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Kultur Stephen Sondheim ✝︎

Schickt doch den Clown herein

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Stephen Sondheim ist im Alter von 91 Jahren gestorben. Das Foto entstand am 7. November 2016 in New York City Stephen Sondheim ist im Alter von 91 Jahren gestorben. Das Foto entstand am 7. November 2016 in New York City
Stephen Sondheim ist im Alter von 91 Jahren gestorben. Das Foto entstand am 7. November 2016 in New York City
Quelle: Walter McBride/Getty Images
Stephen Sondheim schrieb die Texte zu „West Side Story“, komponierte ewige Musical-Klassiker. Jetzt ist der Shakespeare des Broadway 91-jährig gestorben. Ein Nachruf in Songs.

I‘m still here. Es war am 4. April 1971, da hatte im Winter Garden am Broadway „Follies“ Premiere. Eine Abrechnung mit der alten Musical-Welt. In einer Zeit, in der Pop und Rock die Shows und Filmmusiken als Vorreiter des Populären abgelöst hatten, da kamen sie noch einmal zusammen: die „Follies“, die Revuegirls des großen Ziegfeld. Da standen sie in ihrem ehemaligen Theater, das einem Parkhaus weichen wird, zu alten Schabracken gewandelte schöne Frauen und sangen trotzig: „Wir sind noch da!“

Viele Jahrzehnte lang danach konnte Stephen Sondheim, der „Follies“-Komponist wie -Textautor, selbst sagen: „I‘m still here.“ Er war noch da, auch wenn seine Erfolgsstücke im Vergleich zu anderen Aufführungszahlen und -jahren vor allem ein großes Vergnügen für die Fortgeschrittenen waren. Es gibt nach ihm keinen Komponisten mehr, der eine so lange Reihe von Werken für New Yorks Vergnügungsmeile geschrieben hat, der in fast jedem seiner 16 eigenständigen Bühnenstücke das Musical neu erfunden, ihm Komplexität, Frische, Tiefe, Relevanz gegeben hat.

Sondheim-Stücke werden weltweit immer beliebter, „Sweeny Todd“ oder „A little Night Music“ sind längst in den Opernhäusern angekommen, wurden mit und für Stars wie Bryn Terfel oder Dagmar Manzel inszeniert. Immerhin wurde die blutige Barbier-Geschichte auch von Tim Burton verfilmt, und sein ironisches Märchen-Mash-Up „Into the Woods“ hat Disney mit Meryl Streep als Fantasy-Musical in die Kinos gebracht. Selbst in Europa gehören die abgründigen, abgefeimten Sondheim-Klassiker inzwischen zum Musical-Stammrepertoire der Stadttheater.

The little things you do together. Das war einmal anders. In jenem Winter Garden begann die Weltkarriere des Stephen Sondheim, am 22. März 1930 in New York als Sohn jüdischer Eltern geboren, die beide in der Modebranche arbeiteten und sich trennten, als ihr einziger Sohn zehn Jahre alt war. Zu Ersatzeltern wurden ihm Dorothy und Oscar Hammerstein. Der versierte Texter, der „Showboat“ und die späten Richard-Rodgers-Erfolge auf seinem Habenkonto verzeichnete, brachte Sondheim bei, was er wissen musste, und er vermittelte den Kontakt zu Leonard Bernstein, Jerome Robbins und dem, was später als „West Side Story“ von 1957 an im Winter Garden seinen Siegeszug antrat.

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Stephen Sondheim hatte damals die witzigen, einprägsamen Texte geschrieben, ähnlich wie er es auch später noch für Jule Stynes immer wieder gern von reiferen Stars gebrachtes Ethel-Merman-Vehikel „Gipsy“, für Rodgers‘ „Do I hear a waltz?“ und für eine der Neufassungen von „Candide“, Bernsteins Schmerzenskind nach Voltaire, tat. Doch natürlich lag sein Ehrgeiz bei eigenen Shows, für die er, gemäß dem Vorbild Cole Porter, immer als Textdichter und Komponist zeichnete. Worte und Klänge, für ihn ist das eine untrennbare Einheit, die seine Musik so unverwechselbar macht.

Die schrill-klamaukige, dabei intelligente Römerparodie nach Plautus „A Funny Thing Happend On the Way To the Forum“ (1962) markierte einen ersten Schritt zum Ruhm, die Politsatire „Anyone Can Whistle“ (1964) – die deutsche Erstaufführung findet endlich im Januar in Schwerin statt – war dagegen ein herber Rückschlag.

Dann kam 1970, gemeinsam mit seinem Produzenten, Regisseur und Choreografen Harold Prince der Durchbruch mit „Company“: Singende Großstadtneurotiker, Ehepaare im Geschlechterkrieg, wie bei Edward Albee. Die Geburt des „Konzept-Musicals“, bei dem alles einer Idee untergeordnet ist. In „Company“, mit seiner seltsam uneindeutig metrosexuellen Hauptfigur, die für jüngste Wiederaufnahmen sogar erfolgreich weiblich gegendert wurde, finden sich dann so wunderbar böse Verse wie: „The concerts you enjoy together / neighbours you annoy together / children you destroy together.“ Er selbst hatte übrigens erst mit 40 Jahren sein Coming Out. Sein Lebensgefährte war zeitweilig der Dramatiker Peter Jones.

Putting it together. Viele Sondheim-Songs klingen wie desillusionistische Lyrik der feinsten Sorte. Kritiker mögen solches kalt und zu sophisticated nennen, nie aber erlaubte sich Stephen Sondheim das oberflächlich rosa Gewölk, das für gemeinhin als Musical gilt und doch nur eine schwächelnde Schwester der Operette vorstellt. Das aber war und ist auch sein Problem: Obwohl vielfach ausgezeichnet, vom Oscar über den Tony bis hin zum Pulitzer Preis, musste Stephen Sondheim damit leben, dass seine Stücke von musical-desinteressierten Intellektuellen nicht wahrgenommen und vom gewöhnlichen Publikum als zu schwer empfunden werden.

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„A little Night Music“ (1973) nach Ingmar Bergmans Film „Das Lächeln einer Sommernacht“ wurde zur Apotheose des Valse triste und Wiedergeburt der Operette, „Pacific Ouvertures“ (1976), das die von den Amerikanern erzwungene Öffnung Japans zur Welt zum Thema hat, spielt mit den Mitteln des Kabuki-Theaters. „Sweeney Todd“ (1979), die böse Geschichte des dämonischen Barbiers aus der Fleet Street, der mit dem Rasiermesser metzelt und seine Opfer von seiner Komplizin zu Fleischpasteten verarbeiten lässt, ist ein wildes Kaleidoskop aus epischem Theater, Jakobinertragödie, Burleske, Märchen, viktorianischem Vaudeville, Weill, Berg und Britten. „Merrily We Roll Along“ (1981) rollt seine Handlung von rückwärts ab.

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„Sunday In the Park With George“ (1984) lässt Georges Seurat in sein pointilistisches Bild „Ein Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte“ treten. „Into the Woods“ (1986) bringt Grimms Märchen als Bettelheim-Kommentar auf die Bühne, bis Rotkäppchen Amok läuft. „Assassins“ (1991), Sondheims persönlicher Favorit, führt amerikanische Präsidentenmörder auf einem Rummelplatz vor. Das melancholisch kammerspielartige „Passion“ (1994), hat einen von Ettore Scola verfilmten Briefroman um eine große, unerfüllte Liebe zum Vorbild.

There won‘t be Trumpets. Diese letzten beiden Stücke liefen nur noch Off-Broadway, kein Produzent wollte mehr – abgesehen von den alten Krachern sowie dem Uni-Ulk nach Aristophanes „The Frogs“ von 1974 – einen neuen Sondheim am echten Broadway wagen. Weil er kaum Hits schreibt, so meist das Totschlag-Argument.

Doch was sind Hits? Bei Sondheim regiert vor allem Harmonie, nicht Rhythmus. Der Schüler des Zwölftoners Milton Babbitt arbeitete mit vielfachen Versatzstücken, kombinierte neu, erinnert sich, setzte anders zusammen, verschachtelt, ließ Motive sich in ständigen Ostinati überlappen. Seine Stücke sind große Puzzles – Sondheim selbst ist ein passionierter Spielesammler –, in denen man selten ein Teil, einen Hit, einen Schlager isolieren kann. Und er war keiner, dem das Komponieren leichtfiel: „Jedes Mal ist es, als ob man Zahnpaste aus einer leeren Tube drücken will.“

Send in the Clowns. Und doch hat Stephen Sondheim nicht nur diesen einen Evergreen komponiert. Frank Sinatra und Liza Minelli, Shirley Bassey und Barbra Streisand singen seine, nicht unkomplizierten Lieder. Selbst Madonna brauchte einen Monat, bis sie die trickreichen Songs für den Film „Dick Tracy“ konnte. Und heute wird auch er, Stephen Sondheim, der Clown, immer wieder und öfter hereingeschickt. Man ist sich seinem Rang und Namen bewusst.

Comedy, tonight. Man hat in London und New York „Saturday Night“ gespielt - Sondheims erste, wegen des Todes des Produzenten nie aufgeführte, Show von 1954. Sein theatralischer Schwanengesang wurde ein Musical über Addison Mizner und seinen Bruder Wilson, zwei Abenteurer vom Beginn des 20. Jahrhunderts, die vom Klondike-Goldrausch bis zum Hausbau-Boom im Florida der Zwanziger ihr Unwesen trieben. 2003 kam es als „Bounce“ heraus, 2008 noch einmal als „Road Show“ – und schaffte es doch wieder nur bis Off-Broadway. Stattdessen wurden die englischen Original-Namen der „Desperate Housewives“-Folgen größtenteils nach seinen Songtiteln benannt.

Trotzdem bosselte Stephen Sondheim bis ins hohe Alter an Projekten. „Ich bin ein Kollaborations-Tier“, sagte der überzeugte New Yorker. „Meine Ideen entstehen oft aus dem Zusammenarbeiten mit anderen Menschen, sonst würde ich Konzertmusik komponieren. Ich schreibe, weil ich die Menschen zum Lachen, Weinen und Denken bringen will. Und ich will so viel Publikum wie möglich.“ Schließlich muss die Show weitergehen, schließlich ist „Komödie, jeden Abend“. Am 26. November ist Stephen Sondheim, einer der einflussreichsten Komponisten und Theatermenschen des 20. Jahrhunderts, im Alter von 91 Jahren in seinem Haus in Connecticut gestorben. Tags zuvor hatte er noch ein großes Thanksgiving Dinner mit Freunden gefeiert.

Somewhere. Schon 2010 war – größtmögliche Ehre im Showbusiness – ein Broadway-Theater nach Stephen Sondheim benannt worden. Im März 2020, mitten in der Pandemie, wurde sein 90. Geburtstag von vielen singenden Stars bis hin zu Meryl Streep mit einem virtuellen Geburtskonzert unter dem trotzigen Motto „Take Me to the World“ gefeiert (auf YouTube abrufbar). Gerade laufen am eben wieder aufgesperrten Broadway die zwei Sondheim-Revivals „Assassins“ und „Company“, die er noch gesehen hat.

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Und spätestens am 9. Dezember, wenn Steven Spielbergs Neuverfilmung der „West Side Story“ global im Kino anläuft, dann wird die Welt am Ende neuerlich den Sondheim-Text mitsingen „There’s a place for us – somewhere“. Aber Steven Sondheim ist nicht irgendwo. Der sitzt jetzt auf einem Logenplatz neben Jerome Kern, George Gershwin, Cole Porter und Irving Berlin im Musicalkomponistenhimmel.

Und vielleicht kommt da ja noch was nach: Im September hat jedenfalls der Schauspieler Nathan Lane offenbart, er habe Leseproben mit Bernadette Peters für eine neues, fertiges Stephen-Sondheim-Musical gehabt. I‘m still here…

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