Das vorliegende Buch steckt einen weiten Horizont ab. Die drei zentralen Begriffe des knappen Titels deuten bereits darauf hin, dass grundlegende Dinge verhandelt werden. Der Leser hat aber erst nach der Lektüre der Einleitung eine gewisse Ahnung davon, dass sich hinter dem Kernbegriff der „Praxis“ ein höchst ungewöhnliches, anti-theoretizistisches Projekt verbirgt, das zum einen die Geschichten vergesellschafteter internationaler Beziehungen aus unterschiedlichen begrifflichen Perspektiven neu beschreibt und zum anderen immer wieder die cartesianische Grundlegung eines „epistemologischen Projekts“ (S. 355) moderner Wissenschaft als Hauptübel für fundamentale Missverständnisse politischen Handelns brandmarkt.

„Praxis“ ist ein Meisterwerk im mehrfachen Sinne des Wortes: Es markiert den (vorläufigen) Gipfel des Lebenswerks seines Autors, es zieht die Summe aus mehr als fünf Jahrzehnten der Forschung über die Grundlagen und großen historischen Entwicklungslinien politischen Handelns in inter-nationalen Kontexten und es beeindruckt durch die in nahezu allen Kapiteln vorgeführte transdisziplinäre Integration enormer Wissensbestände aus politikwissenschaftlicher, philosophischer, rechtswissenschaftlicher, soziologischer und historischer Forschung.

Bereits im Inhaltsverzeichnis spiegelt sich das unorthodoxe, anti-theoretizistische Verständnis sozialen Handelns und politischer Praxis. Mit Ausnahme des ersten Kapitels – in dem Kratochwil ein leidenschaftliches Plädoyer für seine Variante des Konstruktivismus formuliert, das die Praxis als Gegenstand sozialwissenschaftlicher Wissensproduktion in den Mittelpunkt rückt – sind die nachfolgenden zehn, jeweils recht umfangreichen und sowohl historisch wie auch gegenständlich weit ausgreifenden Kapitel auf Überschriften von ein oder zwei substantivierten Verben reduziert, die frühzeitig den radikal praxistheoretischen und interdisziplinären Zugriff hervorheben. An dieser Stelle kann nur schlaglichtartig aufgezeigt werden, welchen großen Bogen die verschiedenen Kapitel spannen: Die drei ersten unter den Überschriften „Constituting“ „Changing“ und „Showing“ problematisieren, wie Gesellschaft, Politik und Recht als ein soziales Ganzes und geschichtlich Gewordenes zu begreifen, d. h. auf den Begriff zu bringen sind, wie transformativer Wandel als grundlegender Mechanismus die Herausbildung und Veränderung „souveräner Autorität“ in unterschiedlichen Formen geprägt und im modernen Völkerrecht im Zuge internationaler Transformationen im 18. und 19. Jahrhundert seinen Ausdruck gefunden hat und wie grundlegende Weisen des „Zeigens“ (was ist der Fall?) nicht nur Voraussetzung für die Entstehung von Wissen, sondern auch des Rechts ist.

„Guiding“, „Sanctioning“ und „Punishing“ rekonstruieren dann in größerem begrifflichen wie auch historisch-genealogischen Detail die Entstehung von Normen im Allgemeinen und des Rechts im Besonderen und ihre unterschiedlichen handlungsleitenden Funktionen in Politik und Gesellschaft. Kratochwil zeichnet hier nicht nur die großen wissenschaftlichen Kontroversen diesseits und jenseits disziplinärer Verengungen der Internationalen Beziehungen und des Völkerrechts nach, sondern entwickelt auch an historischen Beispielen und Fallillustrationen, warum für ihn praktische Urteilskraft, die analogisches und fallbezogenes Denken in den Mittelpunkt wissenschaftlicher Reflexion rückt, gängigen legalistischen bzw. rationalistischen Spielarten vorzuziehen ist.

„Remembering and Forgetting“, „Knowing and Doubting“, „Acting“ und „Judging and Communicating“ problematisieren schließlich die Geschichtlichkeit sozialen Handelns in inter-nationalen Zusammenhängen und angemessene Formen ihrer Rekonstruktion, Erklärung und Bewertung. Die Kritik gängiger Verständnisse von Theoriebildung, die Generalisierungen sozialen Handelns in der Form ahistorischer „wenn-dann“-Aussagen „gegen die Wirklichkeit testen“ (S. 314) wollen, stellen dabei einen schon in den vorangehenden Kapiteln immer wieder aufscheinenden roten Faden dar. Kratochwil detailliert hier auch, warum David Humes Version einer „true philosophy“ für ihn noch immer eines der besten begrifflichen Systeme zum Verständnis praktischen menschlichen Handelns darstellt und dabei hilft, irreführende Dichotomien zu vermeiden. Zudem entfaltet er das Argument, warum ein auf Hume aufbauendes, um aristotelische und kantianische wie auch pragmatistische Überlegungen ergänztes Verständnis von Praxis einer völlig kontraproduktiven Privilegierung von Theorie vorbeugen könnte – einschließlich jener Privilegierung „idealer Theorie“, wie sie mit Habermas und Rawls in der Politischen Theorie dominant geworden sei.

Schon diese Schlaglichter verdeutlichen, dass hier ein grundlegendes Werk vorgelegt wird, das sich weder disziplinär noch gegenständlich einfach verorten lässt. Die politische und rechtliche Organisation von Gesellschaft(en) in staatlicher und nicht-staatlicher Form und ihre Transformationen in makrohistorischen Zusammenhängen sind ebenso Gegenstand wie konkrete politische Entscheidungen und völkerrechtliche Entwicklungen. Den roten Faden bildet ein Begriff von Praxis, der vor dem Hintergrund einer unhintergehbaren Geschichtlichkeit und Kontingenz sozialen und politischen Handelns den Begriff praktischer Urteilskraft (für „Praktiker“ wie auch wissenschaftliche „Praxis“-Beobachter) ins Zentrum rückt und theoretizistische Fehlleitungen positivistischer, d. h. auf ceteris paribus Verallgemeinerbarkeit zielender Theoriebildung genauso geißelt wie enthobene ideale Theorieverständnisse in der Politischen Theorie.

Mit Referenzautoren wie Aristoteles, Hume, Kant oder Wittgenstein ein anti-theoretizistisches Argument zu entwickeln, mag auf den ersten Blick allerdings nicht allzu „praktisch“ erscheinen. Allein der Denkhorizont, der hier aufgespannt wird, setzt eine Bereitschaft zur Reflexion abstrakter, d. h. theoretisch anspruchsvoller Argumentationszusammenhänge voraus, die ihrerseits die Kernfrage nach Sinnhaftigkeit und konkretem Gehalt der aristotelischen Unterscheidung zwischen „Theorie“ und „Praxis“ aufwerfen. Im Kontrast zu detaillierten begriffsgeschichtlichen Untersuchungen des Praxisbegriffs bleibt der Theoriebegriff aber merkwürdig unterbelichtet und weitgehend negativ bestimmt. Man liegt aber nicht falsch, wenn man Kratochwils kurzen Hinweis auf die griechische Wurzel „theoria“ (S. 402) im Sinne von Gadamers „Lob der Theorie“ als das „Sehen dessen was ist“ stärker ausleuchtet. Die unterschiedlichsten „theoretischen“ Instrumente, die Kratochwil im Laufe seiner Untersuchung neben klug gewählten illustrativen Beispielen, Fallstudien und Analogien zur originellen Neubeschreibung und Erklärung großer wie auch kleiner Zusammenhänge in Anschlag bringt, machen es jedenfalls auch dem kritischsten Leser nicht einfach, einer derart praktizierten „praktischen Vernunft“ die vermeintlichen Vorteile gängiger „Theorie“ entgegenzuhalten.