Amy Gutmann: Wir haben die Chance, weniger abhängig von China zu werden

Amy Gutmann: Wir haben die Chance, weniger abhängig von China zu werden

Die US-Botschafterin in Berlin spricht im Interview über das zukünftige Verhältnis von Deutschland und den USA zu China - und über den Krieg in der Ukraine.

US-Botschafterin Amy Gutmann
US-Botschafterin Amy GutmannMauersberger/imago

Amy Gutmann sitzt leicht nach vorn geneigt an einem großen runden Tisch, der so wirkt, als seien hier schon öfter weltpolitische Verhandlungen gelaufen. An einer Seitenwand hängt eine historische Karte aus der Zeit, in der Berlin noch in die vier alliierten Sektoren eingeteilt war. Auf dem Balkon steht bei Wind und Wetter ein Statue von Ronald Reagan, der von diesem Ort aus Gorbatschow zurief, er möge die Mauer abreißen. Amy Gutmann ist die amerikanische Botschafterin in Deutschland. Sie lächelt und zeigt auf die Quadriga, der man hier, hoch oben in der Botschaft am Pariser Platz, auf Augenhöhe begegnen kann. Doch die Botschafterin entspricht nicht dem imperialen Klischee, das noch einer ihrer Vorgänger forciert hatte. In einem Interview für vier deutsche Regionalmedien – für Berlin war die Berliner Zeitung dabei – gibt Gutmann ein kurzes Einleitungs-Statement ab. Als es ans Fragen geht, bittet die Botschafterin jedoch die Journalistinnen und Journalisten, von sich selbst zu erzählen. Sie sagt: „Ich möchte wirklich wissen: Wo wurden Sie geboren, wo sind Sie aufgewachsen?“

Gutmanns Interesse an Deutschland kam nicht erst mit ihrer Berufung zur Botschafterin. Die Princeton-Politologin und spätere Präsidentin der Universität Pennsylvania hatte Deutschland bereits besucht, ehe sie ihr Amt antrat. Sie erinnert sich, dass sie kurz vor der Pandemie eine Woche lang Berlin und Potsdam besucht und mit dem Fahrrad durchfahren habe: „Ich genoss diesen Besuch so sehr, dass ich mir sagte, ich will zurückkehren und mehr sehen. Ich hatte keine Ahnung, dass dies als Botschafterin der Fall sein würde! Ich wusste, dass ich noch so viel von dem Land sehen und erleben möchte. Seit meinem ersten Tag als Botschafterin bin ich beruflich wie privat sehr gerne durch Deutschland gereist, von Norden nach Süden und von Osten nach Westen.“ Erst vergangenes Wochenende habe sie „das Vergnügen“ gehabt, „den Magdeburger Dom und die Grüne Zitadelle sowie viele faszinierende Sehenswürdigkeiten in Quedlinburg zu erkunden“.

Amy Gutmanns Familie stammt aus Deutschland. Ihr Vater, Kurt Gutmann, wurde 1910 in Feuchtwangen geboren.

Er hatte drei ältere Brüder – Max, Ernst und Manfred – und eine Schwester, Adele. Amys Großvater, Abraham Gutmann, hatte ein Bekleidungsgeschäft in Feuchtwangen. Kurt Gutmann musste 1934 vor den Nationalsozialisten aus Bayern nach Bombay fliehen. Er hatte in Nürnberg das Metallurgiehandwerk erlernt. Bis 1939 brachte er auch seine Eltern und vier Geschwister nach Indien. Kurt Gutmann übersiedelte 1948 in die USA, nachdem er seine Frau Beatrice geheiratet hatte, die er kurz zuvor in New York kennengelernt hatte.

Er starb im Alter von 55 Jahren, als Amy Gutmann erst 16 Jahre alt war. Ihr Vater habe sie sehr geprägt, sagte sie später einmal: „Er hat mir beigebracht, wie wichtig es ist, gegen alle Formen von Hass, Bigotterie und Diskriminierung aufzustehen.“ Ihre Berufung nach Berlin sieht sie aufgrund ihrer Familiengeschichte auch als Auftrag, wie sie einmal sagte: „Demokratien erfordern unsere Fürsorge, unsere Widerstandsfähigkeit und unser Handeln, um zu überleben und zu gedeihen. Alles, was wir tun, macht einen Unterschied.“ Amy Gutman macht alle ihre Schritte daher mit Bedacht: Im Frühjahr wird in Feuchtwangen ein „Stolperstein“ für ihre Familie verlegt.

Ihre Zeit als Botschafterin war bisher extrem turbulent. Amy Gutmann trat ihren Posten am 17. Februar 2022 an, als erste Frau in diesem Amt. Nur wenige Tage später überfiel Russland die Ukraine. Amy Gutmann sagt im Interview: „Als jemand, der ein Leben lang Fragen der Demokratie, der Menschenrechte und Freiheit studiert und gelehrt hat, war dieses Jahr seit meiner Bestellung als Botschafterin in Deutschland ein ganz außergewöhnliches Jahr.“

In der politischen Bewertung des Krieges erläutert Gutmann die Position der USA: Als Konsequenz von Putins Handeln hätten die USA und ihre westlichen Verbündeten ihre „Beziehungen vertieft und die Nato gemeinsam stärker gemacht“. Besonders stark sei „die kulturelle Beziehung, unsere gemeinsamen Werte, unsere Unterstützung für die Demokratie und die Freiheitsrechte für jedes einzelne Individuum, und unsere Unterstützung für eine internationale Ordnung, die friedlich und gerecht ist“. Das Treffen von Bundeskanzler Olaf Scholz und Präsident Joe Biden habe gezeigt, „wie Führer von demokratischen Ländern zusammenarbeiten können, um unseren Völkern Freiheit und Wohlstand zu sichern und in die Richtung einer perfekteren, friedlichen internationalen Ordnung zu arbeiten“.

Im Gespräch kamen wir schließlich auf grundsätzliche Themen zu sprechen.

Berliner Zeitung: Wie wird sich das künftige Verhältnis zwischen China, den USA und Deutschland entwickeln?

Amy Gutmann: Wir haben schon vor dem Krieg gesehen, dass China seine Attacken auf genau jene Institutionen der internationalen Gemeinschaft verstärkt hat, von denen es zuvor profitiert hat. Dazu gehört, dass es weniger Cybersicherheit in der Welt gibt. Dazu gehören verschiedene unfaire Handelspraktiken. Mit dem Krieg kam hinzu, dass sich China auf die Seite Russlands geschlagen hat. Wir, die USA und Deutschland, haben China gewarnt, dass es keine Waffen nach Russland schicken soll. Wir sehen, dass China weiter an der Seite Russlands steht, auch wenn wir nicht gesehen haben, dass China massiv Waffen nach Russland schickt. Wir werden alles tun um sicherzustellen, dass es sehr stark im Interesse Chinas ist, das nicht zu tun. Wenn wir irgendetwas von Putins Angriff auf die Ukraine gelernt haben, dann ist es, dass man nicht übermäßig abhängig von unzuverlässigen Autokraten sein soll. Je mehr sich Autokraten der internen Kontrolle entledigen, desto erratischer und autokratischer werden sie. Deutschland wird schnell, intelligent und vorausschauend immer unabhängiger von russischer Energie. Wir – die USA, Deutschland und der Rest der Welt – haben jetzt die Gelegenheit, weniger abhängig von China zu werden in den Bereichen Lieferketten, seltene Mineralien, Microchips und Hochtechnologie. Diese sind wichtig für den Wohlstand und die Freiheit unserer Länder. Darüber gibt es fortlaufende Diskussionen zwischen den USA und allen unseren Verbündeten, auf EU-Ebene, nicht nur bilateral, sondern multilateral. Die Chips-Gesetzgebung in den USA war ein großer Fortschritt. Unser Infrastrukturgesetz ist ein großer Fortschritt, weil wir unsere eigenen vitalen Märkte und unsere Demokratie aufbauen müssen, um wirklich  weniger abhängig zu werden. Zuletzt kam der Inflation Reduction Act (IRA). Dies ist das wichtigste Einzelgesetz in der Welt, das uns in die Lage versetzt, unseren Planeten zu bewahren. Ich bin sehr stolz darauf, denn im Lauf der Zeit werden sich dadurch die Energiekosten reduzieren – nicht nur für uns, sondern auch für die Deutschen und die Europäer.

Berliner Zeitung: Die Ukraine sagt, die Krim sei integraler Bestandteil ihres Territoriums, man wolle es zurückerobern. Die Position der USA ist, die Ukraine so lange zu unterstützen, wie es nötig sei. Wird die amerikanische Regierung die Ukraine auch unterstützen, wenn diese die Krim zurückerobern will, auch, wenn das verstärkte militärische Mittel erfordert?

Amy Gutmann: Es wäre unverantwortlich, zu diesem Zeitpunkt Mutmaßungen darüber anstellen zu wollen, welchen Friedensplan die Ukraine wollen wird. Unverantwortlich deshalb, weil Herr Putin zuerst signalisieren muss, dass er Frieden schließen will. Wir erwarten von der Ukraine nicht, dass sie uns sagt, was sie im Hinblick auf Ihre Frage tun oder nicht tun will. Was wir wissen und was die Ukraine bewiesen hat, ist, dass sie nichts Grundlegenderes mehr möchte als die Wiederherstellung ihrer demokratischen Souveränität. Daher wird es notwendig zu sein, die Ukraine in die Position zu versetzen, über einen Frieden zu verhandeln. Und das hängt von Putin ab. Und deswegen ist es so wichtig, der Ukraine zu helfen, sich selbst zu verteidigen. Das Frühjahr wird eine sehr wichtige Zeit sein, und deswegen helfen wir der Ukraine mit Artillerie, Luftabwehr, Munition, Training und humanitärer Hilfe. Niemand von uns sollte unterschätzen, welch hohen Preis die Ukrainer bezahlen, nicht nur an der Front, auch die Flüchtlinge, die in der Ukraine leben wollen, von denen aber viele jetzt in Polen und Deutschland sind. Je stärker wir der Ukraine helfen, desto eher und schneller wird die Ukraine in der Lage sein, in der Zukunft Frieden zu finden.

Wie sehen Sie die Pläne der Bundesregierung, mehr Geld in den Militär-Sektor zu stecken?

Es ist erfreulich und bewundernswert, welche Anstrengungen Deutschland unternommen hat. Aber es ist nicht überraschend, denn es wurden wichtige diplomatische Anstrengungen auf beiden Seiten des Atlantik in dieser Richtung unternommen. Natürlich wird es Zeit brauchen, aber es sind jetzt schon 100 Milliarden Euro beschlossen worden, und der neue Verteidigungsminister hat zehn Milliarden mehr gefordert. Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung in einem sich stark verändernden geopolitischen Umfeld.

Was halten Sie von Chinas Friedensplan?

China unterstützt die Ukraine nicht. Ein Land, das die Ukraine nicht unterstützt in dem Bemühen, sich selbst zu verteidigen, hat natürlich die Freiheit, einen Friedensplan auf den Tisch zu legen. Aber wir haben die Freiheit zu sagen: Das ist nicht glaubwürdig.

Für Botschafterin Amy Gutmann ist die politische Ebene jedoch nicht alles. In ihrem Leben spielt auch das Judentum eine wichtige Rolle. Zu Chanukka lud sie zum Fest in die Botschaft ein. Man konnte beobachten, dass es sich hier nicht um einen Brauch oder Folkloren handelt. Auf die Frage der Berliner Zeitung, ob sie ihre Religion auch praktiziere, sagte Frau Gutmann: „Ja, ich war immer sehr stolz darauf, jüdisch zu sein. Wann immer ich nach der Rolle des Judentums in meinem persönlichen und beruflichen Leben gefragt werde, teile ich gerne mit, dass es für mich sehr grundlegende Bestandteile des Jüdischseins sind, in der Welt Gutes zu tun und stolz darauf zu sein, wer wir als Juden sind. Spirituell gesprochen bringen wir unser Herz und unseren Verstand in inspirierende Harmonie mit etwas ewig Wichtigem.“ Gutmann sagt, der jüdische Kernbegriff des „Tikkun Olam“, was soviel bedeutet wie der Auftrag, „die Welt zu reparieren“, sei für sie „eine höchst würdige persönliche und berufliche Herausforderung“: „Unser aller Leben wird reicher – und jeder von uns größer – als wir allein sein könnten, wenn wir uns produktiv für größere Gemeinschaften und Anliegen engagieren.“

Dieses Engagement hat der Diplomatin auch in Berlin viele Begegnungen gebracht. Wer sie besonders beeindruckt hat, seit sie hier ist? Amy Gutmann: „Margot Friedlander bei mehreren Gelegenheiten zu treffen, war eine besondere Ehre. Sie hat eine der bemerkenswertesten Lebensgeschichten von allen, die ich kenne, und sie ist eine der mutigsten und inspirierendsten Frauen, die heute leben. Sie ist auch meine Nachbarin in Berlin – Autorin, Pädagogin und Holocaust-Überlebende.“ Eine besondere Begegnung ergab sich im Zuge des Kriegs in der Ukraine: „Es hat mich unglaublich inspiriert und ermutigt, die schönen Stimmen einer Gruppe ukrainischer Sänger, die sich als Flüchtlinge in Berlin kennengelernt haben, zu entdecken, und ihnen viele Male zuzuhören. Ihr starker Geist ist ein großes Zeichen der Hoffnung auf eine bessere Zukunft für die Ukraine.“