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Hannelore Kraft, die zweite Frau im Staat

Korrespondent
Hannelore Kraft im Landtag Nordrhein-Westfalen Hannelore Kraft im Landtag Nordrhein-Westfalen
Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) im Landtag in Düsseldorf
Quelle: DPA
Viele Bürger sehen die NRW-Ministerpräsidentin als gute Alternative zu den möglichen SPD-Kanzlerkandidaten. Kraft pflegt ihr Kümmererimage, ist aber machtbewusst – wie einst Johannes Rau.

Ein kleiner Junge mit Gipsarm wartet an der Eingangstür zum Rathaus. Hannelore Kraft bleibt stehen und fragt, was geschehen ist. Mit dem Fahrrad hingefallen, erzählt er. "Hattest du ’n Helm auf?", fragt sie. Er schüttelt den Kopf.

Kraft sagt, er hätte sich noch viel schlimmer verletzen können: "Tust du mir ’n Gefallen und trägst ’n Helm? Versprochen?" Sie hält ihm die Hand hin. Der Junge schlägt ein. Dann betritt die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin das Dortmunder Rathaus, wo Schulen Projekte zur Nachhaltigkeit präsentieren.

Die 50-jährige Sozialdemokratin hat sich eine kleine Auszeit genommen von der großen Politik. Sie gilt seit der gewonnenen Landtagswahl am 13. Mai als einflussreichste deutsche Politikerin nach Angela Merkel. Doch an diesem Tag beschäftigt sich Kraft mit den kleinen Dingen des Lebens. Es wird ein schöner Tag für die Landesmutter.

"Herr Oberbürgermeister, komm bei mich bei"

Kraft lässt sich am Stand der "Ökologie-AG" eine Gespenster-Heuschrecke auf ihre Hand legen, die aussieht wie zusammengesteckte braune Blätter, sie reicht das Insekt weiter an Oberbürgermeister Ullrich Sierau. Dann bekommt sie eine Tasse Kaffee. Sie unterhält sich mit den Jugendlichen über "fairen Handel" und ruft: "Los, ein Foto, Herr Oberbürgermeister, komm bei mich bei."

1. Mai in Dortmund
Kraft mit dem nordrhein-westfälischen DGB-Vorsitzenden Andreas Meyer-Lauber (l.) und dem Dortmunder Oberbürgermeister Ullrich Sierau (2.v.r.) bei einer 1.-Mai-Kundgebung
Quelle: DPA

Kraft ist Hauptakteurin und Regisseurin zugleich, der OB ihr wichtigster Komparse. Den Geschmackstest mit Kartoffelchips lehnt sie ab, weil sie unter Zöliakie leidet und kein Getreide verträgt.

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Der OB muss einspringen. "Die Landesmutter …", sagt Sierau mit geschlossenen Augen, dann schiebt sie ihm einen Chip in den Mund. Kraft blättert im "Igelbuch" und bittet die Kinder, ihr mal aufzuschreiben, wo die Eichhörnchen wohnen. Kraft nimmt sich mehr als eine Stunde Zeit, länger als geplant.

"Sie ist warmherzig und hält ihr Wort"

Dann eilt sie 70 Kilometer weiter nach Meinerzhagen, wo eine Umgehungsstraße eröffnet wird. Sie erreicht pünktlich den Schützenplatz und sagt launig: "Südumgehung ohne Ministerpräsidentin ging nicht." Für neue Straßen fehle Geld, "insofern freue ich mich darüber, mal dabei zu sein, wenn ein solches Mammutprojekt beendet wird".

Sie zerschneidet ein Band in den rot-weiß-grünen Landesfarben, danach plaudert sie mit Bürgern. Drei Herren schwärmen: "Sie ist warmherzig und hält ihr Wort", sagt einer. "Das ist Teil ihres Erfolges, das können wir nicht verhehlen, auch wenn wir Christdemokraten sind", ergänzt ein anderer etwas verschämt.

Weibliches Pendant zu Johannes Rau

NRW-Tag
Bürgernah: Kraft spricht beim NRW-Tag in Detmold mit einem als Bernhard II., Edelherr zur Lippe, verkleideten Mann
Quelle: DPA

Ein Erfolg, der immer stärker bundesweit beachtet wird. Die Diplom-Ökonomin kann unpolitisch daherkommen und wirkt dabei nicht total von Parteikalkül durchtränkt wie ihr unterlegener, auf Effizienz getrimmter CDU-Herausforderer Norbert Röttgen.

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Demoskopen haben herausgefunden, dass die Bürger Kraft sympathischer, führungsstärker und kompetenter fanden. Viele sehen in Kraft das weibliche Pendant zu Johannes Rau, dessen Image des Kümmerers zum Mindeststandard für sozialdemokratischen Erfolg im bevölkerungsreichsten Bundesland geworden ist.

So jemand hat der SPD seit Langem gefehlt. Die Ministerpräsidenten Wolfgang Clement und Peer Steinbrück waren harte Machertypen, mit denen die Partei fremdelte. Kraft propagiert als Staatsübermutter eine allumfassende sozialpolitische Vorsorge, die mit höheren Steuern und notfalls auch Schulden finanziert wird.

Kraft schließt Spitzenkandidatur 2013 aus

Laut Umfragen sehen Bürger sie mittlerweile als ernsthafte Alternative zu den potenziellen SPD-Kanzlerkandidaten Sigmar Gabriel, Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier. Aber Kraft hat früh begonnen, solche Erwartungen einzudämmen.

SPD-Parteirat Gabriel Kraft
Nach der NRW-Wahl überreicht SPD-Chef Gabriel der alten und neuen Ministerpräsidentin einen Strauß rote Rosen
Quelle: DPA

Sie hat eine Kanzlerkandidatur 2013 ausgeschlossen und Spitzen ihrer Partei ermahnt, sich nicht daran zu beteiligen: "Ich will diese Diskussion nicht", betont sie intern.

Parteichef Gabriel sagte unlängst "Welt Online", dass sie "für jede Spitzenposition infrage käme", und fügte pflichtschuldig hinzu: "Aber Hannelore Kraft hat das für sich ausgeschlossen. Und wer sie auch nur ein bisschen kennt, weiß: Sie ist niemand, die heute hü und morgen hott sagt."

Es mag ein Dilemma sein für die SPD, dass ihre populärste Politikerin sie nicht in die Bundestagswahl führt. Freilich könnte Kraft mehr Schaden als Nutzen entstehen. Die Risiken wären kaum abzusehen.

Kraft müsste Amtsinhaberin Merkel herausfordern, die ein wesentlich größeres Standing besitzt als etwa Röttgen. Kraft müsste in weltpolitischen Themen reüssieren, die Merkel routiniert beackert und prägt. Es wäre ein ganz anderer Wahlkampf als in NRW.

Markenzeichen "versprochen, gehalten"

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Ein rascher Wechsel nach Berlin käme zudem einem Wortbruch gleich. Sie will den Wahlkampf-Slogan "versprochen, gehalten" zu ihrem Markenzeichen machen.

Damit hat sie die 20 Monate währende Minderheitsregierung im Landtag etikettiert: Rot-Grün bekam mithilfe der Opposition wichtige Projekte durch, die Hochschulgebühren wurden abgeschafft, das beitragsfreie dritte Kindergartenjahr beschlossen, die neue "Sekundarschule" eingeführt, einer Gesamtschule light.

Ein abrupter Abschied würde ihren Erfolg in NRW gefährden, den die SPD im Bund als Grundlage braucht. Es gibt Nachwuchshoffnungen in der NRW-SPD, aber kein Erbe mit ähnlichem Format ragt heraus.

Kuriose Kapriolen nach der Landtagswahl 2009

Krafts Stärke ist es, ihre Grenzen zu kennen und Dinge auf sich zulaufen zu lassen. Ihr Aufstieg entspringt keinem Masterplan, sondern günstigen Gelegenheiten. Nach der Wahlniederlage 2005 von Ministerpräsident Steinbrück übernahm sie den Fraktionsvorsitz im Landtag, weil andere unvermittelbar schienen oder abwinkten.

Ab 2007 wurde eine Strategie erkennbar, als sie den SPD-Landesvorsitz übernahm und die Spitzenkandidatur für 2010 sicherte. Einige zweifelten an ihrer Eignung, doch der Landesverband stand loyal hinter ihr.

Bei der Landtagswahl vor zwei Jahren konnte Kraft immer noch nicht richtig überzeugen. Die schwarz-gelbe Landesregierung von Jürgen Rüttgers (CDU) wurde zwar abgewählt, aber die CDU lag mit rund 6000 Stimmen vor der SPD.

Kraft wagte kuriose Kapriolen, kündigte an, sie wolle aus der Opposition heraus eine schwarz-gelbe Minderheitsregierung von Rüttgers demontieren. Wenige Tage später verkündete sie dann auf Druck der Grünen, selbst eine Minderheitsregierung zu bilden.

Sie weiß, wie gnadenlos die SPD sein kann

Kraft nutzte das riskante Modell, um Regierungsfähigkeit zu demonstrieren. Ende 2011 wurde sie mit dem besten Ergebnis bei den SPD-Vorstandswahlen belohnt und erhielt 97,2 Prozent als Vizeparteichefin.

Kraft fühlte sich geschmeichelt, weiß aber auch, wie gnadenlos ihre Partei sein kann. Mit Schaudern denkt sie daran, wie Kurt Beck 2008 von der Spitze gedrängt wurde.

Nun ist sie selbst eine Königsmacherin. Gegen den Willen ihres Landesverbandes, dem größten bundesweit, kann kein Kanzlerkandidat gekürt werden. Sie selbst hält sich bedeckt, wen sie für den Richtigen hält, und rät, die Nominierung möglichst weit hinauszuzögern.

Gremiensitzung der NRW-SPD
Kraft in der Parteizentrale in Düsseldorf
Quelle: DPA

Zunächst muss Kraft die Koalitionsverhandlungen abschließen. Mit ihrer Stellvertreterin Sylvia Löhrmann (Grüne) kontrolliert sie die Beratungen und besucht notfalls persönlich stockende Arbeitsgruppen.

Die Grünen merken, dass die SPD selbstbewusster und konfliktfreudiger auftritt. Kraft ist aber "zuversichtlich, dass wir für alles eine gute Lösung finden".

Es gilt auch zu klären, wie es in der Haushaltspolitik weitergeht, die vom Landesverfassungsgericht einmal wegen übermäßiger Verschuldung verworfen wurde. Kommenden Dienstag soll der Vertrag vorliegen, pünktlich zu Krafts 51. Geburtstag. Am 20. Juni wird sie im Landtag zur Ministerpräsidentin gewählt.

Konfrontation mit Piraten-Abgeordnetem

Wie schwierig die Finanzpolitik bleibt, erlebte Hannelore Kraft in dieser Woche wieder, als der Landtag über eine Milliarde Euro diskutierte, die für die Abwicklung der Westdeutschen Landesbank (WestLB) fällig wird.

CDU-Fraktionschef Karl-Josef Laumann beklagte, man sei betrogen worden, Rot-Grün hätte das Geld bereits in den Haushaltsentwurf 2012 einstellen müssen. FDP-Fraktionschef Christian Lindner erinnerte daran, dass die WestLB eine "Bank der Politik" gewesen sei, mit der in früheren SPD-Regierungszeiten am Parlament vorbeigearbeitet worden sei.

Ministerpräsidentin Kraft blickt ernst auf die Redner, die keine zwei Meter entfernt stehen, ihre Lippen sind schmal. Als ein Abgeordneter der Piraten den Regierungskurs bei der WestLB kritisiert, platzt es aus ihr heraus.

Sie ruft dazwischen, stellt Fragen, will die Unwissenheit des Neulings deutlich machen, da entgegnet der Redner: "Frau Kraft, jetzt hören Sie mal auf. Das ist ja richtig unwürdig in diesem Parlament, dass Sie ständig ins Wort fallen. Ich drehe Ihnen jetzt den Rücken zu." Es war kein schöner Tag für die Landesmutter.

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