich in einer stillen Gegend am Meeresufer nieder. Ihr Haus war bescheiden und nicht gro�. Seine innere Einrichtung hatte ebenso seinen Stil, wie die �u�ere Architektur und wie alles daran den Stempel der Gedanken und des pers�nlichen Geschmacks der Eigent�mer trug. Sie hatten eine Menge Sachen mitgebracht, und man schickte ihnen aus ihrer Heimat und aus dem Auslande viele Kisten, Koffer und Fuhren nach. Ein Liebhaber des Komforts w�rde beim Anblick dieser verschiedenartigen M�belst�cke, der alten Bilder, der Statuen mit abgebrochenen H�nden und F��en, der manchmal schlechten, aber durch Erinnerungen wertvollen Stiche und Kleinigkeiten die Achseln gezuckt haben. Zwar die Augen eines Kenners h�tten beim Blick auf das eine oder das andere Bild, auf irgendein vor Alter vergilbtes Buch, auf altes Porzellan, Kameen und M�nzen gierig aufgeleuchtet. Aber inmitten dieser M�belst�cke verschiedener Stilarten, der Bilder, der f�r Fremde wertlosen, f�r sie beide aber durch eine gl�ckliche Stunde, durch eine unverge�liche Minute geheiligten Kleinigkeiten,[1004] inmitten dieses Ozeans von B�chern und Noten wehte warmes Leben, etwas, das den Verstand und das �sthetische Gef�hl anregte; �berall waren die Spuren eines unerm�dlichen Geistes oder die Sch�nheit menschlicher Arbeit zu sehen, die mit der Sch�nheit der ringsherum leuchtenden Sch�nheit der Natur wetteiferte. Daselbst waren auch der hohe Schreibtisch, so wie ihn Andrejs Vater gehabt hatte, und die Gemslederhandschuhe untergebracht; in der Ecke neben dem Schrank mit den Mineralien, den Muscheln, den Vogelb�lgen, den Mustern verschiedener Waren und Lehmarten hing der Wachstuchmantel. In der Mitte prangte auf dem Ehrenplatz, mit Gold und Intarsien verziert, ein Erardfl�gel. Ein Netz von Wein, Efeu und Myrten bedeckte das Cottage von unten bis oben. Von der Galerie aus sah man das Meer und von der anderen Seite die Stra�e in die Stadt. Dort sp�hte Oljga nach Andrej aus, wenn er gesch�ftlich vom Hause fortfuhr; sobald sie ihn erblickte, stieg sie herab, lief durch den prachtvollen Blumengarten und die lange Pappelallee und warf sich stets mit vor Freude gl�henden Wangen, mit leuchtendem Blick und stets mit der gleichen Ungeduld des Gl�cks, trotzdem seit ihrer Verheiratung schon ein paar Jahre vergangen waren, an die Brust ihres Mannes.

Stolz hatte �ber die Liebe und das Heiraten vielleicht originelle und �bertriebene, aber selbst�ndige Ansichten. Er hatte auch dabei einen freien und, wie ihm schien, einfachen Weg gew�hlt; aber welch eine schwierige Schule der Beobachtung, der Geduld und der Arbeit mu�te er durchmachen, bevor er diese �einfachen Schritte� zu machen lernte!

Er hatte vom Vater die Gewohnheit geerbt, alles im Leben, selbst die Kleinigkeiten, ernst zu betrachten; vielleicht hatte er von ihm auch die pedantische Strenge geerbt, welche die Deutschen in ihren Ansichten, in jedem Schritt ihres Lebens und unter anderem auch in der Ehe �u�ern.

Das Leben des alten Stolz lag wie eine Inschrift auf[1005] einer Steintafel allen offen, und es war darin nichts zwischen den Zeilen zu lesen. Aber die Mutter mit ihren Liedern und ihrem zarten Fl�stern, das f�rstliche Haus, ferner die Universit�t, die B�cher und die Welt lenkten Andrej von dem geraden, vom Vater vorgezeichneten Weg ab; das russische Leben malte seine unsichtbaren Muster hinein und verwandelte die unscheinbare Tafel in ein gro�es, leuchtendes Bild. Andrej fesselte seine Gef�hle nicht durch pedantische Ketten und lie� den Tr�umen sogar volle Freiheit, indem er nur bestrebt war, nicht �den Boden unter den F��en� zu verlieren, wenn er auch beim Erwachen, infolge seiner deutschen Natur oder aus irgendeinem anderen Grunde, eine Folgerung nicht unterdr�cken konnte und irgendeine Lebenswahrheit davontrug. Er war frisch an K�rper, weil er frisch an Geist war. In seinen Knabenjahren war er �berm�tig, und wenn er nicht herumtollte, besch�ftigte er sich unter der Aufsicht des Vaters mit etwas Ernstem. Er hatte keine Zeit, sich Tr�umen hinzugeben. Seine Phantasie und sein Gem�t blieben unangetastet; die Mutter h�tete wachsam dessen Reinheit und Jungfr�ulichkeit. Als J�ngling schonte er instinktiv die Frische seiner Kr�fte und begann schon zu entdecken, da� diese Frische Lebensfreude und Frohsinn erzeugt und jene M�nnlichkeit bildet, welche die Seele abh�rtet, damit sie nicht vor dem Leben erbleicht, wie dieses auch sein mag, es nicht als ein schweres Joch und ein Kreuz, sondern nur als eine Pflicht betrachtet, und den Kampf damit w�rdig besteht. Viele Gedanken und Sorgen hatte er dem Herzen und dessen schwer zu ergr�ndenden Gesetzen geweiht. Indem er bewu�t oder unbewu�t die Wirkung der Sch�nheit auf die Phantasie, den �bergang des Eindruckes in ein Gef�hl, dessen Symptome, dessen Spiel und Ausgang betrachtete, um sich blickte und mit dem Leben vertraut wurde, arbeitete er sich die �berzeugung aus, die Liebe bewege mit der Macht des archimedischen Hebels die Welt, und darin sei ebensoviel allgemeine, unzweifelhafte Wahrheit und so viel Gutes enthalten, als aus ihrem Nichtbegreifen und[1006] Mi�brauch L�ge und H��liches entstehe. Wo war das Gute und wo das B�se? Wo lag die Grenze zwischen beidem?

Bei der Frage: Wo ist die L�ge? zogen bunte Masken der Gegenwart und Vergangenheit durch seine Phantasie. Er blickte l�chelnd, bald err�tend und bald die Stirne runzelnd, auf den endlosen Zug der Helden und Heldinnen der Liebe: auf die Don Quichottes in Stahlhandschuhen, auf die Damen ihres Herzens und auf ihre f�nfzigj�hrige Treue in der Trennung; auf die Sch�fer mit roten Wangen und treuherzig glotzenden Augen und auf ihre Chloen mit den L�mmern. Vor ihm erschienen gepuderte Marquisen in Spitzen mit geistreich leuchtenden Augen und einem lasterhaften L�cheln; ferner die Werther, die sich erschossen, aufh�ngten und erdrosselten, die verbl�hten alten Jungfern mit den ewigen Liebestr�nen und dem Kloster und die b�rtigen Gesichter der modernen Helden, mit dem wilden Feuer in den Augen, diese naiven und bewu�ten Don Juans, und die Erhabenen, die vor dem Verdachte, zu lieben, zittern und heimlich ihre Wirtschafterinnen anbeten ... Alle, alle!

Bei der Frage, wo die Wahrheit war, suchte er fern und nah in der Phantasie und mit den Augen nach Beispielen von einfachen, ehrlichen, aber tiefen und unwandelbaren Beziehungen zum Weibe, fand aber keine; wenn er sie zu finden glaubte, war es nur Schein, darauf folgte die Entt�uschung; er sann traurig nach und verzweifelte sogar. Dieses Gl�ck wird uns wohl nicht in seiner ganzen F�lle zuteil, dachte er, oder die Herzen, welche vom Lichte dieser Liebe erhellt werden, sind scheu; sie �ngstigen sich und verstecken sich, ohne die Klugen widerlegen zu wollen; vielleicht bemitleiden sie sie und verzeihen ihnen im Namen ihres Gl�ckes, da� sie die Bl�ten in den Kot treten, weil sie keinen Boden haben, in dem diese tiefe Wurzeln fassen und sich zu einem Baume entwickeln k�nnten, der ihr ganzes Leben beschatten w�rde. Wenn er die Ehen, die M�nner und ihr Verhalten den Frauen gegen�ber betrachtete, sah er stets eine Sphinx mit ihrem[1007] R�tsel vor sich; alles erschien unverstanden und unausgesprochen, und dabei sannen diese M�nner �ber keine verwickelten Fragen nach und schritten mit einem so gleichm��igen, selbstbewu�ten Gang �ber den Weg der Ehe, als h�tten sie nichts zu suchen und zu beschlie�en. Sind sie denn im Unrecht? Vielleicht ist tats�chlich nichts anderes mehr notwendig, dachte er, sich selbst nicht trauend, wenn er sah, wie schnell manche die Liebe durchlebten, als sei sie das Abc der Ehe oder eine Form der H�flichkeit, als h�tten sie beim Eintritt in die Gesellschaft ihre Verbeugung gemacht und w�ren schnell weitergeschritten! Sie sch�tteln den Fr�hling des Lebens ungeduldig von ihren Schultern; viele sehen dann das ganze Leben lang ihre Frauen schief an, als �rgerten sie sich dar�ber, da� sie einst so dumm waren, sie zu lieben. Manche verl��t die Liebe lange nicht, bis zum Alter, sie wird aber auch immer vom L�cheln eines Satyrs begleitet ... Die meisten schlie�en die Ehe ebenso, wie man ein Gut kauft und seine Vorz�ge genie�t; die Frau bringt Ordnung ins Haus, sie ist Wirtschafterin, Mutter, Erzieherin der Kinder, und die Liebe wird von demselben Standpunkte aus betrachtet, von dem ein praktischer Besitzer die Lage des Gutes anschaut, das hei�t, indem er sich sofort daran gew�hnt und sie dann nie mehr beachtet. Was ist das: angeborenes Unverm�gen, als Folge der nat�rlichen Gesetze? fragte er sich, oder ein Fehler der Vorschule und der Erziehung? ... Wo ist denn jene Sympathie, die niemals ihren nat�rlichen Reiz einb��t und kein Narrengewand anzieht, die sich ver�ndert, aber nicht erlischt? Wie ist die nat�rliche Gestalt und wie sind die Farben dieses �berall verstreuten und alles f�llenden Gl�ckes, dieses Saftes des Lebens? Er blickte prophetisch in die Ferne, und dort erschien ihm im Nebel die Gestalt des Gef�hles und zugleich des Weibes, das seine Farbe trug und in seinem Lichte erstrahlte, eine so einfache, aber lichte und reine Vision. �Tr�ume! Tr�ume!� sagte er erwachend und l�chelte �ber die m��ige Arbeit der Gedanken. Aber dieser Traum lebte gegen seinen Willen in[1008] seiner Erinnerung fort. Zuerst sah er in diesem Traum die Zukunft der Frau �berhaupt; als er aber in der gereiften und entwickelten Oljga nicht nur die Pracht erbl�hter Sch�nheit, sondern auch eine zum Leben bereite, nach Wahrheit und Kampf d�rstende Kraft sah – alles Attribute seiner Vision –, erstand in ihm der alte, fast vergessene Traum von der Liebe. Oljga erschien ihm in dieser Gestalt, und er glaubte in weiter Ferne zu sehen, da� in ihrer Sympathie die Wahrheit ohne Narrenkappe und ohne Zwang erschien.

Ohne mit der Frage von der Liebe und Ehe zu spielen, ohne irgendwelche andere Frage bez�glich des Geldes, der gesellschaftlichen Verbindungen und der �mter damit in Zusammenhang zu bringen, dachte Stolz doch dar�ber nach, wie seine bis dahin unerm�dliche T�tigkeit sich mit dem Familienleben verbinden w�rde und wie er sich aus einem Touristen und Kaufmann in einen se�haften Familienvater verwandeln w�rde. Wenn diese �u�ere Unruhe vergehen w�rde, was w�rde dann sein Leben zu Hause ausf�llen? Die Erziehung und Bildung der Kinder, das �berwachen ihres Lebens war nat�rlich keine leichte und einfache Aufgabe, aber das lag noch in weiter Ferne, was w�rde er aber bis dahin tun?

Diese Fragen hatten ihn lange und oft beunruhigt, und ihm war das Leben eines Hagestolzes nicht l�stig; es fiel ihm nicht ein, sowie sein Herz, die N�he der Liebe witternd, zu klopfen begann, sich von den Ketten der Ehe fesseln zu lassen. Darum hatte er fr�her sogar Oljga vernachl�ssigt und hatte sie nur als ein liebes Kind, das zu gro�en Hoffnungen berechtigte, bewundert; er warf ihr scherzend im Vor�bergehen einen k�hnen, neuen Gedanken oder eine treffende Beobachtung des Lebens in ihr gieriges, empf�ngliches Hirn und weckte in ihrer Seele, ohne daran zu denken, ein lebhaftes Verst�ndnis f�r die Erscheinungen und eine richtige Ansicht �ber dieselben, um dann Oljga und seinen nachl�ssigen Unterricht zu vergessen. Und als er manchmal sah, da� in ihr nicht ganz gew�hnliche Gedanken und Meinungen auftauchten,[1009] da� in ihr keine L�ge war, da� sie keine allgemeine Anbetung suchte, da� ihr die Gef�hle einfach und frei kamen und sie ebenso verlie�en, da� nichts Fremdes, sondern Eigenes in ihr lebte und dieses Eigene so k�hn, frisch und verl��lich wurde, war er verbl�fft, wo sie das hernahm, und erkannte seine eigenen Lehren und fl�chtigen Bemerkungen nicht wieder. Wenn er seine Aufmerksamkeit damals auf sie gerichtet h�tte, h�tte er begriffen, da� sie fast allein ihren Weg ging, durch die fl�chtige Aufsicht der Tante vor �bertreibungen gesch�tzt, da� �ber ihr aber nicht die Vormundschaft und Autorit�t von sieben Kinderfrauen, von Gro�m�ttern und Tanten mit den Traditionen des Geschlechtes, der Familie, der Gesellschaftsklassen, der veralteten Sitten, Gebr�uche und Sentenzen lastete; da� man sie nicht gewaltsam �ber einen schablonenhaften Weg f�hrte, da� sie einen neuen Pfad verfolgte, den sie sich durch den eigenen Verstand, Blick und durch das eigene Gef�hl gefunden hatte. Die Natur hatte ihr nichts versagt; die Tante herrschte nicht despotisch �ber ihren Willen und Verstand, und Oljga begriff und erriet vieles selbst, beobachtete aufmerksam das Leben und lauschte ... unter anderem auch den Reden und Ratschl�gen ihres Freundes ... Er zog das alles nicht in Betracht und erwartete von ihr nur in Zukunft vieles, aber in weiter Ferne, ohne in ihr jemals seine Gef�hrtin zu ahnen.

Sie lie� sich aus eitler Sch�chternheit lange nicht erraten, und er sah erst nach dem qualvollen Kampfe im Auslande voll Erstaunen, zu welch einem einfachen, kraftvollen und nat�rlichen Wesen dieses vielversprechende und von ihm vergessene Kind sich entwickelt hatte. Dort er�ffnete sich vor ihm nach und nach die Tiefe ihrer Seele, die er stets f�llen mu�te und nie befriedigen konnte.

Zuerst hatte er mit der Lebhaftigkeit ihrer Natur viel zu k�mpfen, mu�te das Fieber ihrer Jugend unterbrechen, ihren Bestrebungen einen bestimmten Umfang verleihen und ihrem Leben einen ruhigen Verlauf sichern, doch das[1010] gelang ihm nur zeitweise; sowie er vertrauend die Augen schlo�, begann wieder der Sturm, das Leben str�mte wie eine Quelle dahin, und es ert�nten neue Fragen des unruhigen Verstandes und des aufgeregten Herzens; er mu�te die gereizte Phantasie beruhigen und den Ehrgeiz beschwichtigen oder aufstacheln. Sowie sie �ber eine Erscheinung zu gr�beln begann, beeilte er sich, ihr den Schl�ssel dazu einzuh�ndigen.

Der Glaube an Zuf�lle, der Nebel und die Halluzinationen verschwanden aus ihrem Leben. Vor ihr breitete sich eine helle und freie Ferne aus, und sie sah darin wie im klaren Wasser jeden Stein, jede Vertiefung und dann den reinen Grund. �Ich bin gl�cklich!� fl�sterte sie, ihr vergangenes Leben mit einem Blick umfassend, dachte, indem sie die Zukunft befragte, an ihren M�dchentraum vom Gl�ck, den sie einst in jener stillen, blauen Nacht in der Schweiz getr�umt hatte, und sah, da� dieser Traum wie ein Schatten durch ihr Leben schwebte. Wof�r ist mir das alles zuteil geworden, mir? dachte sie dem�tig. Sie sann und sann und f�rchtete sogar manchmal, dieses Gl�ck k�nnte versagen.

Die Jahre eilten dahin, und sie wurden nicht m�de zu leben. �ber sie war eine Stille gekommen, das Dr�ngen hatte sie beschwichtigt. Die Kr�mmungen des Lebens erschienen verst�ndlich und wurden geduldig und froh ertragen, das Leben pulsierte in ihnen aber unerm�dlich weiter.

Oljga war schon bis zu einem strengen Verst�ndnis des Lebens, wenn auch nur des gl�cklichen Lebens gelangt; Andrejs Sein und das ihrige hatten sich zu einem einzigen Strom vereinigt; es blieb f�r die wilden Leidenschaften kein Spielraum �brig; alles bei ihnen war Harmonie und Stille. Es schien, man sollte in dieser wohlverdienten Ruhe einschlafen und selig sein, wie die Bewohner anderer stiller Winkel es tun, indem sie dreimal t�glich zusammenkommen, bei der gewohnten Unterhaltung g�hnen, in stumpfes Hind�mmern versinken und sich von fr�h bis sp�t damit qu�len, da� alles schon durchdacht, besprochen[1011] und getan ist, da� man nichts mehr zu tun und zu besprechen hat und da� �das Leben auf der Welt nun einmal so ist�.

�u�erlich geschah bei ihnen alles so wie bei den anderen. Sie standen zwar nicht beim Morgengrauen, aber doch fr�h auf; sie liebten es, lange beim Tee zu sitzen, manchmal schwiegen sie sogar tr�ge, gingen dann jeder in sein Zimmer oder arbeiteten zusammen, a�en zu Mittag, fuhren ins Feld, besch�ftigten sich mit Musik ... wie alle, wie auch Oblomow es getr�umt hatte. Nur fehlte ihnen die Schl�frigkeit und die Tr�gheit; sie verbrachten ihre Tage ohne Langeweile und Apathie, ihre Blicke und Worte waren nicht leblos, ihre Gespr�che nahmen kein Ende und waren oft leidenschaftlich. Ihre hellen Stimmen t�nten durch die Zimmer, drangen in den Garten, oder sie teilten sich leise die durch die Sprache nicht wiederzugebende erste Regung, das Wachstum des keimenden Gedankens, das kaum h�rbare Fl�stern der Seele mit, als zeichneten sie einander die Linien ihres Traumes vor ... Und ihr Schweigen war manchmal immenses Gl�ck, von dem Oblomow zu tr�umen pflegte, oder geistiges Verarbeiten des endlosen, einander zugewiesenen Materiales ... Oft versenkten sie sich in stummes Bewundern der ewig neuen, strahlenden Sch�nheit der Natur. Ihre empf�nglichen Seelen konnten sich an diese Sch�nheit nicht gew�hnen. Die Erde, der Himmel und das Meer – alles weckte ihr Gef�hl, und sie sa�en schweigend nebeneinander, blickten mit denselben Augen und mit derselben Seele diesen sch�pferischen Glanz an und verstanden einander ohne Worte. Sie nahmen den Morgen nicht gleichg�ltig hin und vermochten es nicht, sich stumpf in das Dunkel der warmen, sternenklaren s�dlichen Nacht zu versenken. Sie wurden durch das ewige Arbeiten des Gedankens, die stets wache Seele und das Bed�rfnis, zusammen zu denken, zu f�hlen und zu sprechen, geweckt! ...

Was war aber der Gegenstand dieser eifrigen Debatten, der stillen Gespr�che, des Lesens und der weiten Spazierg�nge? Alles. Stolz hatte schon im Ausland die Gewohnheit[1012] verloren, allein zu lesen und zu arbeiten. Hier, wo er mit Oljga unter vier Augen war, dachte er auch mit ihr zusammen. Er brachte es mit M�he zustande, der rastlosen Eile ihres Denkens und Wollens zu folgen. Die Frage, wie er sich im Familienleben bet�tigen w�rde, tauchte nicht mehr auf und hatte sich selbst gel�st. Er mu�te sie sogar in seine gesch�ftliche T�tigkeit einweihen; denn sie erstickte in einem Leben ohne Bewegung, als mangelte es ihr an Luft. Kein Bau, keine Angelegenheit, die Oblomows oder sein Gut betraf – nichts geschah ohne ihr Wissen und ihre Teilnahme. Kein einziger Brief wurde fortgeschickt, ohne da� sie ihn las; kein einziger Gedanke und noch weniger dessen Realisierung glitt an ihr vor�ber: sie wu�te alles, und alles interessierte sie, weil es ihn interessierte. Zuerst tat er es, weil es unm�glich war, vor ihr etwas zu verheimlichen. Wenn ein Brief geschrieben wurde, wenn mit irgendeinem Verwalter oder Unternehmer gesprochen wurde, geschah es vor ihr, vor ihren Augen; dann setzte er es aus Gewohnheit fort, und zuletzt verwandelte es sich auch f�r ihn in eine Notwendigkeit. Ihre Bemerkungen, ihr Ratschlag, ihr Lob oder ihr Tadel wurden f�r ihn zum unumg�nglichen Pr�fstein; er sah, da� sie ebensogut wie er begriff und nicht schlechter als er �berlegte und kombinierte ... Sachar war wie viele andere �ber die F�higkeit seiner Frau �rgerlich, und Stolz war dar�ber gl�cklich! Und dann Lesen und Lernen, das ewige N�hren des Denkens und dessen endlose Entwicklung! Oljga war auf jedes Buch und jeden Journalartikel, den man ihr nicht gezeigt hatte, eifers�chtig; sie war ernsthaft b�se und gekr�nkt, wenn er es nicht f�r gut hielt, ihr etwas seiner Meinung nach zu Schwieriges, Langweiliges, ihr Unverst�ndliches zu zeigen, nannte das Pedanterie, Abgeschmacktheit, Verzopftheit und nannte ihn eine �alte deutsche Per�cke�. Zwischen ihnen spielten sich aus diesem Anlasse lebhafte, gereizte Szenen ab. Sie z�rnte, und er lachte, sie z�rnte noch mehr und lie� sich nur dann beschwichtigen, wenn er zu scherzen aufh�rte und mit ihr seine Gedanken, seine Kenntnisse oder seine[1013] Lekt�re teilte. Zum Schlusse ergab es sich, da� alles, was er wissen und lesen wollte und wu�te, auch f�r sie zum Bed�rfnis geworden war. Er dr�ngte ihr keine Technik der Gelehrsamkeit auf, um dann mit der d�mmsten Prahlerei auf seine �gelehrte� Frau stolz zu sein. Wenn ihr im Gespr�ch ein einziges Wort oder sogar eine Andeutung auf solche Anspr�che entschl�pft w�re, w�re er noch mehr err�tet, als wenn sie mit einem stumpfen Blick der Unwissenheit eine im Gebiete der Wissenschaft gew�hnliche, f�r die bestehende Frauenbildung aber noch unzul�ngliche Frage beantwortet h�tte. Er wollte nur nicht – und sie um so mehr –, da� es nicht so sehr f�r ihr Wissen, als f�r ihr Verst�ndnis etwas Unerreichbares geben sollte. Er zeichnete ihr keine Tafeln und Zahlen vor, sprach aber �ber alles und las vieles, ohne pedantisch irgendeiner sozialen Theorie oder volkswirtschaftlichen oder philosophischen Frage auszuweichen; er sprach mit Eifer und Leidenschaft. Er schien vor ihr ein endloses, lebendiges Bild des Wissens zu entrollen; sp�ter entfielen die Einzelheiten ihrem Ged�chtnisse, doch das Bild entschwand niemals ihrem empf�nglichen Geist, die Farben verbla�ten nicht, und das Feuer, mit dem er den f�r sie erschaffenen Kosmos erhellte, erlosch nicht. Er zitterte vor Stolz und Gl�ck, wenn er bemerkte, wie ein Funken dieses Feuers dann in ihren Augen leuchtete, wie ein Widerhall des ihr mitgeteilten Gedankens in ihren Worten erklang, wie dieser Gedanke in ihr Bewu�tsein und Verst�ndnis �bergegangen war, sich in ihrem Geist verarbeitet hatte und sich nicht trocken und streng, sondern, mit dem Glanze der weiblichen Grazie versehen, in ihren Worten �u�erte, besonders aber, wenn irgendein furchtbarer Tropfen alles dessen, was gesprochen, gelesen und dargestellt wurde, sich gleich einer Perle auf den klaren Grund ihres Lebens senkte. Er webte ihr als Denker und K�nstler ein vern�nftiges Dasein, und noch nie im Leben, weder zur Zeit der Studien noch in den m�hseligen Tagen, als er mit dem Leben k�mpfte, sich aus dessen Kr�mmungen herausarbeitete und seine Kraft in diesen Versuchen[1014] pr�fte und abh�rtete, war er so ganz in Anspruch genommen, als jetzt, da er diese rastlose, vulkanische Arbeit des Geistes seiner Gef�hrtin zu lenken hatte.

Wie gl�cklich ich bin! sagte Stolz im stillen und tr�umte auf seine Weise, indem er in die Zukunft blickte, die den Flitterwochen ihrer Ehe folgen w�rde. In der Ferne l�chelte ihm Oljga in einer neuen Gestalt zu, nicht als Egoistin, als leidenschaftlich liebende Gattin, als Mutter und Kinderfrau, die mit der Zeit in einem farblosen, nutzlosen Dasein verbl�ht, sondern als etwas anderes, H�heres, fast noch nicht Dagewesenes ... Er tr�umte von einer schaffenden Mutter, die am geistigen und �ffentlichen Leben einer ganzen, gl�cklichen Generation teilnahm ... Er dachte �ngstlich dar�ber nach, ob ihre Kraft und ihr Willen ausreichen w�rden, und half ihr, eilig mit dem Leben fertig zu werden und sich f�r diesen Kampf den n�tigen Mut auszuarbeiten, gerade jetzt, solange sie beide noch jung und stark waren, solange das Leben sie schonte oder seine Schl�ge nicht schwer erschienen, solange der Schmerz noch von der Liebe weggeschwemmt wurde. Ihre Tage verd�sterten sich nicht f�r lange. Das Mi�lingen der Gesch�fte, der Verlust einer bedeutenden Geldsumme, das alles ber�hrte sie kaum. Es verursachte ihnen viel Arbeit und Reisen und wurde dann bald vergessen.

Der Tod der Tante rief Oljgas bittere, aufrichtige Tr�nen hervor und warf ein halbes Jahr lang einen Schatten auf ihr Leben. Die gr��ten Bef�rchtungen und ewige Sorge wurden durch die Krankheiten der Kinder hervorgerufen; doch sowie die Furcht wich, kehrte das Gl�ck zur�ck. Andrej wurde am meisten durch Oljgas Gesundheitszustand beunruhigt; sie brauchte lange Zeit, um sich nach der Entbindung zu erholen, und trotzdem sie wiederhergestellt war, h�rte er nicht auf, sich um sie zu sorgen; er konnte sich keinen gr��eren Schmerz denken.

Wie gl�cklich bin ich! sagte auch Oljga still, ihr Leben betrachtend, und versank manchmal in den Momenten dieser Betrachtung in Sinnen ... besonders nach einiger Zeit, drei, vier Jahre nach ihrer Verheiratung.[1015]

Der Mensch ist seltsam! Je voller ihr Gl�ck sich gestaltete, desto nachdenklicher und sogar ... �ngstlicher wurde sie. Sie begann sich streng zu beobachten und bemerkte, da� diese Stille des Lebens, das Verweilen auf den Augenblicken des Gl�ckes sie verwirrte. Sie sch�ttelte diese Nachdenklichkeit gewaltsam von ihrer Seele ab und beschleunigte das Tempo ihres Lebens, suchte fieberhaft nach L�rm, Trubel und Besch�ftigung, bat den Mann, sie in die Stadt mitzunehmen, versuchte es, sich in der Gesellschaft unter den Menschen umzuschauen; aber es dauerte nicht lange. Das Leben der Gesellschaft ber�hrte sie nur oberfl�chlich, sie eilte in ihren Winkel, um sich von irgendeinem dr�ckenden, ungewohnten Eindruck zu befreien, und versenkte sich wieder in die kleinlichen Sorgen des h�uslichen Lebens, verlie� ganze Tage lang nicht das Kinderzimmer und erf�llte die Pflichten der Mutter als Kinderfrau, oder sie versenkte sich mit Andrej ins Lesen und in Gespr�che �ber �Ernsthaftes und Langweiliges�; sie lasen auch Dichter und sprachen von einer Reise nach Italien. Sie f�rchtete, in etwas der Apathie Oblomows �hnliches zu versinken. Aber trotz aller ihrer Bem�hungen, diese Augenblicke der periodischen Erstarrung und des Schlafes von ihrer Seele abzusch�tteln, schlich an sie doch wieder zuerst ein Traum von Gl�ck heran, eine blaue Nacht senkte sich auf sie herab und fesselte sie mit Schlummer; dann begann wieder ein Moment des Sinnens, gleichsam ein Ausruhen vom Leben, und dann ... Verwirrung, Angst, Mattigkeit, eine dumpfe Traurigkeit, und in dem unruhigen Hirn ert�nten dunkle, nebelhafte Fragen.

Oljga lauschte wachsam, pr�fte sich, konnte aber nicht erhaschen und herausbekommen, was die Seele manchmal bittet und sucht; sie schien sogar – es war furchtbar, es zu bekennen – voll Bangigkeit zu sein, als ob das gl�ckliche Leben sie nicht befriedigte und sie erm�dete, als forderte sie neue ungew�hnliche Erscheinungen und als eilte sie der Gegenwart voraus ... Was ist das? dachte sie entsetzt, mu� man denn und kann man denn noch etwas[1016] w�nschen? Wohin sollte man sich wenden? Man konnte nirgends hin, es war kein Weg da ... Ist's denn m�glich, hast du denn den Kreis des Lebens schon vollendet? War denn das alles ... alles? ... fragte ihre Seele, sprach aber nicht zu Ende ... und Oljga blickte unruhig um sich, ob jemand nicht dieses Fl�stern ihrer Seele erfuhr und erlauschte ... Sie befragte den Himmel, das Meer, den Wald ... Doch sie erhielt nirgends eine Antwort. Dort war nichts als die Ferne, die Tiefe und das Dunkel. Die Natur sagte immer ein und dasselbe; sie sah darin ein stetes, aber eint�niges Fortschreiten des Lebens, ohne Anfang und Ende. Sie wu�te, wen sie �ber diese Zweifel zu befragen hatte und wo sie Antwort finden konnte; wie w�rde diese aber ausfallen? Was, wenn das alles das Murren eines unfruchtbaren Geistes oder noch schlimmer: der Durst eines nicht f�r die Liebe geschaffenen, unweiblichen Herzens war! Sie, sein Abgott, war ohne Herz, mit einem trockenen, durch nichts zu befriedigenden Verstand! Was w�rde denn aus ihr werden? Vielleicht ein Blaustrumpf? Wie w�rde sie in seinen Augen sinken, wenn sich ihm diese neuen, nicht gewohnten, aber ihm doch verst�ndlichen Leiden er�ffneten! Sie versteckte sich vor ihm oder sch�tzte Krankheit vor, wenn ihre Augen gegen ihren Willen den samtenen Glanz verloren und so trocken und hei� blickten, wenn auf ihrem Gesichte eine schwere Wolke lastete und sie sich trotz aller Bem�hungen nicht dazu zwingen konnte, zu l�cheln und zu sprechen, und die wichtigsten Neuigkeiten auf dem Gebiete der Politik, die interessantesten Erkl�rungen eines neuen Fortschreitens der Wissenschaft, eines neuen Schaffens in der Kunst gleichg�ltig aufnahm. Sie wollte aber nicht weinen, und es kam �ber sie ein pl�tzliches Erbeben, wie zu der Zeit, da ihre Nerven in Aufruhr waren und ihre weiblichen Kr�fte erwachten und sich �u�erten. Nein, das war etwas anderes! Was ist es denn? fragte sie sich verzweifelt, wenn sie an einem sch�nen, stillen Abend oder an der Wiege oder sogar w�hrend der Liebkosungen und Reden ihres Mannes pl�tzlich traurig und allem gegen�ber[1017] gleichg�ltig wurde ... Sie wurde wie versteinert und schwieg, bewegte sich dann mit geheuchelter Lebhaftigkeit hin und her, um ihr seltsames Leiden zu verbergen, oder sch�tzte Migr�ne vor und ging schlafen.

Es fiel ihr aber nicht leicht, Stolz' wachsamen Blick zu t�uschen; sie wu�te es und bereitete sich innerlich mit derselben Unruhe zur bevorstehenden Auseinandersetzung vor, wie sie sich einst zur Beichte der Vergangenheit vorbereitet hatte. Der Augenblick kam.

Sie gingen eines Abends in der Pappelallee spazieren. Sie h�ngte sich fast an seine Schulter und schwieg. Sie qu�lte sich mit einem ihrer unbegreiflichen Anf�lle ab und beantwortete kurz alles, was er sagte.

�Die Kinderfrau hat gesagt, da� Olenjka in der Nacht gehustet hat. Sollte man morgen nicht den Arzt holen lassen?� fragte er.

�Ich habe ihr Warmes zu trinken gegeben und werde sie morgen nicht hinauslassen, wir wollen abwarten!� antwortete sie eint�nig.

Sie durchschritten schweigend die Allee.

�Warum hast du denn den Brief deiner Freundin Sonitschka nicht beantwortet?� fragte er. �Und ich habe immer darauf gewartet und w�re fast zu sp�t auf die Post gekommen. Das ist schon ihr dritter unbeantworteter Brief.�

�Ja, ich m�chte sie m�glichst bald vergessen...� sagte sie und schwieg.

�Ich habe Bitschurin von dir gegr��t�, begann Andrej wieder; �er ist ja in dich verliebt, es wird ihn vielleicht ein wenig tr�sten, da� sein Weizen nicht mehr zur rechten Zeit eintrifft.�

Sie l�chelte trocken.

�Was hast du, willst du schlafen?� fragte er.

Ihr Herz begann wie jedesmal, wenn diese Fragen an sie gerichtet wurden, zu klopfen.

�Noch nicht�, sagte sie mit k�nstlicher Frische, �warum denn?�

�Bist du unwohl?� fragte er wieder.[1018]

�Nein. Warum glaubst du das?�

�Dann langweilst du dich!�

Sie pre�te ihm mit beiden H�nden fest die Schulter zusammen.

�Nein, nein!� wies sie seine Vermutungen mit gek�nstelt unbefangener Stimme zur�ck, in welcher aber tats�chlich etwas wie Langeweile ert�nte.

Er f�hrte sie aus der Allee heraus und wandte ihr Gesicht dem Mondlichte zu.

�Sieh mich an!� sagte er und sah ihr forschend in die Augen.

�Man k�nnte meinen, da� du ... ungl�cklich bist! Du hast heute so seltsame Augen, und nicht nur heute ... Was hast du, Oljga?�

Er f�hrte sie an der Taille wieder in die Allee.

�Wei�t du, ich ... habe Hunger!� sagte sie und versuchte zu lachen.

�L�ge nicht, l�ge nicht! Ich liebe das nicht!� rief er mit gespielter Strenge aus.

�Ungl�cklich!� wiederholte sie vorwurfsvoll, in der Allee stehenbleibend. �Ja, ich bin vielleicht deswegen ungl�cklich ... weil ich zu gl�cklich bin!� f�gte sie mit einem so weichen, z�rtlichen Klang der Stimme hinzu, da� er sie k��te. Sie wurde dreister. Die zwar scherzhafte, leichthin ge�u�erte Voraussetzung, sie k�nnte ungl�cklich sein, spornte sie unerwartet zur Offenherzigkeit an.

�Ich langweile mich nicht und kann mich nicht langweilen, das wei�t du und glaubst nat�rlich selbst nicht an deine Worte; ich bin nicht krank, sondern ... mir ist ... manchmal traurig zumute ... Da hast du's, du unertr�glicher Mensch, wenn man sich vor dir nicht verstecken kann! Ja, traurig, und ich wei� nicht weshalb!� Sie legte ihm den Kopf auf die Schulter.

�Das ist es also! Warum denn?� fragte er sie leise, sich zu ihr herabbeugend.

�Ich wei� nicht�, wiederholte sie.

�Es mu� aber doch irgendein Grund vorhanden sein, wenn nicht in mir und in deiner Umgebung, so doch in[1019] dir selbst. Manchmal ist eine solche Traurigkeit nichts anderes als der Keim einer Krankheit ... F�hlst du dich nicht gesund?�

�Ja, vielleicht�, sagte sie ernst, �ist es etwas �hnliches, wenn ich auch nichts f�hle. Du siehst, wie ich esse, spazierengehe, schlafe und arbeite. Pl�tzlich kommt eine Melancholie �ber mich ... mir scheint dann ... da� das Leben nicht alles enth�lt, was es enthalten sollte ... Aber achte nicht darauf; das alles ist ganz belanglos ...�

�Sprich, sprich!� drang er eifrig in sie, �das Leben enth�lt also nicht alles; was noch?�

�Manchmal f�rchte ich, da� alles sich �ndert oder ein Ende nimmt ... Ich wei� selber nicht! Oder ich qu�le mich mit dem dummen Gedanken ab: Was wird noch sein? ... Ist denn das das Gl�ck ... das ganze Leben ...� sprach sie immer leiser, sich dieser Frage sch�mend, �alle diese Freuden und Leiden ... die Natur? ...� fl�sterte sie, �es zieht mich immer noch irgendwohin, nichts befriedigt mich ... Mein Gott! ich sch�me mich sogar dieser Dummheiten ... Es ist Phantasterei ... Beachte es nicht und sieh mich nicht an ...� f�gte sie mit flehender Stimme hinzu, indem sie sich an ihn schmiegte. �Diese Traurigkeit vergeht bald, und mir wird dann wieder so leicht und froh, wie zum Beispiel jetzt!�

Sie schmiegte sich sch�chtern und z�rtlich an ihn, sich tats�chlich sch�mend und ihn gleichsam darum bittend, ihr die �Dummheiten� zu verzeihen.

Andrej befragte sie noch lange, und sie teilte ihm noch lange, wie eine Kranke dem Arzt, die Symptome der Traurigkeit und alle dumpf in ihr aufsteigenden Fragen mit, stellte ihm die Unruhe ihrer Seele und das Verschwinden dieser Halluzination dar, alles, was sie bemerkt hatte und was ihr einfiel.

Stolz schritt wieder schweigend durch die Allee, indem er den Kopf auf die Brust senkte und sich mit seinem ganzen Denken voll Unruhe und Staunen in das unklare Gest�ndnis seiner Frau vertiefte.

Sie schaute ihm in die Augen, sah aber nichts, und als[1020] sie das Ende der Allee zum drittenmal erreicht hatten, lie� sie ihn nicht sich umwenden, sondern f�hrte ihn jetzt, wie er es zuvor mit ihr getan hatte, ins Mondlicht und blickte ihm fragend in die Augen.

�Was hast du?� fragte sie sch�chtern, �du lachst �ber meine Dummheiten, nicht wahr? Diese Traurigkeit ist sehr dumm, nicht wahr?�

Er schwieg.

�Warum schweigst du denn?�

�Du hast lange geschwiegen, trotzdem du sicher gewu�t hast, da� ich dich l�ngst beobachtet habe; la� also auch mich schweigen und nachdenken. Du hast mir keine leichte Aufgabe gestellt ...�

�Jetzt wirst du nachdenken, und ich werde mich damit abqu�len, was f�r Gedanken dir wohl kommen. Ich h�tte es dir nicht sagen sollen�, f�gte sie hinzu, �sage lieber etwas ...�

�Was soll ich dir denn sagen?� fragte er sinnend. �Vielleicht �u�ert sich in dir auch eine nerv�se St�rung, dann kann ich dir nicht sagen, was mit dir ist, das mu� der Arzt entscheiden. Ich werde ihn morgen holen lassen ... Wenn es aber etwas anderes ist ...� begann er und dachte nach.

�Was dann, sprich!�

Er ging noch immer in Gedanken versunken.

�Aber so sprich doch!� sagte sie, ihm die Hand sch�ttelnd.

�Vielleicht ist es ein �berschu� an Phantasie – du bist zu lebhaft ... oder du bist vielleicht bis zu einem Stadium herangereift ...� sagte er halblaut, wie zu sich selbst.

�Sprich, bitte, laut, Andrej! Ich kann es nicht ausstehen, wenn du vor dich hinbrummst�, klagte sie; ich habe ihm Dummheiten vorerz�hlt, und er l��t gleich den Kopf h�ngen und brummt vor sich etwas in den Bart! �Ich f�rchte mich sogar mit dir, hier im Dunkel ...�

�Ich wei� nicht, was ich sagen soll ... Du wirst traurig, dich qu�len allerlei Fragen, wie kann man daraus klug werden? Wir werden noch dar�ber sprechen und uns die[1021] Sache �berlegen; ich glaube, du mu�t wieder im Meer baden ...�

�Du hast zu dir selbst gesagt: ›Wenn ... vielleicht ... gereift‹. Was f�r einen Gedanken hast du gehabt?� fragte sie.

�Ich dachte ...� begann er langsam und sinnend seine Gedanken zu �u�ern, ohne ihnen noch recht zu trauen und sich ihrer gleichsam sch�mend, �siehst du, es gibt Augenblicke ... das hei�t, ich will sagen, da� das alles nicht das Anzeichen irgendeiner St�rung ist; wenn du dabei ganz gesund bist, bedeutet das vielleicht, da� du schon gereift und an den Zeitpunkt herangekommen bist, da die Entwicklung des Lebens stehenbleibt, da es darin kein R�tsel mehr gibt und es sich ganz offenbart hat ...�

�Ich glaube, du willst sagen, da� ich gealtert bin?� unterbrach sie ihn lebhaft, �untersteh dich nicht!� Sie drohte ihm sogar. �Ich bin noch jung und kr�ftig ...� f�gte sie, sich reckend, hinzu.

Er lachte.

�F�rchte dich nicht�, sagte er, �du hast keine Anlagen, irgendwann zu altern! Nein, das ist es nicht ... im Alter sinken die Kr�fte und h�ren auf, gegen das Leben anzuk�mpfen. Nein, deine Traurigkeit und Bangigkeit ist, wenn ich nicht irre, eher das Anzeichen von Kraft ... Das Suchen eines lebhaften, t�tigen Geistes geht manchmal �ber die Grenzen des Lebens hinaus, findet, aber selbstverst�ndlich keine Antwort, und dann entsteht Traurigkeit und zeitweise Unzufriedenheit mit dem Leben ... Das ist die Traurigkeit der Seele, die das Leben �ber sein Geheimnis befragt ... Vielleicht ist das dein Fall ... Wenn es so ist, dann ist das alles nicht belanglos.�

Sie seufzte wohl haupts�chlich vor Freude, da� ihre Bef�rchtungen nun ein Ende hatten und sie in den Augen ihres Mannes nicht gesunken, sondern im Gegenteil noch gestiegen war ...

�Ich bin doch aber gl�cklich, mein Geist ist nicht m��ig; ich tr�ume nicht; mein Leben ist inhaltreich – was denn[1022] noch? Wozu diese Fragen?� sagte sie. �Es ist eine Krankheit, ein lastender Druck!�

�Ja, vielleicht ist es ein Druck f�r einen schwachen, finsteren Geist, der das nicht gewohnt ist. Diese Traurigkeit und diese Fragen haben vielleicht viele schon wahnsinnig gemacht; manchen erscheinen sie in Gestalt von unf�rmigen Visionen, von Hirngespinsten ...�

�Das Gl�ck sch�umt �ber den Rand, ich m�chte so gern leben, und pl�tzlich kommt diese Bitternis hinzu ...�

�Ja! Das ist der Preis, mit dem das Feuer des Prometheus erkauft wird! Man mu� diese Traurigkeit nicht nur dulden, sondern auch lieben und diese Zweifel und Fragen achten; sie sind der �berflu�, der Luxus des Lebens und erscheinen meistens nur auf den Gipfeln des Gl�ckes, wo es keine rohen W�nsche gibt; sie entstehen nicht inmitten des Alltaglebens; wo Not und Elend ist, hat man keinen Sinn daf�r; die Menge schreitet hin, ohne diesen Nebel der Zweifel und die Bangigkeit der Fragen zu kennen ... Wer ihnen aber rechtzeitig begegnet, sieht in ihnen nicht etwas Zermalmendes, sondern begr��t sie als liebe G�ste.�

�Man wird damit aber nicht fertig; sie erzeugen Traurigkeit und Gleichg�ltigkeit ... fast allem gegen�ber ...� f�gte sie unschl�ssig hinzu.

�Dauert das denn lange? Dann erfrischen sie das Leben. Sie f�hren zu einem Abgrund hin, den man �ber nichts befragen kann, und rufen dem �brigen Leben gegen�ber gr��ere Liebe hervor ... Sie fordern schon erprobte Kr�fte zum Kampf mit sich heraus, wie um sie nicht einschlafen zu lassen ...�

�Sich mit Nebeln, mit Visionen abzuqu�len� klagte sie, �alles ist licht, und pl�tzlich f�llt ein d�nner Schatten auf das Leben hin! Gibt es denn kein Mittel dagegen?�

�Es gibt schon welche: im Leben eine St�tze haben! Wenn man aber keine hat, dann ist das Leben auch ohne diese Fragen unertr�glich!�

�Was soll man denn tun? Sich dieser Stimmung hingeben und trauern?�[1023]

�Nichts�, sagte er, �sich mit Festigkeit waffnen und geduldig und beharrlich seinen Weg verfolgen. Wir sind keine Titanen�, fuhr er fort und umarmte sie, �wir werden nicht mit Manfred und Faust zugleich einen k�hnen Kampf mit qu�lenden Fragen beginnen, wir werden die Herausforderung nicht annehmen, sondern das Haupt neigen und den schweren Augenblick dem�tig ertragen, und dann l�chelt wieder das Leben, das Gl�ck und ...�

�Und wenn das niemals aufh�rt, wenn die Traurigkeit immer und immer mehr qu�lt? ...� fragte sie.

�Was dann? Wir nehmen sie als ein neues Element des Lebens auf ... Aber das ist unm�glich, das kann bei uns nicht eintreffen! Das ist nicht deine Traurigkeit, sondern die allgemeine Krankheit der Menschheit. Dich hat nur ein Tropfen davon genetzt ... Das alles ist furchtbar, wenn der Mensch sich vom Leben abwendet ... wenn er keine St�tze besitzt. Aber wir ... Wollen wir hoffen, da� diese Traurigkeit das ist, wof�r ich sie halte, und kein Symptom einer Krankheit ... das w�re weit schlimmer. Das w�re ein Ungl�ck, das mich schutzlos und kraftlos vorf�nde ... Wie k�nnten aber Nebel, Traurigkeit, Zweifel, Fragen uns unseres Gl�ckes berauben und unsere ...�

Er sprach nicht zu Ende, sie st�rzte sich wie wahnsinnig in seine Arme und erstarrte f�r einen Augenblick wie eine Bacchantin in leidenschaftlicher Selbstvergessenheit, indem sie seinen Hals mit den Armen umschlang.

�Weder Nebel noch Traurigkeit noch Krankheit, nicht einmal der Tod! ...� fl�sterte sie begeistert, wieder gl�cklich, beruhigt und froh. Ihr schien, sie h�tte ihn noch nie so leidenschaftlich geliebt wie in diesem Augenblick.

�Sieh dich vor, da� das Schicksal dein Murren nicht h�rt�, schlo� er mit der abergl�ubischen Bemerkung, die z�rtliche Sorge ihm eingab, �und nicht f�r Undankbarkeit h�lt! Es liebt nicht, da� seine Gaben nicht gesch�tzt werden. Bis jetzt hast du das Leben nur beobachtet, du wirst es aber noch selbst auskosten ... Warte, bis es sich vor dir entrollt und Leid und Arbeit beginnen ... Wenn sie aber beginnen, dann hat man f�r solche Fragen keine[1024] Zeit ... Schone deine Kr�fte!� f�gte Stolz leise, wie im Selbstgespr�ch als Antwort auf ihren leidenschaftlichen Ausbruch hinzu. In seinen Worten erklang Traurigkeit, als sehe er in der Ferne schon �Leid und Arbeit�.

Sie schwieg, f�r den Augenblick durch den traurigen Klang seiner Stimme betroffen. Sie glaubte ihm grenzenlos, sie glaubte auch seiner Stimme. Sein Sinnen steckte auch sie an, sie sammelte ihre Gedanken und wandte sich ganz ihrem Innern zu. Sie schritt, sich auf ihn st�tzend, mechanisch, langsam und in tiefes Schweigen versenkt, durch die Allee. Sie blickte, ihrem Gatten folgend, �ngstlich in die Ferne des Lebens, dorthin, wo seinen Worten nach die Zeit der �Pr�fungen� beginnen w�rde und wo �Leid und Arbeit� sie erwarteten. Sie tr�umte einen anderen Traum, nicht von der blauen Nacht; sondern ihr er�ffnete sich ein neuer Abschnitt des Lebens, nicht mehr der durchsichtig klare, festliche, in der Stille, inmitten der grenzenlosen F�lle, allein mit ihm ... Nein, sie sah dort eine Kette von Verlusten, von Entbehrungen, von mit Tr�nen benetzten, unvermeidlichen Opfern, ein Leben des Fastens und des unfreiwilligen Entsagens der vom M��iggang erzeugten Launen – St�hnen und Weinen, die neue, ihnen jetzt unbekannte Gef�hle begleiten w�rden; sie tr�umte von Krankheiten, vom schlechten Gang der Gesch�fte, vom Verlust des Gatten ... Sie zitterte und ermattete, blickte aber mit mutiger Neugier auf diese neue Lebensweise, betrachtete sie entsetzt und pr�fte ihre Kr�fte ... Nur die Liebe versagt auch in diesem Traum nicht, sie stand als treue Wache des neuen Lebens da; aber auch sie hatte sich ver�ndert! Sie f�hlte nicht ihren hei�en Atem, sah keine lichten Strahlen und keine blaue Nacht; nach Jahren w�rde das alles im Vergleich mit jener fernen Liebe, die das tiefe und unerbittliche Leben in sich aufgenommen hatte, wie ein Kinderspiel erscheinen. Man h�rte dort keine K�sse, kein Lachen und keine bebenden, sinnenden Gespr�che in der Allee, inmitten von Blumen, beim Fest der Natur und des Lebens ... Alles w�rde verblassen und verwelken. Jene nie welkende, unverg�ngliche[1025] Liebe spiegelte sich m�chtig wie eine Lebenskraft auf ihren Gesichtern wider, sie leuchtete in der Stunde des gemeinsamen Schmerzes in einem schweigend und langsam gewechselten Blick auf und �u�erte sich in der endlosen, beiderseitigen Geduld der Folter des Lebens gegen�ber, in verhaltenen Tr�nen und unterdr�cktem Schluchzen ... Mit Oljgas nebelhafter Traurigkeit und den in ihr auftauchenden Fragen verwebten sich leise andere, wenn auch ferne, so doch klare, bestimmte und drohende Tr�ume.

Bei den beruhigenden und energischen Worten ihres Mannes und im grenzenlosen Vertrauen ihm gegen�ber ruhte Oljga sowohl von ihrer r�tselhaften, nicht allen verst�ndlichen Traurigkeit, als auch von den drohenden, prophetischen Tr�umen der Zukunft aus und schritt mutig vorw�rts. Auf den �Nebel� folgte ein heller Morgen mit den Sorgen der Mutter und Hausfrau; dort lockte sie der Blumengarten und das Feld und das Arbeitszimmer des Mannes. Sie spielte aber nicht mehr voll sorglosem Vergn�gen mit dem Leben, sondern lebte mit einem verborgenen, k�hnen Gedanken, bereitete sich vor und wartete ... Sie wuchs immer h�her und h�her ... Andrej sah, da� sein fr�heres Ideal einer Frau und Gattin unerreichbar war, doch er war selbst durch den blo�en Widerschein desselben in Oljga begl�ckt; er hatte selbst das nie erwartet.

Au�erdem trug er noch lange Zeit, fast das ganze Leben, die nicht geringe Sorge, seine W�rde als Mann vor den Augen der ehrgeizigen, stolzen Oljga aufrechtzuerhalten; er tat es nicht aus brutaler Eifersucht, sondern um dieses kristall�hnliche Leben nicht zu verd�stern; und das h�tte leicht geschehen k�nnen, wenn ihr Glaube an ihn auch nur ein wenig gewankt h�tte.

Viele Frauen verlangen dies alles nicht; sowie sie verheiratet sind, nehmen sie die guten und die b�sen Eigenschaften des Mannes dem�tig hin, f�hlen sich in der ihnen zugewiesenen Stellung und Sph�re ohne weiteres befriedigt oder ergeben sich ebenso dem�tig der ersten, zuf�lligen[1026] Leidenschaft, indem sie es sofort f�r unm�glich oder nicht f�r notwendig halten, sich ihr zu widersetzen; das sei so ihr Schicksal, die Frau sei ein schwaches Wesen und k�nne dem Sturm nicht standhalten usw. Wenn der Gatte durch seinen Verstand, diese unwiderstehliche Macht des Mannes, die Menge sogar �berragt, sind diese Frauen auf diesen seinen Vorzug ebenso stolz wie auf irgendeinen kostbaren Schmuck, doch auch das nur dann, wenn dieser Verstand ihren kleinlichen, weiblichen Intrigen gegen�ber blind bleibt. Wenn er es aber wagt, die armselige Kom�die ihrer nichtigen und manchmal lasterhaften Existenz zu durchschauen, beengt und bedr�ckt er sie.

Oljga kannte nicht diese Logik der Unterw�rfigkeit dem blinden Schicksal gegen�ber und begriff die weiblichen kleinen Leidenschaften und Freuden nicht. Sowie sie in dem erw�hlten Mann einmal gewisse Eigenschaften und Rechte sich gegen�ber erkannt hatte, glaubte sie an ihn und liebte ihn folglich auch; sowie sie aber an ihn zu glauben aufh�rte, war auch ihre Liebe zu Ende, wie es mit Oblomow geschehen war. Aber damals waren ihre Schritte noch unsicher und ihr Wille schwankend gewesen; sie hatte soeben begonnen, das Leben zu beobachten, dar�ber nachzudenken, sich der Elemente ihres Geistes und Charakters bewu�t zu werden und Material zu sammeln; die Arbeit des Schaffens war noch nicht erwacht und die Wege des Lebens waren noch nicht entr�tselt. Doch jetzt glaubte sie nicht blind, sondern bewu�t an Andrej, und er verk�rperte ihr Ideal der m�nnlichen Vollkommenheit. Sie glaubte immer bewu�ter an ihn, und es wurde ihm immer schwerer, auf der gleichen H�he zu bleiben und der Held nicht nur ihres Verstandes und Herzens, sondern auch ihrer Phantasie zu bleiben. Und sie glaubte an ihn so, da� sie zwischen ihm und sich, au�er Gott, keinen anderen Vermittler, keine andere Instanz zulie�. Darum h�tte sie es nicht ertragen, wenn die von ihr anerkannten Eigenschaften sich auch nur um ein Haar verringert h�tten; jede falsche Note seines Charakters[1027] oder Verstandes w�rde einen ersch�tternden Mi�klang hervorgerufen haben.

Das zerst�rte Ideal des Gl�ckes w�rde sie unter seinen Tr�mmern begraben haben, oder wenn ihre Kr�fte sie nicht verlie�en, w�rde sie weitersuchen ... Aber nein, solche Frauen irren sich nicht zweimal. Nach dem Versagen eines solchen Glaubens, einer solchen Liebe ist eine Auferstehung unm�glich.

Stolz war durch sein inhaltreiches, bewegtes Leben hoch begl�ckt und h�tete, sch�tzte und pflegte es eifrig und wachsam. Vom Grunde seiner Seele stieg nur dann Entsetzen auf, wenn er daran dachte, da� Oljga sich am Rande des Abgrundes befunden hatte, da� dieser gl�cklich erratene Weg, auf dem ihre beiden Existenzen sich vereinigt hatten, h�tte verfehlt werden k�nnen, da� die Unkenntnis des Lebens den verh�ngnisvollen Irrtum ungehindert fast erf�llt h�tte, da� Oblomow .... Er fuhr zusammen. Wie! ... er sollte sich Oljga in dem ihr von Oblomow zugedachten Leben, von einem Tag zum andern hinvegetierend, als Dorfdame, als Kinderfrau und Hausfrau denken! Alle Fragen, Zweifel, das ganze Fieber des Lebens w�rde sich auf die wirtschaftlichen Sorgen, auf die Erwartung der Feiertage, der G�ste, der Familienzusammenk�nfte, auf Geburten, Taufen, auf die Apathie und den Schlaf des Mannes beschr�nken! Die Ehe w�re nur eine Form, aber kein Inhalt, ein Mittel, aber kein Ziel; sie w�rde als breiter, unver�nderlicher Rahmen f�r Besuche, Empfang von G�sten, Diners, Abende und leeres Geschw�tz dienen? ... Wie w�rde sie ein solches Leben ertragen? Zuerst w�rde sie sich mit dem Suchen und Erraten des R�tsels des Lebens abqu�len, weinen und trauern, dann w�rde sie sich gew�hnen, dick werden, essen, schlafen und abstumpfen ... Nein, es w�rde anders sein; sie weint, qu�lt sich, welkt dahin und stirbt in den Armen des liebenden, guten, aber kraftlosen Mannes ... Arme Oljga!

Und wenn das Feuer nicht erlosch, das Leben nicht erstarb, wenn die Kr�fte standhielten und nach Freiheit[1028] verlangten, wenn sie wie ein starkes, in die Ferne blickendes Adlerweibchen, das f�r einen Augenblick von schwachen H�nden gefesselt wurde, die Fl�gel regt und auf jeden hohen Felsen schwebt, auf dem sie einen noch st�rkeren und scharfsichtigeren Adler erblickt hat? ... Armer Ilja!

�Armer Ilja!� sagte Andrej einmal laut, an die Vergangenheit denkend.

Oljga lie� bei diesem Ausruf die H�nde mit der Arbeit pl�tzlich auf die Knie sinken, warf den Kopf zur�ck und vertiefte sich in ihre Gedanken. Der Name weckte in ihr Erinnerungen.

�Was ist mit ihm?� fragte sie dann. �K�nnte man das nicht erfahren?�

Andrej zuckte die Achseln.

�Man k�nnte meinen�, sagte er, �da� wir zu einer Zeit leben, da es noch keine Post gab und da die Menschen, die nach verschiedenen Gegenden verstreut waren, einander f�r tot hielten und ohne jedes Lebenszeichen verschwanden.�

�Du solltest wieder einem deiner Freunde schreiben, dann w�rden wir es wenigstens wissen ...�

�Wir w�rden nichts anderes erfahren, als wir jetzt wissen. Er lebt, ist gesund und wohnt in derselben Wohnung – das wei� ich auch ohne Freunde. Was aber mit ihm vorgeht, wie er sein Leben ertr�gt, ob er schon geistig tot ist oder ob in ihm noch ein Funken von Leben gl�ht – das wird kein Fremder erfahren ...�

�Ach, sprich nicht so, Andrej! Das erschreckt mich und tut mir weh. Ich m�chte das gerne wissen, und zugleich f�rchte ich mich davor ...�

Sie war nahe daran, zu weinen.

�Wir werden im Fr�hjahr in Petersburg sein und k�nnen uns dann selbst davon �berzeugen.�

�Es gen�gt nicht, das zu erfahren, man mu� auch irgend etwas tun ...�

�Habe ich denn nicht alles getan? Habe ich ihn denn nicht zu �berreden gesucht, nicht f�r ihn gearbeitet, nicht[1029] seine Angelegenheiten geordnet – und er hat auf all das keinen Ton erwidert! Wenn man ihn sieht, ist er zu allem bereit, sowie man aber fort ist, hat alles ein Ende, und er schl�ft wieder ein. Man mu� mit ihm wie mit einem S�ufer umgehen!�

�Warum gehst du denn von ihm fort?� entgegnete Oljga ungeduldig. �Man mu� mit ihm energisch vorgehen, ihn in den Wagen setzen und fortf�hren. Wir �bersiedeln ja jetzt auf unser Gut; er wird in der N�he sein ... nehmen wir ihn mit.�

�Was f�r Sorgen er uns macht!� sagte Andrej, im Zimmer auf und ab gehend. �Das nimmt kein Ende!�

�Wird dir das l�stig?� sagte Oljga. �Das ist mir neu! Ich h�re dich zum ersten Male dar�ber murren.�

�Ich murre nicht�, antwortete Andrej, �sondern ich �berlege es mir.�

�Woher kommt denn dieses �berlegen? Du hast dir selbst eingestanden, da� das alles langweilig und l�stig ist, ja?�

Sie blickte ihn forschend an. Er sch�ttelte verneinend den Kopf.

�Nein, es ist nicht l�stig, sondern unn�tz; das f�llt mir manchmal ein.�

�Sprich nicht so!� unterbrach sie ihn. �Sonst werde ich wieder wie vorige Woche den ganzen Tag daran denken und traurig sein. Wenn in dir die Freundschaft zu ihm erloschen ist, mu�t du diese Sorge aus Liebe zur Menschheit tragen. Wenn du m�de wirst, gehe ich selbst hin und komme ohne ihn nicht zur�ck; meine Bitten werden ihn r�hren; ich f�hle, da� ich bitterlich weinen werde, wenn ich ihn leblos und tot sehe! Vielleicht werden die Tr�nen ...�

�Ihn ins Leben zur�ckrufen, glaubst du?� fragte Andrej.

�Nein, sie werden ihn nicht zu irgendeiner T�tigkeit antreiben, vielleicht werden sie ihn aber wenigstens dazu bringen, um sich zu schauen und sein Leben mit etwas Besserem zu vertauschen. Er wird nicht mehr in einem Sumpf stecken, sondern mit uns, mit seinesgleichen zusammen[1030] sein. Ich habe mich damals nur zu zeigen gebraucht, und er ist in einem Augenblick erwacht und hat sich gesch�mt ...�

�Vielleicht liebst du ihn noch wie einst?� fragte Andrej scherzend.

�Nein!� sagte Oljga ernsthaft und sinnend, als blicke sie in die Vergangenheit zur�ck. �Ich liebe ihn nicht wie fr�her, aber es ist etwas in ihm, was ich liebe, dem ich, wie mir scheint, treu geblieben bin und das ich nicht wie manche andere vergessen werde ...�

�Wer sind denn diese anderen? Sag, du giftige Schlange, bei�e, stich. Meinst du mich? Du irrst dich. Und wenn du die Wahrheit wissen willst, werde ich dir sagen, da� ich dich gelehrt habe, ihn zu lieben, und beinahe etwas Sch�nes angerichtet habe. Ohne mich w�rdest du an ihm vor�bergehen, ohne ihn zu beachten. Ich habe dich aber darauf hingewiesen, da� er nicht weniger Verstand als die anderen besitzt, da� dieser nur verborgen, mit allerlei Unrat versch�ttet ist und im M��iggang schlummert. Willst du, da� ich dir sage, warum er dir teuer ist und warum du ihn liebst?�

Sie nickte bejahend mit dem Kopf.

�Weil er etwas besitzt, das wertvoller als jeder Verstand ist, ein ehrliches, treues Herz! Das ist sein nat�rlicher Schatz, den er unversehrt durchs Leben getragen hat. Er hat sich von St��en umwerfen lassen, ist erkaltet und ist endlich vernichtet, entt�uscht, ohne Kraft zu leben eingeschlafen, ohne seine Ehrlichkeit und Treue zu verlieren. Sein Herz hat nie einen falschen Ton von sich gegeben und hat keinen Schmutz in sich aufgenommen. Keine noch so gl�nzende L�ge wird ihn bet�ren und ihn auf einen falschen Weg locken; wenn um ihn herum ein ganzer Ozean von Schmutz und B�sem wogt, wenn die ganze Welt von Gift erf�llt wird und eine verkehrte Richtung einschl�gt, wird Oblomow doch nie den G�tzen der L�ge anbeten, und in seiner Seele wird er stets rein und licht ausschauen ... Das ist eine kristall�hnliche, durchsichtige Seele; es gibt wenig solche Menschen, sie sind selten, es[1031] sind die Perlen der Menge! Sein Herz ist unbestechlich; man kann sich auf ihn stets und �berall verlassen. Darum bist du ihm treu geblieben, und darum wird die Sorge um ihn mir nie zur Last fallen. Ich habe viele Menschen mit gl�nzenden Eigenschaften gekannt, ich bin aber niemals einem reineren, lichteren und einfacheren Herzen begegnet; ich habe viele geliebt, aber niemand so unwandelbar und treu wie Oblomow. Wenn man ihn erkannt hat, kann man ihn nicht mehr zu lieben aufh�ren. Ist es so? Habe ich's erraten?�

Oljga schwieg, indem sie ihre Augen auf die Arbeit senkte. Andrej vertiefte sich in seine Gedanken.

�Ist denn das noch nicht alles? Was denn noch? Ach! ...� f�gte er dann, sich aufr�ttelnd lustig hinzu, �ich habe ganz die ›taubenhafte Z�rtlichkeit‹ vergessen ...�

Oljga lachte, warf ihre Arbeit fort, lief an Andrej heran, umschlang seinen Hals mit den Armen, blickte ihm ein paar Minuten lang mit ihren strahlenden Augen ins Gesicht, wurde dann nachdenklich und legte den Kopf auf die Schulter ihres Mannes. In ihrer Erinnerung erstand Oblomows sanftes, sinnendes Gesicht, sein z�rtlicher Blick, seine Demut und dann sein kl�gliches, schamerf�lltes L�cheln, mit dem er beim Abschied ihren Vorwurf beantwortete ... es wurde ihr so wehm�tig ums Herz, und er tat ihr so leid ...

�Du wirst ihn nicht verlassen und vergessen?� sagte sie, ohne ihre Arme vom Halse ihres Mannes loszul�sen.

�Niemals! Da m��te sich zwischen uns unerwartet ein Abgrund auftun oder eine Mauer erheben ...�

Sie k��te ihren Mann.

�Wirst du mich zu ihm mitnehmen, wenn wir in Petersburg sind?�

Er schwieg unschl�ssig.

�Ja? Ja?� verlangte sie ihm beharrlich eine Antwort ab.

�H�re, Oljga�, sagte er und bestrebte sich, seinen Hals von ihren ihn fesselnden Armen zu befreien, �zuerst mu� man ...�[1032]

�Nein, sage ja, versprich es mir, ich werde nicht ablassen!�

�Gut�, antwortete er, �aber nicht beim ersten, sondern erst beim zweiten Male; ich wei�, was mit dir sein wird, wenn er ...�

�Sprich nicht davon, sprich nicht!� unterbrach sie ihn.

�Wir beide werden alles zustande bringen; du allein wirst es nicht k�nnen und nicht wollen!�

�Gut; du wirst aber vielleicht f�r lange Zeit verstimmt sein!� sagte er, nicht ganz zufrieden, da� Oljga ihm seine Zustimmung abgen�tigt hatte.

�Also, denke daran�, schlo� sie, sich auf ihren Platz setzend, �da� du ihn nur dann verlassen wirst, wenn sich zwischen dir und ihm ›ein Abgrund auftut oder eine Mauer erhebt‹. Ich werde diese Worte nicht vergessen.�

Quelle:
Gontscharow, Iwan: Oblomow. Z�rich 1960, S. 1003-1033.
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