In „Alles auf Rot“ (ZDF, Arte / Network Movie) schickt Lars Becker Ex-Polizist Kessel, Diller & Co zum vierten Mal in die Niederungen des Hamburger Drogensumpfs, in dem ein Menschenleben nicht viel z�hlt. Der aus dem Knast Entlassene geht auf der Reeperbahn vor Anker, derweil es seine Ex-Kollegen mit einem brutalen Doppelmord zu tun bekommen. „Alles auf Rot“ klingt nach Roulette und passt entsprechend nicht schlecht zur Philosophie von Beckers Polizeifilmen: das Leben ein Gl�cksspiel; auf welcher Seite zu stehst ist oft Zufall, und nur gut oder nur b�se, nur moralisch oder nur korrupt ist keine Option f�r die Charaktere seiner Krimis. Keine Ironie, daf�r durchzieht sch�ne Melancholie seinen neuen Film, der in seinen Stimmungen an die franz�sischen Polizeifilme der sechziger, siebziger Jahre erinnert und dessen konzentrierter filmischer Stil durch die Corona-Bedingungen offenbar noch forciert wurde. Wehmut kommt am Ende auch beim Zuschauer auf: �berall nur Krimis, doch solche atmosph�risch-coolen, Kino-affinen Unikate werden seltener.
Foto: ZDF / Marion von der MehdenBar-Angelegenheiten. Kessel (Fritz Karl), nur auf Bew�hrung drau�en, muss sich zur�ckhalten. Schlichten muss Diller (Nicholas Ofczarek). Nicht nur Plot & Coolness erinnern an die franz�sischen Polizei- und Gangsterfilme der sechziger, siebziger Jahre, auch der farblich etwas matte (analoge) Vintage-Look sorgt f�r Atmosph�re.
Gemessen an den vielen stereotypen Krimi-Reihen derzeit m�sste „Alles auf Rot“ eigentlich f�nf Sterne erhalten. Da er aber eine �hnliche Qualit�t wie die Kessel-Diller-Vorg�ngerfilme hat, bleibt es bei 4,5 Sternen. Erst retrospektiv erkennt man als Kritiker das Alleinstellungsmerkmal von Lars Beckers cooler Mini-Reihe.�
Hat sich der korrupte Kommissar und Ex-Junkie Erich Kessel (Fritz Karl) tats�chlich erfolgreich resozialisieren lassen? Sein Chef Epstein (Martin Brambach) und Mario Diller (Nicholas Ofczarek), sein bester Freund, bis er ein Verh�ltnis mit Kessels Frau Claire (Jessica Schwarz) hatte, sind fest davon �berzeugt. Auch in seinem neuen Job als Barmann auf St. Pauli macht der einst so tief Gefallene nach zwei Jahren Knast eine gute Figur: schwarze Hose, wei�es Hemd, Krawatte, kein Schwei� auf der Stirn, kein Zittern mehr – nur im L�gen ist er offenbar noch immer der Gr��te. Was Staatsanw�ltin Soraya Nazari (Melika Foroutan) ahnt, scheint sich zu bewahrheiten: Kessel wurde kurz vor der Entlassung von Mith�ftling Walid Schukri (Kida Khodr Ramadan), ein M�rder aus gutem Grund, als Kopfgeldj�ger engagiert. F�r 50.000 Euro soll er ihm den M�rder seiner Tochter ans Messer liefern. Die Erfahrung, sein Kind zu verlieren, musste Kessel auch gerade erst machen, und das Geld k�nnte der zum Barmann degradierte Bulle gut gebrauchen; denn seine Frau will es noch einmal mit ihm versuchen. Kessel z�gert noch. Hat es ihm vielleicht die Prostituierte Debbie (Josefine Israel) angetan? Oder will er nur f�r sie der Retter sein? Wie dem auch sei, eine illegale Abh�raktion gegen ihn d�rfte den Geldsegen ohnehin eher unwahrscheinlich machen.
Foto: ZDF / Marion von der MehdenKopfgeldjagd. "Du hast es noch drauf!" Knasti Schukri (Kida Khodr Ramadan), der gern seine eigenen Gesetze macht, hat f�r Noch-Mith�ftling Kessel (Fritz Karl) einen lukrativen Job. Dieser kann ihn runterhandeln. Nicht t�ten, nur finden und �bergeben.
In „Alles auf Rot“ schickt Lars Becker Kessel, Diller & Co zum vierten Mal in die Niederungen des Hamburger Drogensumpfs, in dem ein Menschenleben nicht viel z�hlt. Der Ex-Polizist geht auf der Reeperbahn vor Anker und mixt mit Vorliebe Bloody Marys, derweil es seine Ex-Kollegen mit einem Doppelmord zu tun bekommen. In einem arabischen Brautmodengesch�ft werden ein Rapper und seine Zuk�nftige, besagte Schukri-Tochter, brutal erschossen. Die Morde werden nicht gezeigt. Man sieht nur das ver�ngstige Gesicht der Person, f�r die das Blutbad Konsequenzen haben k�nnte: Dalida (Narges Rashidi); sie ist die Frau von Mohammed Medjoub (Sahin Eryilmaz), dem taxifahrenden Koksh�ndler, der in „Reich oder tot“, an den zwei Jahre sp�ter die Handlung nun direkt ansetzt, ma�geblich an der Verurteilung Kessels beteiligt war (was dieser ihm offenbar nicht �belnimmt). Der Killer stellt sich dann allerdings nach 25 Filmminuten selbst vor. Der macht zwar auf dicke Hose, verh�lt sich gegen�ber Frauen nicht immer ganz korrekt, aber wie einer, der stur weitermordet, sieht dieser Goran Jankovic (Slavo Popadic) nicht unbedingt aus. Dar�ber hinaus verbindet ihn sogar etwas mit seinen beiden Opfern: Auch er ist im Begriff zu heiraten, ja, zur Stunde des Blutbads ist er sogar Vater geworden. Ein Junkie-Killer mit menschlichen Z�gen also.
„Alles auf Rot“ – das ist ein narratives (Blut!) und ikonografisches Versprechen: Vorspann und Abspann sind rot eingef�rbt. Zu Beginn sieht man die Schauspieler, die Becker so sehr liebt und deshalb gern featured, quasi Vintage-like graphisch in Blut getr�nkt. „Alles auf Rot“ – das klingt auch nach Roulette und passt entsprechend nicht schlecht zur Philosophie von Lars Beckers Polizeifilmen: das Leben ein Gl�cksspiel; auf welcher Seite zu stehst ist oft Zufall, und nur gut oder nur b�se, nur moralisch oder nur korrupt ist keine Option f�r die Charaktere seiner Krimis. Die vier Filme um das Hamburger Buddy-Duo sind h�rter und weniger ironisch als seine wegweisende „Nachtschicht“-Reihe. Der neue Film wirkt trotz einiger bisweilen blutiger Schl�gereien weniger aktionsgeladen als seine Vorg�nger, tr�gt daf�r verst�rkt melancholische Z�ge. Das liegt an Kessel, den Fritz Karl mehr denn je als einen undurchschaubaren, aber nicht unsympathischen Mann verk�rpert, der – nun erstmals v�llig clean – sein Verhalten offenbar nach einem strikten Ehrenkodex ausrichtet. Darin erinnert er an die lakonischen Anti-Helden aus den franz�sischen Polizeifilmen der sechziger, siebziger Jahre. Dabei d�rfte der Corona-Faktor den Stil des Films positiv beeinflusst haben. Leere Stra�en, eine Bar, in der nur auftaucht, wer auch etwas zur Handlung beitr�gt, diese sch�ne Klarheit sorgt f�r eine Reduktion, die ikonografisch an die existentialistischen Trag�dien von Jean-Pierre Melville („Der eiskalte Engel“) erinnert. Die Kameraansichten von oben deuten es an: Der Mensch ist eine kleine Nummer, ziemlich verloren in dieser Welt. Nat�rlich macht Lars Becker Fernsehen und nicht Kino, aber seine Krimis �ffnen filmische R�ume, die man immer seltener in den zu Tode formatierten Reihen zu sehen bekommt und die vielen Zuschauern leider auch in den anspruchsvollen Arthaus-TV-Krimis oft versperrt bleiben.
Foto: ZDF / Marion von der MehdenSpiel der Blicke. Claire (Jessica Schwarz) w�rde es mit ihrem Ex (Fritz Karl) gern noch einmal versuchen. Vielleicht auch ihrer gemeinsamen toten Tochter wegen. Kessel ist noch unschl�ssig. Er habe von anderen Frauen getr�umt. Etwa von Debbie?
So richtig deutlich wird der Wert der coolen Kessel-Diller-Krimidramen, die ihren Ursprung haben in dem Roman „Unter Feinden“ von Georg M. Oswald (verfilmt 2013), erst im R�ckblick und im Kontrast zu einer Krimiunkultur, die jedes Misthaufenkaff f�rs Genre entdeckt, die deutsche Schauspieler*innen zu D�nen, Franzosen, Portugiesen oder Irl�ndern macht, die Handlungen und sogenannte „Wendungen“ f�r stereotype Whodunits anh�uft, damit die neunzig Minuten vollgemacht werden k�nnen. Da lobt man sich doch Beckers Konzentration auf das Wesentliche und die vielen, kleinen liebevollen Details. In „Alles auf Rot“ gibt es keine �berfl�ssige Szene, daf�r umso mehr Momente, an die man sich gern erinnern wird: das telefonisch angek�ndigte Blutbad im Off zu Beginn, das coole Gepl�nkel am Tresen, an dem Diller und Kessel – ohne es zu wissen – fr�h dem Killer begegnen, der Ge-dankenaustausch zwischen Barmann und Prostituierter oder nur dieser eine Blick, den Jessica Schwarz in Anwesenheit jener Debbie ihrem Filmgatten zuwirft („Sind das die Frauen, von denen du tr�umst?“). Wie alle Lars-Becker-Krimis vergeht auch dieser Film wie im Fluge. Und schon haben wir das Schluss-Tableau, das an gro�e Krimi-Momente gemahnt. H�ufig ahnt nicht nur der Zuschauer, der Lars Beckers Filme und seine Vorbilder kennt, was kommen wird. Allerdings kommt es dann doch immer ein bisschen anders. (Text-Stand: 21.10.2021)
Foto: ZDF / Marion von der MehdenSt.-Pauli-Impressionen. Leere Stra�en, eine Bar, in der nur auftaucht, wer auch etwas zur Handlung beitr�gt, kein Satz zu viel. Diese Reduktion und dieser Ernst haben mehr von der stilsicherenn Strenge Jean-Pierre Melvilles als von der deutschen Bedeutungsschwere, wie man sie leider zu oft hierzulande in Krimi-Dramen findet.
Rainer Tittelbach arbeitet als TV-Kritiker & Medienjournalist. Er war 25 Jahre Grimme-Juror, ist FSF-Pr�fer und betreibt seit 2009 tittelbach.tv. Mehr
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