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Pop Rosenstolz-Sängerin

Bei Gleis 8 mit AnNa R. ist das Publikum glückselig

Die frühere Rosenstolz-Sängerin AnNa mit Gleis 8 im Astra-Kulturhaus Die frühere Rosenstolz-Sängerin AnNa mit Gleis 8 im Astra-Kulturhaus
Die frühere Rosenstolz-Sängerin AnNa mit Gleis 8 im Astra-Kulturhaus
Quelle: dpa
AnNa R., einst eine Hälfte von Rosenstolz, ist zurück. Mit Gleis 8 wirkt sie wesentlich nahbarer. Das vorwiegend männliche Publikum in Berlin feiert sie und ihre imposante, überbesetzte Band im Astra.

Verändern wolle sie sich, ihre eigenen Gedanken verwirklichen, endlich eigene Songs schreiben. So verlautbarte AnNa R. im Vorfeld der Veröffentlichung des Debütalbums ihrer neuen Band Gleis 8, nur wenige Monate nach dem plötzlichen Rosenstolz-Aus im Dezember letzen Jahres. Doch wann wäre der Zeitpunkt für einen musikalischer Selbstfindungstrip passender als jetzt, im besten Alter, also mit Mitte 40?

Der Schritt ist natürlich nur ein kleiner. Schließlich will man die alten Fans nicht verprellen. Die haben auch fleißig Karten geordert, weshalb die ersten drei von vier Berliner Shows ausverkauft sind. Das Publikum am ersten Abend besteht aus auffällig vielen Männern, die sich frisurentechnisch in zwei Kategorien einteilen lassen: über 40-Jährige mit kurzen Stoppeln aufgrund von altersbedingt spärlichem Haarwuchs und circa 30-Jährige mit perfekt gegeltem Kantenschitt.

Zwei Typen mit Jägermeister-Shirt und Ohr-Tunneln, die geradewegs aus einer öffentlichen Körperschmiede zu kommen scheinen, stoßen Brunftschreie aus. Und schon der erste Song, der lustigerweise „Ändern“ heißt, kann den Männerüberschuss erklären.

Weil Gleis 8 im Vergleich zu Rosenstolz weitgehend auf Erbauungskitsch verzichten, Zweckoptimismus meiden und Befindlichkeitsduselei durch Spielfreude zu kaschieren wissen. Zudem wirkt AnNa R. zwischen ihren neuen Mitmusikern wesentlich nahbarer, weniger divenhaft, ohne unnützes Power-Frauen-Image.

Kleine sympathische Pannen

Statt pianogetriebenem Disco-Pop setzen Gleis 8 mehr auf eingängige Rockstücke, wie die Single „Wer ich bin“ zeigt. Mitsing-Refrains und Whoa-whoa-Zwischenschübe im Stil von Coldplay. Das ging gestern, das geht auch heute. Im Hintergrund flackern über eine LED-Wand Farbexplosionen und Videoschnipsel, weil das inzwischen sogar in kleinsten Clubs zum Standard gehört, um eher visuell fixierte Menschen bei Laune zu halten.

Für „Bleibt das immer so“ dürfen die beiden Gitarristen zum ersten Mal die obligatorischen Rampensau-Posen auf einem kleinen Bühnensteg einnehmen. Die Sängerin versingt sich, ruft kurz: „Scheiße!“ Macht weiter, immer weiter. Es sind die kleinen Pannen, die den Auftritt von Gleis 8 sympathisch wirken lassen.

Wenn die Hauptprotagonistin ihre Nervosität offenlegt, sich unsicher Richtung Mitstreiter dreht, Blickkontakt sucht, Unterstützung bei den Ansagen braucht, sich an ihrer schwarzen Fahrrad-Trinkflasche festklammert.

Pure Präsenz ersetzt nicht jedes Potenzmittel

Die Band ist so imposant wie überbesetzt: Ein Harfenspieler spielt Töne, die man nicht hört. Ein Trompeter trompetet in „Eine Sekunde“ per Loop-Station mit sich selbst. Ein Schlagzeuger paukt dazu auf seiner Bauchpauke einen sanften Marsch. Zu „Teufel“ springen die Jägermeister-Shirts, als sei tatsächlich der Leibhaftige in sie gefahren.

Derweil sich die Angebetete im kurzen Schwarzen sanft im Rhythmus wiegt, zunehmend siegessicher mit Blicken kokettiert, ein merkwürdiges Fan-Geschenk, eine Stofftier-Ratte, auf ihrer Schulter platziert oder am Ende von „Die Chance“ lasziv stöhnt, als würde ihre pure Präsenz nicht schon jedes Potenzmittel ersetzen.

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Mittels Handy versuchen einige, die unvergänglichen Momente einzufangen, die man auf dem PC daheim ja sowieso nie zurückholen kann. In einer Pause sagt AnNa erleichtert: „Ein paar der Leute kommen mir ein bisschen bekannt vor.“ Die Vergangenheit wird also zumindest nicht verleugnet.

Fans sind glückselig und textsicher

Die Menge hat Gleis 8 angenommen, bevor die Band überhaupt die Bühne im Astra betreten hat. Gekreische und Klatschchöre, als stünden pubertierende Mädchen kurz vorm Begeisterungskoma, nur eben mit vertauschten Geschlechterrollen. Später sind alle glückselig und erstaunlich textsicher, was andererseits, und das will bei allem Respekt auch gesagt sein, nicht allzu schwer ist in Anbetracht der lyrischen Schlichtheit.

Nur ein paar Zeilen von „Ich lieb dich nicht“ sorgen bei manchem kurz für Verwirrung. „Es ist so schwer zu sagen: 'Ich liebe dich.' Und noch schwieriger ein 'Ich lieb dich nicht'“, singt AnNa R. Worauf eins der Jägermeister-Shirts antwortet: „Versteh' ich nicht.“

Aber mit der „Zeit“ schlagen Gleis 8 dann auch diejenigen, die es mit emotionalen Widersprüchen nicht so haben. Denn was gibt es Vorhersehbareres, Rocktypischeres und also Schöneres als ein Saxofonsolo am Schluss einer Ballade. Da halten selbst muskelgefüllte Jägermeister-Shirts, sichtlich ergriffen, für einen Moment inne.

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