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Kurze Überfahrt – Kritik

Ein Teenager und eine Enddreißigerin verbringen eine Nacht auf hoher See: Aus Catherine Breillats wenig beachtetem Film spricht eine Zärtlichkeit, die der sonst so strengen Regie widersteht.

Die erste Einstellung zeigt einen Parkplatz bei wolkenverhangenem Wetter; aus dem Off hört man Möwen, wir sind also am Meer. Thomas (Gilles Guillain) hechtet mit seiner Reisetasche durch die Totale zum Terminal hin und sieht dabei so bedröppelt wie ein Schuljunge aus, der morgens dem abfahrenden Bus hinterher rennt. Auch sein Pass ist ziemlich ramponiert, als er ihn hektisch und begleitet von Flüchen endlich herausgekramt hat. Aber die Dame am Gate ist gnädig und lässt ihn noch durch die Schleuse. Die Fähre, die Le Havre mit dem britischen Portsmouth verbindet, fährt gemächlicher, als es der Filmtitel verspricht. Der etwas verdatterte Teenager ist hier bis zum nächsten Morgen auf sich gestellt. Was bis dahin auf hoher See passiert, davon muss die alltägliche, gewohnte Umgebung nichts erfahren.

Ein Ort der Möglichkeit

Und so lässt sich das Glück herausfordern, ein paar Stunden für eine besondere Erinnerung: Während Thomas in der Schiffskantine gierig sein Tablett mit Softdrinks, Roastbeef und Crème brûlée vollstellt, lernt er die reserviert wirkende Alice (Sarah Pratt) kennen. Eine rothaarige, blasse Frau mit stechend blauen Augen, schätzungsweise Ende dreißig. Thomas sagt ihr, er sei achtzehn, aber später kommt raus, er ist erst sechzehn. Die Lüge tut der Anziehung zwischen den beiden keinen Abbruch, und spätestens als er vom Englischen, das er nur holprig beherrscht, unverhofft ins Französische überwechseln kann, bekommt der vormals Verschüchterte mit dem wenig charismatischen Gesicht und der funktionalen Kurzhaarfrisur etwas Lässiges, Offensives. War er anfangs den direkten, selbst für den Zuschauer quälend langen Blicken von Alice noch ausgewichen, fängt er in der Schiffsdisco an, von Cola auf Bier umzusteigen und rhythmisch ihren Arm zu streicheln.

Kurze Überfahrt (Breve traversée) ist in erster Linie an der Oberfläche seiner Figuren interessiert, nicht so sehr daran, wofür ihr Inneres ideell stehen kann. Gerade Alice lässt sich sowieso kaum auf einen Begriff bringen. Sie ist sehnsüchtig, zurückweisend, direkt, unnahbar, einfühlsam und unehrlich zugleich. Einmal berichtet sie von einer gescheiterten Beziehung, klärt Thomas fast mütterlich darüber auf, dass das Erwachsenenleben Enttäuschungen birgt, vor allem wegen der Männer, den geborenen Bürokratenseelen, denen früh die Haare ausfallen und die gern ein bisschen Macht (über die Frauen) ausüben. „Gibt es nicht auch gute?“, fragt Thomas, „Vielleicht sehr junge, die, die noch Poesie haben, wie Mädchen“, ist die rätselhafte Antwort.

Die Sprache der Körper

Die Körper von Thomas und Alice sind da viel greifbarer, sie erzählen im Grunde stets die Wahrheit. Bevor wir beide etwas sprechen hören, sind sie bereits durch ihre Erscheinung eingeführt: der keuchende, pubertär-schusselige Thomas, der fast sein Schiff verpasst. Alices lange, nicht direkt einem Alter zuzuordnenden Beine im Detail, die zusammen mit den schlichten Absatzschuhen eine gewisse Selbstsicherheit und Gesetztheit ausstrahlen.

Es ist ein unaufgeregtes, mehr erkundendes als immersives Körperkino, in dem Sprache und Körpersprache nicht zusammenkommen. Was gesagt wird, scheint weniger bedeutend zu sein als die Art, wie es gesagt wird, von welchen Regungen es begleitet ist. Alice gesteht Thomas beim Tanzen: „Ich mag solche, die mir wehtun.“ Doch die Körper bestätigen sich gegenseitig ihre Sanftheit, streichen über die Haut. Die Kamera ist oft nah dran. Sie registriert diese Momente in ihrem leicht wackeligen Bildkader genau, folgt den Figuren auch sonst durch die Gänge, als wäre sie selbst eine Passagierin. Der Film organisiert sich konsequent um Szenen, die das sinnliche Vorantasten der beiden ins Zentrum rücken, während in der Peripherie Menschen trinken, essen, rauchen und tanzen. Die Blickwechsel und das mimische Taktieren beim Smalltalk, schließlich das kaum rhythmische Auf-und-Ab der übereinanderliegenden Leiber in Alices schummriger Schiffs-Suite: all das hat mehr (Aussage-)Kraft als jedes Statement, das die beiden über das Leben, das Alter oder die Männer treffen.

Seitenblicke

Verglichen mit den Filmen, die Catherine Breillat in den Jahren zuvor und danach drehte, ist Kurze Überfahrt (2001) eher unbeachtet geblieben. Das mag auch daran liegen, dass es ein unscheinbarer, ein im besten Sinne wenig bedeutsamer Film geworden ist. Ein Film, der stärker der Welt zugewandt scheint als ihre düsteren, von kompromisslosem Begehren und theatral arrangierter Körperlichkeit durchzogenen Parabeln Romance (1999) und Anatomie de l'enfer (2004). Und auch einer, bei dem Sex und Gewalt keine so unentwirrbare Einheit bilden wie etwa bei Meine Schwester (À ma sœur!) (2001).

Kurze Überfahrt ist zärtlich – und er ist weniger kontrolliert, als man es sonst von der strengen Regie Breillats gewohnt ist. Er zeigt eine Welt, die man als die eigene erkennt, und lässt sein romantisches Paar so reden, dass es nicht rezitiert erscheint. Während Romance und Anatomie de l'enfer in einem gespenstischen, liebes- und todessehnsüchtigen Parallelkosmos angesiedelt sind, ist die Fährfahrt von Le Havre nach Portsmouth zwar auch ein hermetischer Zeit-Raum, aber in ihm gibt es doch eine aufgeschnappte Realität, eine Gegenwart. Klamotten und Spielautomaten, Zaubershows und House-Music der besagten, etwas deprimierenden Schiffsdisco zum Beispiel.

Die Story fordert nicht einen bestimmten Filmraum ein, sondern der Raum legt so eine Story nah. Das erinnert, auch wegen der Ruhe, mit der diese Begegnungen eingefangen werden, an die zeitnah entstandenen Filme der sogenannten Berliner Schule: an die langen, stets von Körpern her gedachten Dialogszenen in Angela Schanelecs Mein langsames Leben (2001), auch an den Schulhotel-Naturalismus von Henner Wincklers Klassenfahrt (2002). Und dann ist da noch der Verzicht auf Bildsymboliken, die in anderen Breillat-Filme hier und da etwas arg literarisieren: In Kurze Überfahrt ist das dunkle Meer, das das Schiff umgibt und das ungleiche Paar aneinander bindet, tatsächlich einfach nur das Meer.

Zur Einführung unserer Catherine-Breillat-Reihe geht es hier.

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