Über ein zerfallendes Imperium, deutsches Sicherheitsverständnis und Brüsseler Denkwürdigkeiten

Nach ihrem Ausscheiden aus dem diplomatischen Dienst der USA sprach Politico mit Victoria Nuland. Man muss Nuland nicht vorstellen. Sie gehörte zu den mächtigsten Frauen in der US-Außenpolitik, und sie war sich ihres Einflusses voll bewusst. Sie war überall dabei, wenn Weltgeschichte geschrieben wurde: im Irak, bei der Nato, im Kampf um die Ukraine. Sie ist eine typische Repräsentantin der US-Hegemonie, ein weiblicher „Falke“, im demokratischen und republikanischen Establishment gleichermaßen zu Hause.

Uneingeschränkte Bekanntheit erreichte Nuland wegen ihrer eindeutigen Parteinahme für den Maidan und eine neue pro-westliche ukrainische Regierung. Während sie öffentlich Küchlein verteilte, gehörte sie zu den Strippenzieherinnen des Umsturzes. Mit ihrem Kollegen, dem damaligen US-Botschafter Pyatt, besprach sie Anfang Februar 2014, wer die neue ukrainische Regierung führen sollte (Jazeniuk), bzw. wer nicht ins vorgesehene Team passt (Klitschko). In dem Zusammenhang fiel ihr berühmter Ausspruch von „Fuck the EU“.

Ein Sack Katzen

Nur weil das öffentlich wurde, maulte man in der EU ein bisschen. Nulands Karriere schadete es hingegen nicht. Ein Artikel in Foreign Policy 2015 hob hervor, dass die gleichen Merkmale, die im Fall Nuland in der EU für Irritationen und Skepsis sorgten oder in Moskau auf Ablehnung stießen, in Washington eine Quelle der Begeisterung für „Toria“ waren. „Toria“, das Herz auf dem rechten imperialen Fleck, sprachlich brilliant, hielt von Diplomatie herzlich wenig und von der EU nicht sehr viel mehr. Die wäre wie einen „Sack Flöhe hüten“, wie sie im Kongress erklärte. (Ich lasse dahingestellt, dass dieses Idiom im Englischen mit Katzen bestückt ist.)

Kurzum, man kann sich „Toria“, die -laut Foreign Policy 2015- den italienischen Ministerpräsidenten Renzi auf seinen Platz verwies, durchaus vorstellen wie eine moderne Version eines sowjetischen T 34, (Wikipedia: einfach gebaut, aber robust und kampfüberlegen im Zweiten Weltkrieg), nur in weiblicher Verpackung und mit globalem Aktionsrahmen.

Pflichtlektüre

Egal, wie man Nulands Lebensleistung beurteilt, ihr genau zuzuhören, macht nicht dümmer. Dank Politico gelang ein Interview, das man außenpolitisch Interessierten nur wärmstens ans Herz legen kann. Für alle, die in der EU politische oder mediale Verantwortung tragen, würde ich sogar noch weitergehen. Es sollte eine Pflichtlektüre sein, damit sie verstehen, wie das US-Imperium tickt: Es kreist allein um sich selbst. Alliierte sind dafür da, dass die USA nicht alles alleine machen müssen, um das sicherzustellen, was den USA nutzt.

Politico fragte Nuland, was sie rückblickend beruflich bedauere. Nuland antwortete, sie hätte gerne noch so viel mehr gemacht. Sie beschreibt das Ziel ihrer Arbeit: die Absicherung einer starken US-Führungsrolle „auf so vielen Kontinenten wie möglich“. Aber immer fehlten Zeit, Ressourcen, und obendrauf kamen auch noch Krisen. Sie liebte, was sie tat.

Hätten die USA im Frühling 2022 nicht mehr Druck auf die Ukraine ausüben sollen, um zu einem verhandelten Kriegsende zu komme, fragte Politico. Nein, erwiderte Frau Nuland. Damals sei die Ukraine „zu schwach“ für ein gutes Verhandlungsergebnis gewesen. Auch heute wäre sie dafür zu schwach.

Damit haben wir nun eine neue Version der gescheiterten Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland im Frühjahr 2022: eine von Nuland, die überdies behauptete, dass Putin sowieso keine Verhandlungsergebnisse will („rope-a-dope-Verhandlungstaktik“), eine von Boris Johnson (Sieg!), eine vieler ukrainischer Stimmen und eine, die den ukrainischen Stimmen recht nahekommt und die Verantwortung für das Scheitern dieser Verhandlungen beim Westen ablädt.

Unerschütterlich vertritt Nuland die Überzeugung, dass die Ukraine den Krieg gewinnen wird. Strategisch hätte Putin schon verloren. Er hätte die Ukraine „platt“ machen wollen, was nicht gelungen sei. Die Ukraine kann siegen, stärker, europäischer und unabhängiger aus dem Krieg hervorgehen, so Nuland. Wenn die USA und die Alliierten nur weiter fest an ihrer Seite stehen. Lediglich bei der Definition eines ukrainischen Sieges geriet sie etwas in Schwimmen. Gehört nun die Rückeroberung der Krim zu den Kriterien eines Sieges der Ukraine? Jedenfalls, so Nuland, müsse die Krim entmilitarisiert werden, damit sie kein „Dolch mehr im Herzen Kiews“ sein kann. Die russische Armee müsse sich aus der Ukraine zurückziehen.

Nulands ambitionierte Vorstellung ist, dass sich Nato und Ukraine gemeinsam so entwickeln, dass sie Russland und China in jeder Hinsicht, auch kriegswirtschaftlich, übertrumpfen. Strategische Waffenpositionierungen in der Ukraine gehören dazu. Das klingt nebensächlich, war aber Gegenstand eines Gesprächs zwischen Putin und Biden Ende Dezember 2021. Nein, versicherte Biden, in der Ukraine würden keine strategischen Waffen positioniert werden. Davon war wenig später nie wieder die Rede. Noch später, 2024 beschwerte sich Lawrow über diese westliche Position.

Für die EU-Europäer fand Nuland ebenfalls gute Worte gegenüber Politico. Sie täten schon soviel für die Ukraine, mehr als die USA. Aber sie müssten noch ihre Politik gegenüber China ändern, den USA bei Haiti helfen und in Afrika auch…

Was hätten die USA falsch gemacht, wenn es um Russland und China ginge, fragte Politico. Nuland berichtet von den guten Absichten der USA, beide Länder in die offene und freie globale Ordnung „einzustricken“, die so vorteilhaft ist für die USA. Dadurch hätten beide Länder Wohlstand erreichen und zu „beitragenden“ Mitgliedern dieser Ordnung werden können. Allerdings wollten die das nicht nur nicht, sondern hätten ihren Bevölkerungen eingeredet, dass das nicht ihrem rechtmäßigen Platz in der globalen Ordnung entspräche, der mit territorialen Ambitionen einherginge. Kurzum, die US haben sich möglicherweise mit ihren guten Ambitionen verschätzt.

Diplomatie und Gespräche seien immer wichtig, so Nuland, aber wenn die Ideologie so anders ist, so illiberal und expansionistisch und gegen die Ordnung gerichtet ist, von der die USA profitieren, dann muss man Maßnahmen treffen, um sich und seine Verbündeten zu schützen, einschließlich der Ukraine. Denn die ist nur das erste Ziel des expansiven Russlands.

Mars und Venus

Nuland ist die Ehefrau eines anderen Neokonservativen in den USA, Robert Kagan, der 2002 öffentlich darüber philosophierte, dass das Weltbild der USA und der EU so verschieden sei wie Mars und Venus. Die EU glaube an die Kraft des Rechts und internationaler Kooperation, die USA dagegen betrachteten die Welt als chaotischen Platz, was notwendig macht, gelegentlich auch mit schierer militärischer Gewalt zu demonstrieren, „wer der Boss ist“. Diese Unterschiede ließen sich nicht wegdiskutieren.

Aber wie präsentierte Kagan damals seinen Befund? Er startete mit den hingebungsvollen Bemühungen des US-Präsidenten, die von ihm beschriebene große Kluft zu überbrücken. Politico wählte es prompt als Unterzeile. Die USA bemühten sich, aber die EU-Europäer…

So wirft man erfolgreich imperiale Nebelkerzen. In der modernen Version bemühten sich Nato, EU, USA, EU-Mitgliedstaaten ebenfalls so lange so treuherzig um Russland, aber wie haben das die bösen Russen vergolten?

Tatsächlich hatten zum Zeitpunkt 2002, als Kagan einen Dissens konstatierte, die USA die europäischen Nato-Verbündeten längst in ihr Konzept verstrickt, dass die Nato zu mehr berufen war als nur zur transatlantischen Verteidigung. Sie sollte global agieren können, dort, „wo sie gebraucht werde“, wolkig umschrieben mit dem „volle(n) Spektrum der Allianzaufgaben, einschließlich der kollektiven Verteidigung“. (Vgl. unter anderem Ziffer 5 des Prager Beschlusses.)

In Prag wurde die zweite Nato-Erweiterung beschlossen, die Schnelle Eingreiftruppe geschaffen, und, was häufig übersehen wird, die Nato-Partner ließen der USA die einseitige Kündigung des ABM-Vertrags 2001 kritiklos durchgehen. Ziffer 4 des Prager Dokuments enthält ein allgemeines Bekenntnis zur Wichtigkeit bestehender Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträge. Da war der ABM-Vertrag schon Geschichte. So wurde – völlig geräuschlos – die erste große Tür zum erneuten Rüstungswettlauf geöffnet.

Das einzige US-Problem damals, wenn auch kein kleines, waren die wankelmütigen Deutschen und Franzosen in Sachen Irak-Krieg. Der damalige Bundesverteidigungsminister Struck erklärte im Deutschlandfunk im Vorfeld des Prager- Gipfels (20.11.2002), die Nato würde gewiss auch ein Bekenntnis zur UN-Resolution 1441 in Sachen Irak abgeben.

Der Gipfel sagte nichts.

Die USA hatten andere Pläne und schusterten die „Koalition der Willigen“ zusammen. Im erwähnten Struck-Interview des Deutschlandfunks schwang die Sorge des Moderators (Meurer) mit, Deutschland sei (wegen der ablehnenden Haltung zum Irak-Krieg) womöglich ein „schwarzes Schaf“ (so im Manuskript). Heute käme niemand mehr auf die Idee, Bundesminister Pistorius auch nur zu fragen, ob er sich als „schwarzes Schaf“ in der Nato fühle. Soweit es Deutschland betrifft, ist das Schaf woll-weiß und himmelt den Leithammel an.

Dem Publikum an der Johns-Hopkins-Universität erklärte Pistorius die Gründe in englischer Rede unlängst wie folgt: „Wir Deutschen werden uns immer daran erinnern, was die USA für uns während der Luftbrücke taten. Wir werde uns immer an ihre Anstrengungen in den Jahrzehnten danach erinnern, als die Freiheit an der Nato-Ostflanke verteidigt werden musste, und als diese Flanke wir waren, Westdeutschland… Die Nato-Alliierten waren da (Anmerkung: Bezug auf Niedersachsen), um Deutschland vor der sowjetischen Bedrohung zu verteidigen. Sie waren da, um unsere Sicherheit zu ihrer Sicherheit zu machen.“ So wird Geschichte glattgebügelt und das Wesen der Nato verniedlicht.

Pistorius pries die US-Vorreiterrolle für ein „freies und geeintes“ Europa, zu dem, das ergibt sich aus der Gesamtrede, Russland definitiv nicht gehört, nie gehört hat und auf absehbare Zeit auch nicht gehören wird, denn dieses Russland ist ein Feind. Den man, so verstand jedenfalls Lawrow im April 2024 ein deutsches Politikziel, „vernichten“ will.

Worst Case denken

Pistorius erläuterte in den USA auch, wie man Sicherheitsdenken zu verstehen habe: „Einem alten Sprichwort zufolge bedeutet der Umgang mit der Sicherheit des eigenen Landes, immer vom Schlimmsten auszugehen. Verteidigung zu denken bedeutet, in worst-case-Szenarien zu denken.”

Dann aber verfiel er in die „Zeitenwende“-Rhetorik, an der Kagan oder Nuland ihre helle Freude haben müssten: Das neue „Zeitenwende“-Deutschland büxt aus dem US-geführten Konvoi nicht aus. Es bettelt allerdings um Genehmigung für ein bisschen europäische Führungsrolle. Schließlich sähe das neue Deutschland die 2-Prozent-Verpflichtung im Rahmen der Nato nicht mehr als zu erreichende Obergrenze, sondern als das Minimum an.

Von diesen Steuermilliarden fließt ein schöner großer Batzen direkt in die USA.

Darf man von einem deutschen Verteidigungsminister erwarten, dass er die selbst postulierte Natur des Sicherheitsdenkens versteht, durchdekliniert und dann Schlussfolgerungen zieht? Ich denke schon. Das beginnt allerdings mit der Frage, was der „worst case“ ist.

Die Antwort darauf ist im nuklearen Zeitalter seit Jahrzehnten immer dieselbe: Der schlimmstmögliche Fall ist das Ende der menschlichen Zivilisation, darunter wegen eines ausufernden Krieges, der im nuklearen Weltenbrand mündet. Es ist noch nicht ausgemacht, dass der aktuell tobende Stellvertreterkrieg in der Ukraine nicht völlig außer Kontrolle gerät.

Pax americana und die sie stützende Propaganda verhindern nach wie vor zuverlässig, dass die Wurzel des Krieges um die Ukraine korrekt benannt wird: die Abwesenheit einer inklusiven transatlantischen Sicherheitsarchitektur, die von Pazifik zu Pazifik reicht, also von Vancouver bis Wladiwostok. So sollte sie nach 1990 gebaut werden. Das wurde von den USA aus Gründen ihrer Dominanz in Europa hintertrieben. Deutschland und die EU haben das durchgehen lassen, wenn nicht sogar aktiv unterstützt.

Man kann es aber auch mit den Worten von John Pilger beschreiben, der 2014 im Guardian prophezeite, dass die USA mit ihrer Ukraine-Politik „uns in den Krieg mit Russland ziehen“: Wenn Putin in der Ukraine den ethnischen Russen zu Hilfe eilen sollte, dann wird dessen vorfabrizierter Paria-Status dazu führen, dass es zu einem Guerilla-Krieg kommt, der auf Russland übergreift, so Pilger damals.

Pilger erinnerte in dem Zusammenhang an die Sequenz der Ereignisse, die mit dem westlich gestützten Putsch in der Ukraine 2014 ins Rollen kamen. Er erinnerte ebenfalls daran, dass Russland im Anschluss zwar nach der Krim, aber nicht nach dem Donbass griff und dessen Unabhängigkeit nicht unterstützte.

Die imperiale Natur des Feiindes

All das wird nicht erzählt, denn das Imperium redet lieber von der imperialen Natur des Feindes, um die eigene unsichtbar zu machen. Eine interessante Studie zur propagandistischen Begleitung des Krieges in der Ukraine seit 2022 lieferte Florian Zollmann, Newcastle University, 2023. Er analysierte auch deutsche Medien.

Propagandistisch gibt es keine Nato-Mitverantwortung. Im Guardian konnte Anfang Januar 2022 nach den russischen Sicherheitsvorschlägen vom Dezember 2021 nachgelesen werden, worum es der russischen Seite ging, bevor sie zum militärischen Mittel griff: Es ging um die Rückgängigmachung bereits erfolgter militärischen Positionierungen der Nato, und um den Ausschluss ihres weiteren Vorrückens mit militärischen Strukturen (d.h. Stützpunkte, Waffenstationierungen) auf das Territorium der Ukraine. Das sind, frei nach Pistorius, harte Sicherheitsinteressen (aus Moskauer Sicht), über die die Nato „selbstverständlich“ (Nato-Generalsekretär) nicht verhandelte.

Das widerspiegelt das wirkliche Nato-Problem. Dem Vertrag nach ist sie eine gute Institution, der UN-Charta und der Konfliktlösung verpflichtet. In der Realität schert sie das alles nicht. In der Realität ist sie Teil der Absicherung der US-Hegemonie in Europa. Das ist, wie es in einer sehr bemerkenswerten Analyse der CIA 1990 formuliert wurde, ihre „raison d’être“.

Selbstverständlich formulierte der Guardian die russischen Sicherheitsbedürfnisse eleganter: Es regiere seit langem in Moskau ein „Gefühl“, im Zuge der deutschen Einigung mit falschen Versprechungen „betrogen“ worden zu sein. Das spiele bis heute eine Rolle. Solange man das auf der psychologischen Ebene hält, lässt sich alles abtun, denn schließlich empfiehlt sich bei gestörten Gefühlshaushalten allenfalls der Gang zum Psychiater. Das andere Nato-Argument lautet in der Regel, dass nichts Schriftliches existiere. Überhaupt, die Russen waren 1990 sehr schwach auf der Brust und gut aus deutscher Kasse bezahlt worden.

Verlierer der Geschichte sollten froh sein, falls wir Interessen berücksichtigen

Nach der imperialen Logik verfuhren die USA bzw. die Nato mit Russland ab 1990 ganz konsequent: Verlierer der Geschichte sollten froh sein, falls wir Interessen berücksichtigen, aber nur die, die uns in den Kram passen. Im Übrigen gilt: Klappe halten und kuschen.

Wie schön wäre es doch gewesen, wenn Russland im Gefolge der Auflösung der Sowjetunion sich in den Niedergang der 90er Jahre ergeben, schlussendlich seine Massenvernichtungswaffen den USA abgeliefert und sich das Halsband eines Washingtoner Pudels hätte umlegen lassen. Natürlich hätte das der Westen vornehm als „Junior-Partnerschaft“ bezeichnet. In der diplomatischen Diktion wäre von „Zusammenarbeit auf Gebieten von gegenseitigem Interesse“ die Rede gewesen. Und ökonomisch wären die Lieferungen von Gas, Öl und neuerdings auch Getreide kein Problem mehr. Ressourcenverfügung ist nur dann ein imperiales Problem, wenn sie in „feindlicher Hand“ liegt.

Aber so lief es leider nicht, und das ist ein andauerndes imperiales Ärgernis, das durch die Russland-China-Allianz, die BRICS, und die Schar der vielen neuerdings Aufmüpfigen nicht kleiner wird. Da ist es schon gut, wenn Deutschland, so „unverbrüchlich“ wie in Sachen Ukraine, fest an der Seite der USA steht. Egal, wie rückwärtsgerichtet das ist, und was es an realer Sicherheit und realem Wohlstand kostet.

Unfähig für verlässliche Sicherheit zu sorgen

Für die, die sehen wollen, ist längst eindeutig, dass die USA weder im Alleingang noch unterstützt durch ihre Alliierten die Fähigkeit und die Mittel haben, weltweit dafür zu sorgen, dass verlässliche Sicherheit entsteht. Da mag sich der deutsche Verteidigungsminister noch so sehr rühmen, dass nun auch ein deutsches Schiff im Roten Meer gegen die Huthi mitschwimmt oder eins im asiatisch-pazifischen Raum den Chinesen die gelbe Karte zeigen will.

Mit militärischen Mitteln ist nichts mehr lösbar. Das demonstrieren die Ukraine-Ereignisse, die Gaza-Ereignisse. Alles führt ungebremst lediglich zu weiterer Unsicherheit und Eskalation. Man darf gespannt sein, wann es sich den vielen westlichen Oraklern vom militärischen Siegeszug der Ukraine ins Hirn schleichen wird, dass die Strategie, Russland dauerhaft zu schwächen, wenn nicht gar zu zertrümmern, nicht aufgeht. Sie sind ja längst mit ihren eigenen Widersprüchen konfrontiert.

Reaktive Wahrnehmungs- und Handlungsfalle

Von Oraklern muss man sprechen, denn die westliche Politik operiert schon lange nicht mehr mit gesicherten Einschätzungen zu russischen Interessenlagen bzw. Sichtweisen. So etwas gründet sich in der Regel auf intensive Kontakte auf allen Ebenen und durch die verschiedensten Gesprächskanäle, ob nun offen oder verdeckt. Man muss ein Land verstehen, seine Geschichte, die Kultur, die Sprache. Das ist das Mindeste. Sonst mutmaßt man lediglich, liest aus Teeblättern und entscheidet mithilfe der Wünschelrute. Verstehen zu wollen, ist längst „verboten“, vermintes Terrain. So haben wir uns selbst in eine reaktive Wahrnehmungs- und Handlungsfalle eingesperrt, die allenfalls Phantasien erlaubt, ins Unendliche zu wuchern. Nur, auf Luftschlösser lässt sich solide Politik nicht gründen.

Die Gefahr von folgenschweren Fehleinschätzungen ist sehr groß. Diejenigen, die glaubten, China bzw. Russland ausreden zu können, aufeinander zu bauen, dürften, falls der Realitätsverlust noch nicht irreparabel geworden ist, den jüngste Putin-Besuch in China mit Entsetzen verfolgt haben: Diese Allianz hält. Sie weiß, was sie will. Die US-Hegemonie gehört nicht dazu. Und sie hat Ressourcen, nicht zu knapp. So war das westlich nie geplant gewesen, nicht wahr?

Obendrauf kommt zu allem Überfluss noch die absichtliche Verzerrung von politisch Erklärtem. Das begann lange vor dem Ukraine-Krieg, aber führte in dessen Fall zur falschen Kriegserzählung. Es mag propagandistisch glatt von der Zunge gehen, aber reale Kriege lassen sich nicht gewinnen, wenn man sie nicht versteht. Das gilt allerdings auch ganz generell. Trottel sind nur sympathische Tölpel oder zum Schreien komisch, wenn sie filmisch genial in Szene gesetzt werden, so wie die gute alte „Olsenbande“, ein Trio immer neuer großer Ansprüche und ewigen Scheiterns. Dieses Trio hatte allerdings im Westen Deutschlands oder in großen Teilen des westlichen Europas nie die Fangemeinde wie etwa in der DDR. Ich ahne langsam, warum.

Blinken schloss aus der Rede von Putin vom 21. 2.2022, das ganze Nato-Gejammere der Russen sei nur ein Vorwand, es ginge in Wahrheit um die Zerschlagung der ukrainischen Staatlichkeit. Der ukrainische Außenminister Kuleba erklärte, die russische Absicht sei klar erkennbar die Vernichtung der Ukraine.

Allein, Putins Rede vom 21. Februar 2022 beinhaltete weder explizit noch implizit die Absicht, die Ukraine zu vernichten. Sie enthielt lange Elogen über die russische Wahrnehmung der Ukraine und noch längere Elogen darüber, dass die Ukraine unter westlicher Kontrolle stünde und zum Nato-Aufmarschgebiet gegen Russland werden könnte. Sie enthielt ebenfalls klare Aussagen, dass Russland (vergeblich) Hoffnungen auf das Minsk-II-Abkommen setzte. Putin erwähnte auch, dass die Ukraine kein Land hinter dem Mond ist, sondern durchaus über die Fähigkeiten verfügt, sich mit Atomwaffen auszustatten. Die Fundamente dafür stammten aus der Zeit der Sowjetunion. Wenn dazu noch technologische Hilfe aus dem Ausland käme, ginge es schneller. Doch wer liest schon nach, wenn berufene Münder kommentieren?

Mit fortschreitendem Krieg verändern sich auch Kriegsziele. Lawrow machte das im erwähnten Interview 2024 selbstbewusst deutlich: Wer aus der Ukraine zur „russischen Welt“ gehören will, wird willkommen sein. Die Westukraine zählt nicht dazu. Noch sind die Schicksale von Odessa oder Charkiw, glaubt man Putin, nicht entschieden. Wer das kriegerisch auskämpfen will, beteiligt sich aktiv an der weiteren Amputation der Ukraine.

In gewisser Weise wiederholte Putin im Februar 2022 in Bezug auf die Nato nur, was er schon 2001 in einer Begegnung mit dem US-Präsidenten fragte, und was immer unbeantwortet blieb: Warum rückt die Nato mit ihren militärischen Strukturen immer näher an unsere Grenzen?

Der US-Publizist Jonathan Rauch bezog sich darauf in einem Artikel im Atlantic und schlussfolgerte, das Dilemma ließe sich nicht mit Worten lösen, sondern allein durch die Nato-Inklusion Russlands.

Denn eine militärische Allianz ist kein Kaffeekränzchen, sondern funktioniert so, wie das der Bundesverteidigungsminister an der Johns Hopkins University erklärte, nach dem „worst case-Verfahren”. Nur das funktioniert spiegelbildlich auf der russischen Seite und inzwischen auf der russisch-chinesischen Seite auch.

Was die politische Ost-West-Gemengelage extrem gefährlich macht, ist das Mantra, dass die Russen (Putin) lügen, wenn sie nur den Mund aufmachen. Zudem sei Russland (auch China) ein Hort ständiger Desinformation, mit einer strategischen Absicht: den Westen zu spalten, zu schwächen, zu unterminieren. Vernünftigerweise müsste man unter solchen Umständen, wären sie real, einfach nur weghören, wenn die russische Politik spricht. Lass sie reden, der Tag ist lang. Aber das geht auch wieder nicht, denn gleichzeitig soll angeprangert werden, was russischen Mündern entfleucht – im Kampf gegen die russische Desinformation, im Bemühen um Meinungshoheit. Das führt regelrecht in den Irrsinn.

Ist nun Putin, trotz gegenteiliger Erklärungen, verhandlungsunwillig? Was besprachen im Frühling 2022 Scholz und Macron mit Putin, Bennet oder Selenskyj?

Wie soll man damit umgehen, wenn russische Stimmen drohen, Soldaten aus Nato-Staaten, die sich kämpfend in der Ukraine aufhalten sollten, allenfalls im Leichensack zurückzuschicken? Lügen die?

Was ist davon zu halten, wenn die russische Seite deutlich macht, dass Waffen auf russische Ziele, die vom Nato-Territorium aufsteigen sollten, zu nicht angekündigten militärischen Vergeltungsmaßnahmen gegen den betreffenden Staat führen würden?

Wahrheit oder Lüge? Erpressung oder Abschreckung im nuklearen Abschreckungsduell?

Die Idee, die jetzt einigen Bundesabgeordneten aus fast allen Parteien durchs Hirn spukt, man könnte anfliegende russische Raketen über der Ukraine vom Nato-Territorium aus abschießen, genauer gesagt von Rumänien und Polen aus, entstand im April 2024 in Polen. Dann kam der deutsche Militärfachmann Nico Lange auf dieselbe Idee.

Denn schließlich hat die Nato militärische Möglichkeiten in Rumänien und Polen. Bis dato galten die US-Installationen angeblich der Abwehr einer Bedrohung durch den Iran. Die russischen Verdächtigungen, dass sich alles auch gen Osten umfunktionieren ließe, galten lange, wie könnte es anders sein, als „Hirngespinste“, russische Paranoia. Rein geographisch kämen für solche „Unterstützungsmaßnahmen“ auch die Slowakei und Ungarn in Frage. Aber über die redet keiner. Liegt das nur daran, dass deren aktuelle Russland-Politik nicht auf Nato-Kurs ist? Sollten F-16 der Nato von Nato-Boden starten, um für die Ukraine zu fliegen, denn wird Russland sie behandeln, als wären sie atomar bestückt. So lautete jedenfalls die russische Ankündigung. Und nun?

Sollten Raketen von Nato-Gebiet gegen russische Marschflugkörper abgefeuert werden, um über der Ukraine russische Angriffe zu vereiteln, würden diese Basen zum russischen Ziel. Militärische Entscheidungszentren ebenfalls. So jedenfalls hört man das aus Russland. Nach dem China-Besuch ließ Putin wissen, dass er nicht über russische Reaktionen spekuliere. Er werde auf der Basis von Realitäten handeln.

Wollen wir also jetzt abzählen, wie das früher mit Gänseblümchen gemacht wurde: Er tut es, er tut es nicht…

Mit deutscher oder europäischer Sicherheit nichts zu tun

Mit Sicherheit haben die neuen Schnapsideen, ein bisschen mehr im Krieg mitzumischen, mit deutscher oder europäischer Sicherheit nichts tun, und mit dem Friedensgebot des Grundgesetzes sowieso nicht. Sie demonstrieren lediglich, das Krieg und Kriegsbereitschaft noch mehr Krieg gebären und militärisches Abenteuertum floriert. Zugegeben, „forsche“ Auftritte, markige Sprüche sind wie eine Handelsmarke und erhöhen den politischen Wiedererkennungswert. Botschafter Melnyk beherrschte das Geschäft in dieser Hinsicht perfekt. Sie sind auch ein Gesundbrunnen für Medien. Immer neue Aufreger-Themen schaffen Nachrichten, Aufmerksamkeit und, wie könnte es anders sein, Einnahmen. Aber in der Welt eines Stellvertreterkriegs, der entarten kann, gibt es ebenfalls reale Auswirkungen, und die können unwiderruflich zerstörerisch sein, mit Strömen von Blut und Tränen. Die Reue darüber kommt immer zu spät.

Mel Gurtov, US-Politologe und ehemaliger RAND Corporation Mitarbeiter erinnerte 2007 an die klassische Definition von Fanatismus, die auch auf falsch verstandene nationale Sicherheit zuträfe. Mit immer mehr Aufwand wird Schimären nachgejagt.

Ist es ein vernünftiges Ziel, der Welt unentwegt zeigen zu wollen, „wer der Boss ist“?

Aber, und das unterscheidet Victoria Nuland von den allermeisten Westeuropäern, und das muss man ihr neidlos lassen, sie ist eine höchst stringente Denkerin. Das teilt sie im übrigen mit Putin und Xi, die erneut in Peking zeigten, dass auch ihre Weltsicht kohärent ist. Sie ist allerdings diametral anders als die der Victoria Nuland.

Politisch muss deshalb gewählt werden, wie dieser große Konflikt gelöst wird: „Nur“ im Stellvertreterkrieg und in europäischer Eiszeit, durch „heißen“ Krieg, der, wenn er beginnt, ins Atomare führt, oder durch politische Verständigung. So, wie ich das sehe, teilen die USA, Russland und China zumindest noch auf Führungsebene die Auffassung, dass es keinen direkten „heißen“ Krieg geben soll. So lebensmüde ist unter den dreien (noch) niemand. Darunter ist alles in jede Richtung offen.

Aber Politik ist, wie auch Nuland hervorhob, ein menschliches Geschäft. Personen spielen eine Rolle. Ergo ist nichts, was Menschenwerk angeht, „idiotensicher“.

Die aktuelle EU dagegen glänzt mit gar nichts.

Borrell, seines Zeichens EU-Chefdiplomat, lieferte jüngst in Oxford dafür einen neuerlichen Beweis. Er stellte das Ende der US-Hegemonie fest, aber zeigte sich gleichzeitig entschlossen, die Verankerung der USA in Europa nun durch mehr EU-Eigenverantwortung in der Nato zu stützen. So blieb er ganz der Vasall, der sich mit Billigung des Meisters mehr engagiert.

Im Übrigen las sich Borrels Rede in Teilen wie eine EU-Bankrotterklärung. Sein Lamento: Die EU ist auf die Härte der gegenwärtigen Zeit nicht vorbereitet. Sie kann sterben. Sie wollte doch einen Ring von Freunden um sich, und siehe, überall ist nur Feuer, und irgendwie ist die EU an dem ganzen Debakel auch ein bisschen schuld.

Es gab zudem durchaus frappante Rede-Passagen: In der Corona-Zeit bewährte sich die EU, so Borrell, als damals Menschen „auf den Straßen starben“. Es gab in dieser Zeit schrecklicherweise auch kein Paracetamol in der EU. Die Kunst der Diplomatie bestünde darin, mit Doppelstandards zu jonglieren.

Borrells Ausführungen zum Israel-Gaza-Konflikt waren auch nicht ohne. Zwischen dem, was Borrell und was Berlin dazu denken, gab es von Anfang an Unterschiede. Solche Unterschiede lassen sich unter keine Fuchtel bringen, auch nicht durch Mehrheitsentscheidung. Solange sich die EU, bzw. ihre Mitglieder so gerne am Hegemon „anlehnen“ (Kramp-Karrenbauer), kann auch nur Washington den sogenannten Sack Flöhe hüten. Mit Zuckerbrot und Peitsche. Das wiederum will auch keiner wahrhaben, und deshalb konnte sich Borrell auch nicht die spitzfindige Bemerkung verkneifen, der US-Sicherheitsberater hätte die ganze Region kurz vor dem 7. Oktober 2023 noch in schönster Ordnung gesehen.

Praktischerweise ließ Borrell offen, ob sich die EU-Bewertung vor den Ereignissen am 7. Oktober 2023 fundamental von der von Sullivan unterschieden hätte. Falls die EU selbständig etwas dazu gedacht haben sollte, behielt sie es jedenfalls für sich. Was tat sie denn für die Umsetzung von UN-Resolutionen unzähliger Jahre?

Wer kann, wer soll solches Trauerspiel noch ernstnehmen? So viele Jahre schon wird die europäische Friedensidee verschludert, und das ist sträflich leichtsinnig, konzeptionslos, schlicht erbärmlich. Denn die ist wirklich „exzeptionell“. Friedman, ein anderer US-Hegemonialideologe, hätte sich nie über diesen europäischen „Exzeptionalismus“ mokiert, wenn er diese Idee nur für harmlose Spinnerei hielte. Nur was dem US-Imperium gefährlich wird, wird zur Kenntnis genommen, versetzt es in Aktivität.

So fällt mir abschließend nur eine Bilanz ein, die der verstobene US- Journalist William Blum 2018 zog. Blum war ein Sohn zugewanderter orthodoxer polnischer Juden. Das State Department verließ er aus Protest gegen den Vietnam-Krieg. Da Wikipedia nicht ausführlich über ihn berichtet, anbei ein Link zu einer Würdigung der „Washingtoner Sozialisten“ anlässlich seines Todes.

Die von Blum aufgestellte Bilanz, die das US-Verständnis von Exzeptionalismus unter die Lupe nimmt, ist im Hinblick auf die politische Einordnung aller Probleme, mit denen wir uns heute herumschlagen, aber auch für ihre mögliche Lösung von großem Wert. Ausdrücklich sei hinzugefügt, dass Blums Bilanzierung die singulären Verbrechen des deutschen Faschismus ausspart. Als US-Amerikaner mit europäischen Wurzeln übte er Kritik am realen Verhalten der eigenen Regierungen nach 1945. Solche Kritik wird nicht gern gehört oder erinnert, und dabei ist sie noch nicht einmal vollständig:

Der US-Exzeptionalismus

„Dieser Grundglaube an die guten Absichten Amerikas wird oft mit „amerikanischem Exzeptionalismus“ in Verbindung gebracht. Schauen wir uns an, wie außergewöhnlich Amerika (Anmerkung: gemeint sind die USA) war. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben die Vereinigten Staaten:

versucht, mehr als 50 ausländische Regierungen zu stürzen, von denen die meisten demokratisch gewählt wurden;

Bomben auf Menschen in mehr als 30 Ländern geworfen;

versucht, mehr als 50 ausländische Führer zu ermorden;

sich angestrengt, populistische oder nationalistische Bewegung in 20 Ländern zu unterdrücken;

sich grob in demokratische Wahlen in mindestens 30 Ländern eingemischt;

waren sie der weltweit führende Folterknecht, nicht nur durch Folterung von Ausländern durch Amerikaner, sondern auch durch die Bereitstellung von Folterausrüstung, Folterhandbüchern, Listen der zu folternden Personen und die persönliche Anleitung durch amerikanische Lehrer, insbesondere in Lateinamerika.

Das ist in der Tat außergewöhnlich. Kein anderes Land in der Geschichte kommt auch nur annähernd an eine solche Bilanz heran. Aber diese macht es mit Sicherheit sehr schwer zu glauben, dass Amerika es gut meint.“

Bei einer Feier zur Würdigung des verstorbenen Blum wurde auch ein Gospel gesungen: „May The Work I’ve Done Speak For Me“

(Möge die Arbeit, die ich getan habe, für mich sprechen… Möge das Leben, was ich führte, für mich sprechen…, und der Dienst, den ich leistete … Auch wenn alles gering schien … Wenn ich vor meinen Schöpfer trete, möge er sagen: Gut gemacht…)

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog der Autorin, mit ihrer freundlichen Genehmigung.

Über Petra Erler / Gastautorin:

Petra Erler: "Ostdeutsche, nationale, europäische und internationale Politikerfahrungen, publizistisch tätig, mehrsprachig, faktenorientiert, unvoreingenommen." Ihren Blog "Nachrichten einer Leuchtturmwärterin" finden sie bei Substack. Ihre Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit ihrer freundlichen Genehmigung.