Zeitgeschichte: Was keiner wusste - WELT
WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Welt Print
  3. Zeitgeschichte: Was keiner wusste

Welt Print Zeitgeschichte

Was keiner wusste

Mitglied der Chefredaktion WELT AM SONNTAG
Norman Goda erzählt vom Alltag der Nürnberger Kriegsverbrecher im Spandauer Gefängnis

Die Geschichte der Nürnberger Prozesse kennt jeder wenigstens in Umrissen. Doch wie steht es mit dem Leben der Verurteilten? Die meisten Zeitgenossen wissen: Sieben Kriegsverbrecher wurden in den britischen Sektor Berlins geflogen, um im ehemaligen deutschen Militärgefängnis ihre Strafen abzusitzen. Wie schaute aber ihr Alltag aus? Wieviele Besucher durften Baldur von Schirach, Karl Dönitz, Konstantin von Neurath, Erich Raeder, Albert Speer, Walther Funk und Rudolf Heß im Jahr empfangen? Saßen die Gefangenen in Einzelhaft oder waren sie in eine Großraumzelle gepfercht? Blieb ihre Behandlung über die Jahre hinweg dieselbe, oder änderte sich das Verhalten der Bewacher ihnen gegenüber? Fragen über Fragen, die nun in einem sorgfältig recherchierten Buch beantwortet werden.

Norman Goda hat es geschrieben. Der amerikanische Professor für Zeitgeschichte an der Universität von Ohio hat erstmals alle zugänglichen Akten und Archive der westlichen Alliierten durchforstet. Mit ihrer Hilfe entwirft Goda ein eindrucksvolles Bild des Spandauer Gefängnisses und seiner Insassen vom 18. Juli 1947 - dem Tag, an dem die Häftlinge ihr Quartier bezogen - bis zum Abriss des Gebäudes nach dem Tod von Rudolf Heß vierzig Jahre später.

Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Goda schreibt keine Heldengeschichte über das Martyrium der Glorreichen Sieben. Nüchtern stellt er fest: Das Spandauer Gefängnis war besser als sein Ruf. Wahrscheinlich liegt darin auch der Grund, warum Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß, mit weit über neunzig längst paranoid und lebenssatt, nicht früher starb. Unter den Augen von vier Stabsärzten - jeder der vier Siegermächte stellte einen! - und 32 Wächtern, die am Ende rund um die Uhr auf einen einzigen Greis achteten, war jede Krankheit schnell ausgemacht und konnte frühzeitig behandelt werden.

Doch Goda geht es nicht allein um die detailgetreue Charakterisierung der Haft. Spandau versinnbildlicht für ihn vor allem die Zeit des Kalten Krieges, in der das Gebäude und die gemeinsame Bewachung der Häftlinge für alle vier Siegermächte zum Garanten für die eigene Existenz in Gesamtberlin wurden. Trotz aller Kräche und Reibereien untereinander dachten weder die Russen, noch die Amerikaner, Briten und Franzosen daran, die Vier-Mächte-Verwaltung des Gefängnisses in Frage zu stellen: die westlichen Alliierten nicht, weil sie fürchteten, Moskau werde grobe Regelverstöße dazu nutzen, den Vier-Mächte-Status der Stadt zu ihren Gunsten zu brechen; und der Kreml nicht, weil er annahm, im Falle einer Eigenmächtigkeit aus Spandau und West-Berlin geworfen zu werden. Sogar die Bundesregierung, so Goda, empfand das Gefängnis als eine in Stein gehauene Sicherheit dafür, dass die West-Berliner unter dem Schutz der West-Alliierten blieben. "In bizarrer Weise trug die lange Haft von Hitlers engsten noch lebenden Mitarbeitern dazu bei, die West-Berliner vor der kommunistischen Herrschaft zu schützen. Selbst die langwierigen Verhandlungen über den Tod von Heß in den siebziger und achtziger Jahren wurden aus Angst darum geführt, dass ein Ende der Zusammenarbeit in Spandau eine neue Berlin-Krise heraufbeschwören könnte."

Auch aus diesem Grund wurde in Spandau nichts dem Zufall überlassen. Sogar über das Schicksal des Gebäudes berieten die Alliierten lange vor dem Tod des letzten Häftlings in stundenlangen Sitzungen. Das Gefängnis sollte nach dem Ableben des letzten Insassen abgerissen und seine Überreste an einem geheimen Ort auf dem britischen Militärflugplatz Gatow vergraben werden. Dort liegen sie noch heute.

Merkwürdig ist, dass die Alliierten in den ersten Nachkriegsjahren viel weniger über das Schicksal der Kriegsverbrecher nachdachten als in späterer Zeit. Goda schildert plastisch, dass die Siegermächte zwar die Verurteilung der Hitlerschen Schergen ins Auge genommen hatten, sich aber wenig Gedanken darüber machten, wie und wo diese zu internieren seien. Berlin als ehemalige Reichshauptstadt stand fest, doch an welchem Ort genau? Man kann nur von Glück sagen, dass der damalige amerikanische Stadtkommandant mit seinem Versuch scheiterte, die Pfaueninsel zu einem alliierten Alcatraz auf deutschem Boden zu verwandeln. Hätte er sich durchgesetzt, wäre das Schloss mit dem Park von Peter Joseph Lenné den Planierraupen zum Opfer gefallen. Auch das Gefängnis Plötzensee kam in die engere Auswahl. Schließlich nahmen Russen, Amerikaner, Briten und Franzosen auch davon Abstand. Sie wollten den Ort als Sinnbild für die Opfer des Widerstandes gegen Hitler, die dort ermordet worden waren, nicht schmälern. Nur Spandau blieb. Mit seinen 132 Zellen bot das Gebäude genügend Platz für die sieben Kriegsverbrecher, zu denen sich nach anfänglicher Planung weitere gesellen sollten. Doch sie kamen nie, so dass auf Betreiben der Russen einige der Räume sogar zu Operationssälen umgebaut wurden.

Spandau war dennoch kein gastlicher Ort. Die Haftbedingungen waren streng, auch wenn sie keinesfalls mit denen der Nazizeit verglichen werden können. Jeder Häftling verfügte über eine Einzelzelle mit eigener Toilette und hatte das Recht, regelmäßig zu baden. Allen Insassen stand eine eigens für sie eingerichtete Gefängnisbibliothek mit 40 000 Bänden zur Verfügung. Aus Furcht vor Selbstmorden war jede Zelle nur mit 40-Watt-Glühbirnen ausgestattet, die alle zehn Minuten abgeschaltet wurden. Keiner der Häftlinge durfte sich selbst rasieren. Täglich kam ein Friseur ins Haus. Auch der Gebrauch von Messer und Gabel war untersagt. Zweimal am Tag durchsuchten die Wärter die Zellen. Dennoch übersahen sie vieles. Jahrzehntelang gelang es Albert Speer, seine Aufzeichnungen auf Toilettenpapier zu verfassen und mit Hilfe eines holländischen Sanitäters aus dem Gefängnis zu schmuggeln. "Das ganze Leben oder zumindest mein Lebensgefühl ist seither verändert", schrieb er beglückt.

Speer war es auch, der von seiner Zelle aus die Strategie für seine vorzeitige Entlassung plante und mit Hilfe seines Kuriers seine zahlreichen Unterstützer dirigierte. Reue über die eigenen Verstrickungen empfand er nie, wie Goda anhand von Zitaten aus Speers engerer Umgebung belegt. Besonders die Russen misstrauten dem ehemaligen Reichsminister für Bewaffnung und Munition, der nach 1942 für die gesamte Kriegswirtschaft verantwortlich war. Sie fürchteten zudem, Speer könne in der Bundesrepublik politisch Karriere machen und weigerten sich, ihn früher als geboten aus der Haft zu entlassen. Nur bei Heß und von Schirach legten sie dieselbe Härte an den Tag. Die übrigen Häftlinge kamen vorzeitig frei.

Standen bei den westlichen Alliierten meist humanitäre Beweggründe für eine frühere Entlassung im Vordergrund, ließen sich die Russen nur von dem Argument beeindrucken, die betagten, meist kranken Häftlinge dürften nicht in der Haft sterben, was sie zu Märtyrern eines angeblich brutalen Gefängnisregimes machen würde. "Gefangener Nummer 3" (die Insassen wurden nach ihren Nummern benannt), der sterbenskranke Konstantin von Neurath, kam 1954 als erster frei. Ihm folgten der ehemalige Oberbefehlshaber der Kriegsmarine Raeder, Hitlers Nachfolger Dönitz und Wirtschaftsminister Walther Funk. Oft empfing man die Entlassenen wie Helden. Bundespräsident Theodor Heuß freute sich mit von Neurath, dass "das Martyrium dieser Jahre für Sie ein Ende gefunden hat". Nur unter größtem Druck konnte die Bundesregierung den Kieler Bürgermeister 1956 dazu bewegen, Admiral Raeder nicht zum Ehrenbürger der Stadt zu machen.

Anzeige

Die Sowjets beobachteten diese Gesten der Sympathie genauso mit Argwohn wie den Erfolg, den Speer mit dem Verkauf seines Tagebuches nach seiner Freilassung 1966 hatte. Fortan waren sie nicht mehr bereit, Milde walten zu lassen. Rudolf Heß wurde Opfer dieser Härte. Alle Gesuche, Heß aus humanitären Gründen die weitere Haft zu ersparen, scheiterten an ihrem "Njet". Am 17. August 1987 setzte der 93-jährige Hess seinem Leben ein Ende. Dass er für einige Minuten unbeobachtet blieb, verdankte er seiner Unbelehrbarkeit. Heß hatte mehrfach Anträge an die Gefängnisleitung gestellt, ihn von dem schwarzen Wächter Anthony Jordan zu befreien. Der Gefängnisdirektor hatte Jordan daher angewiesen, dem mürrischen Alten in seiner Dienstzeit mehr Freiraum zu gewähren. Genau diesen Freiraum kam Heß zugute.

Norman Goda: Kalter Krieg um Speer und Heß. Die Geschichte der Gefangenen von Spandau. Campus, Frankfurt/M., 458 S., 39,90 Euro.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant